„Familienalbum“
In unserer Kindheit gibt es Momente, die uns nachhaltig prägen. Erstaunlicherweise sind es selten die großen Augenblicke, Feiern oder Jubiläen. Es sind die emotionalen Verletzungen, die wir noch nicht kennen und die uns zeigen, was es bedeutet in dieser Welt zu (über)leben. Die junge Unschuld wird durch die Härte und Ungerechtigkeit des Lebens hinweggefegt. Jetzt beginnt sich die erwachsene Persönlichkeit zu entwickeln, zum Guten oder zum Schlechten. Das teils autobiografische Coming-Of-Age-Drama ZEITEN DES UMBRUCHS von James Gray bringt uns diese Härte auf ehrliche Weise in einem sehr einfühlsamen Film wieder in Erinnerung. Nostalgisch, aber auch aufrichtig blickt er in USA zu Beginn der 1980er Jahre. Was damals die Menschen umtrieb, treibt uns selbst heute noch durchs Leben und das ist schon die erste Lehre: Ungerechtigkeit ist schwer zu bekämpfen, aber man darf nicht aufgeben es zu versuchen.
Handlung
Paul (Banks Repeta) ist ein aufgeweckter, clever Junge, der aber ungern Regeln befolgt. Mutter Esther (Anne Hathaway) nimmt ihn so gut es geht in Schutz, hat aber mit ihr politischen Gemeinde-Karriere und der Rolle als Hausfrau genug zu tun. Vater Irving (Jeremy Strong) ist Handwerker, repariert alles aus der Nachbarschaft und Umgebung. Seinen pubertierenden Sohn zu verstehen, fällt ihm schwer, Erziehung ist für ihn ein physischer Vorgang. In dieser Zwischenwelt aus liebender Mutter und strengem Vater – vom nervenden Bruder Ted (Ryan Sell) abgesehen – kommt er gut zurecht und entwickelt eine Leidenschaft für das Kreative. Bei ihm ist das vor allem erst einmal die visuelle Kunst wie Malen und Zeichnen, aber auch in der Klasse sieht er seine Talente als Entertainer zusammen mit seinem Kumpel Johnny (Jaylin Webb). Die erste Revolution gegen das ungerechte Establishment beider Jungs ist der Klassenlehrer Turkeltaub (Andrew Polk). Seine unfaire Behandlung und Bestrafung der Schüler zeigen den Freunden, was es bedeutet unterschiedliche Hautfarben zu haben.
Familie, Schule, Freundschaft
Dieser freche Paul entstammt keinem Disney-Drehbuch. Die roten Haare deuten die Energie des Burschen an, aber auch sein Verhalten zeigt, dass Daheim eine gewisse Unwissenheit über die Gedanken des Jungen herrscht. 1980 konnte man sich als Eltern nicht auf die Phase der Pubertät vorbereiten und auf die Achterbahn der Hormone Rücksicht nehmen. Alles passiert mit einem Knall. Der Einzige in Pauls Familie, der noch zu ihm durchdringt, ist sein Großvater Aaron (Anthony Hopkins). Grandpa erzählt von seinen Eltern, wie sie aus der Ukraine fliehen mussten. Pauls Familie ist eine von vielen jüdischen Familien, die in den USA, speziell hier in New York, die Freiheit sucht, die sie in ihrer Heimat nicht hatte. Die Craffs kommen gut zurecht, könne sich sogar eine Privatschule für den Ältesten leisten. Als Paul und Johnny mit einem Joint auf dem Jungsklo erwischt werden, muss auch Paul auf die elitäre und vor allem weiße Privatschule. Jetzt merken beide, in welcher Welt sie leben und welche Regeln es gibt. Diese haben wenig damit zu tun, was die Eltern einem täglich predigen.
Paul wächst einem nach anfänglicher Distanz doch ans Herz. Seine Freundschaft und sein Feingefühl sind ehrlich. Den Unsinn, den sie verzapfen, hat seinen Ursprung im überforderten, unfairen Lehrer und den großen Träumen wie eine Karriere als erfolgreicher Maler oder Astronaut. Doch die Familie Graff sieht in ihrem Sohn keine erfolgreiche Karriere eines Malers und Johnnys Karriere bei der Raumfahrt ist so weit entfernt, wie der Geisteszustand seiner Großmutter, bei der er lebt. Regisseur und Drehbuchautor James Gray bringt die Welt der Schule und der Familie, die in diesem Alter alles definieren mit trüben Herbstfarben, aber wärmendem Licht treffsicher auf die Leinwand. Schauspielerisch hat er es leicht, die jungen Talente sind professionell und detailreich in ihrer Figurengestaltung. Die erwachsenen Darsteller durchweg hervorragend, angeführt von Mr. Hopkins. Eine kleine Nebenrolle ist so hochkarätig besetzt, dass man mehr als nur den Namen nennen muss.
