„Der Kampf in den selbst errichteten Wänden“
„Wenn ich manchmal in der Nacht wach liege und zurückdenke, sehe ich mich selbst wie in einem Schwarzweißfilm. Warum es schwarzweiß ist, weiß ich nicht, aber es ist immer in Schwarzweiß. Auch kein guter Film nebenbei, sprunghaft, ohne Atem, ein paar schlecht ausgeleuchtete Szenen, manche davon haben keinen Anfang und manche kein Ende“.
Dies schrieb der Boxer Jake La Motta in seiner im Jahr 1970 erschienenen Autobiografie. Jene Zeilen müssen es wohl gewesen sein, die Martin Scorsese besonders in Erinnerung geblieben sind, als Robert de Niro ihn überredete den Film WIE EIN WILDER STIER (RAGING BULL) zu drehen. Scorsese war in jener Zeit in einer Sinneskrise, nachdem NEW YORK, NEW YORK nicht so erfolgreich war wie erhofft. De Niro schaffte es, trotz der hohen Erwartungen in jener Zeit, die ROCKY (1976) und ROCKY II (1979) an einen Boxerfilm stellten, das Leben von Jake La Motta, dem „Tier im Ring“ im Jahr 1980 mit sich selbst in der Hauptrolle und Scorsese auf dem Regiestuhl zu verfilmen. Dieses Stück Filmgeschichte in Schwarzweiß zu drehen, war nicht nur ein Statement gegenüber der bunten amerikanischen Traum-Story Rockys, sondern auch eine stilistische Meisterleistung, die heute, fast 40 Jahre später einem immer noch die Sprache verschlägt. Ein wilder Stier von einem Boxerfilm, ständig in Bewegung, sprunghaft, triebgesteuert und so schön wie die Wildnis.
Inhalt „Wie ein wilder Stier“
Jake La Motta (Robert de Niro) ist ein Boxer, der es in der New Yorker Bronx von unten nach ganz oben schaffen will. Sein Bruder Joey (Joe Pesci) ist sein Manager, was auch schon die einzige Hilfe ist, die er annimmt. Aber in den 1940er Jahren ist das Boxgeschäft von New York fest in den Händen der Mafia, von denen er nicht aus moralischen Gründen Hilfe annimmt, sondern weil er es allein schaffen will. Ein weiteres Problem für eine glänzende Karriere ist sein schlechter Boxstil. La Motta lässt sich meist durch die Runden prügeln, um kurz vor Ende auf seine Chance zu warten und dann seinen Gegner mit einer raschen Folge von gezielten Schlägen auf die Bretter zu schicken. Aber das größte Hindernis für seine erfolgreiche Karriere ist er selbst. WIE EIN WILDER STIER sind Momentaufnahmen eines Aufstiegs und vor allem des tiefen Falls eines Tiers in Männergestalt.
Schwarzweiß mit Scorsese
Das Intro von RAGING BULL erzählt viel mehr über das Kommende als man denkt. Robert de Niro als Jake La Motta scheint durch den Boxring zu schweben. Es sind die wartenden Bewegungen eines Boxers kurz vor seinem Kampf. Es hat etwas Animalisches, wie La Motta an den Seiten seines Kampfplatzes umher schreitet und in Bewegung bleibt. Durch die Zeitlupenaufnahme im strengen Kameraausschnitt und den Boxseilen als horizontale Linien, die wie Notenzeilen wirken, bekommt die Szenerie etwas Anmutiges und Erhabenes. Dann erscheint der Titel in roter Schrift perfekt zwischen den Boxseilen und für einen kurzen Moment ist klar: WIE EIN WILDER STIER wird, neben der Lebensgeschichte La Mottas, auch eine ästhetische Reise.
Danach, im Boxkampf, sind jedoch keine sportlichen Raffinessen bei diesem Boxer zu erkennen, er ist bereit sich zu prügeln oder verprügelt zu werden, bis auf den letzten Schweiß- und Blutstropfen. Martin Scorsese wollte diesen Film in Schwarzweiß drehen und kramte alte Kameras und Aufnahmematerial zusammen, die finanziell viel zu teuer gegenüber der aktuellen Technik Ende der 70er waren. Diese Optik ist nicht nur der Einfluss des oben erwähnten Biografieauszugs von Jake La Motta, sondern bringt uns Zuschauer auch leichter in die Zeit der Handlung. Die 1940er in New York, der Weltkrieg tobt auf der anderen Seite des Globus, aber in New York ist davon kaum etwas zu spüren. La Motta will kämpfen und zwar um den Titel. Die beeindruckenden Aufnahmen während der Boxkämpfe sind kurz gehalten, verwehren sich jeder dramaturgischen Erzählung, wie es andere Boxfilme tun. Blutige Kämpfe, Schläge wie Gewehrschüsse und ein Fight um das Überleben machen nur einen geringen Teil des Films aus.
Männer, die jemand anderes sein wollen
Martin Scorsese hatte immer schon das Bedürfnis solche Geschichten zu erzählen. Robert de Niro war für die ersten erfolgreichen Jahre Scorseses wie geschaffen für diese Rollen. Er konnte ein widerwärtiges Arschloch genauso gut spielen, wie auch einen Mann, der seine Träume verwirklichen will. WIE EIN WILDER STIER hat etwas Dokumentarisches an sich. Die Boxkämpfe wechseln sich mit Alltagssituationen La Mottas, wie er sich permanent mit jedem – vor allem mit seiner Frau – über banale Dinge streitet und auf jeden eifersüchtig ist, ab. Er ist gefangen in seiner geringen Potenz – zwei Wochen vor einem Kampf gibt es ein Sexverbot, um nicht seinen Biss beim Kampf zu verlieren – und dem Gedanken Vicky (Cathy Moriarty) könnte fremdgehen. De Niro erfüllt diese Rolle beängstigend gut. Er verprügelt seine Frau, seinen Bruder und lässt sich wie Jesus in seinem letzten Kampf bis auf die Knochen von seinem größten Widersacher Sugar Ray Robinson verdreschen, nur um ihm am Ende zu sagen, dass er nicht zu Boden gegangen ist. La Motta versuchte sich nach seiner Boxkarriere im Entertainment und konnte endlich maßlos drauflosfressen, keine Vorgaben der Gewichtsklasse mehr, außer für de Niro, der sich in der dreimonatigen Drehpause in einen voluminösen Koloss verwandelte. Der Oscar für die besten Hauptrolle 1981 war die Belohnung für dieses Ekel von einer Hauptrolle.
Das Mediabook von FilmConfect
Dieser Film passt wie ein leckeres aber herbes Stück Bitterschokolade in die Filmauswahl von FilmConfect. WIE EIN WILDER STIER sättigt das Verlangen, noch einen weiteren Film zu sehen und man muss dieses Meisterwerk, welches eine ganz andere Sicht auf die übliche Boxgeschichte wirft, einfach in seiner Filmsammlung haben. Das Mediabook erscheint in der Essential-Reihe von FilmConfect im schlichten und sehr schönen Design. Die Blu-ray bringt ein gutes Bild und verfügt über eine ordentliche Tonabmischung. Außerdem gibt es fast zwei Stunden Videomaterial mit Extras über die Produktion des Film. Das Mediabook verfügt über ein gefaltetes Filmposter und ein Booklet mit einem Filmtext von Dr. Susanne Kappesser. Mir fällt der Text über Scorsese zu ausschweifend aus, konkreter auf den Film einzugehen, hätte ich interessanter gefunden. Wer Lust hat, noch tiefer in RAGING BULL bzw. in die Filme von Scorsese einzutauchen, dem empfehle ich das Buch MARTIN SCORSESE von Georg Seeßlen aus dem Bertz Verlag, welches man günstig gebraucht kaufen kann. Seeßlen analysiert diesen vielschichtigen Film in Bezug auf Katholizismus, Mafiakult und amerikanischen Traum. Dass der Film nur so gespickt mit engen Räumen, Zäunen, schmalen Gängen und hohen Mauern ist, ist mir dann doch erst nach den Lesen seines Aufsatzes aufgefallen. Somit wird Jake La Motta als Tier immer einpfercht gezeigt, nie bereit auszubrechen, aber immer am Abschreiten seines Käfigs, wie wir es bereits zu Filmbeginn gesehen haben.
Fazit
Muss man einfach haben!
Chefredakteur
Kann bei ZURÜCK IN DIE ZUKUNFT mitsprechen / Liebt das Kino, aber nicht die Gäste / Hat seinen moralischen Kompass von Jean-Luc Picard erhalten / Soundtracks auf Vinyl-Sammler / Stellt sich gern die Regale mit Filmen voll und rahmt nur noch seine Filmposter