Die Brücke
Der Rassismus, die oberflächliche Politik (Ronald Regan ist bald Staatsoberhaupt), die soziale Ungerechtigkeit und das verkorkste Schulsystem ist 40 Jahre später immer noch präsent. Es deprimiert, wie wenig sich entwickelt hat. Für alle, die diese Verbindung zur Gegenwart nicht sehen, gibt es eine auffällige Nebenrolle. In Pauls elitären Schule hält eine selbstsichere und politische Frau die Willkommensrede: Maryanne Trump gespielt von Jessica Chastain. Geschickt von der Seite gefilmt, so dass ihre Frisur und der große golden Ohrschmuck den großen Teil ihres Profils einnimmt, bringt Chastain ein paar Zwischenstufen für unsere Zeitreise. Die angehende Richterin ist die ältere Schwester von dem Donald Trump, der seine schmierigen Finger in das Land der Gegensätze in den letzten Jahren hineindrückte. Sie verkörpert auch wie schwer es ist, als Frau Karriere zu machen, was ebenfalls unsere heutige Gesellschaft in den 2020er-Jahren noch umtreibt.
Eine weitere Verbindung der Zeiten und der Generationen findet statt, wenn Paul mit seinem Großvater eine Modelrakete im Park steigen lassen – eine schöne Referenz auf Grays vorherigen Film AD ASTRA (2019). Auch wenn der Großvater immer darauf hinweist, nicht seine Vergangenheit zu vergessen, ist es umso wichtiger die Schwächeren zu verteidigen. ZEITEN DES UMBRUCHS entwickelt sich in eine so schwierige Situation, dass man selbst als Erwachsener noch merkt, wie schwer es ist, sich an solch einen Vorsatz zu halten. Wie mag es für ein Kind sein?
Inszenierung
Die Geschichte aus großen Träumen, die mit extremen Einschränkungen zu kämpfen haben, ist unauffällig, aber passgenau inszeniert. Gray erlaubt sich trotz seiner klassischen Montage und Einstellungen ein paar Spielereien: Der Tagtraum von Paul, das eingeschnittene Archivmaterial, die nächtliche Verarbeitung des Erlebten und die Präsenz von Musik. Mit unverbrauchten Songs verortet er die Popkultur – mit einem Bein noch in der 70ern und mit dem anderen in den 80ern oder wie es in ZEITEN DES UMBRUCHS heißt: „Halb Beatles – Halb Disco“. News York ist meist dank digitaler Effekte in die 80er gebeamt, aber vor allem die U-Bahn, die in dieser Zeit eher einer öffentlichen Toilette ähnelte als dem Nahverkehr, ist lebensecht nachgebaut. Das Szenenbild ist historisch korrekt, aber nie so aufgedreht nach dem Motto, wie toll die 80er-Jahre waren. Sie waren dann doch eher einfach, minimalistisch und düster, was vor allem in den Familienabendessen deutlich wird. Das Sounddesign ist immer ein wichtiger Bestandteil in einem James-Gray-Film. Auch hier bringt es die emotionale Achterbahn der Jungen mit einer Art Tinnitus in die Akustik, aber auch Nebengeräusche dienen stets dem Verstärken der Dialogdramatik.
Fazit
Eine leichte, lockere Jugenderinnerung ist ZEITEN DES UMBRUCHS nicht. Der Originaltitel ist viel treffender: ARMAGEDDON TIME. Es ist ein vielschichtiges Familienportrait, was auf Augenhöhe mit dem Publikum seine Geschichte erzählt. Die großen gesellschaftspolitischen Themen von damals verletzen auch noch heute junge Persönlichkeiten, bleibt immer noch die Fragen, ob sie gestärkt oder vernarbt daraus hervorgehen. Unbedingt ansehen!
Chefredakteur
Kann bei ZURÜCK IN DIE ZUKUNFT mitsprechen / Liebt das Kino, aber nicht die Gäste / Hat seinen moralischen Kompass von Jean-Luc Picard erhalten / Soundtracks auf Vinyl-Sammler / Stellt sich gern die Regale mit Filmen voll und rahmt nur noch seine Filmposter