„Poesiealbum der Furcht“
Zerrissene Seelen
Die Eheleute Laura und John Baxter (Julie Christie, Donald Sutherland) verbringen einige Wochen in Venedig. John, der als Restaurateur tätig ist, leitet die Instandsetzung der San Nicolò dei Mendicoli, die zwischen dem 13. und 15. Jahrhundert erbaut und erweitert wurde. Die Arbeit an der Materie nimmt Johns ganze Aufmerksamkeit in Anspruch, weswegen das Paar ihren Sohn auch weiterhin im englischen Internat wohnen lässt. Im Laufe der Zeit nimmt die Lagunenstadt Venedig geradezu magisch die Sinne von Laura und John ein – jedoch nicht in einem touristisch-romantischen Sinne. Nicolas Roegs Venedig in WENN DIE GONDELN TRAUER TRAGEN (DON’T LOOK NOW) bietet ein faszinierendes, dabei überaus kaltes und tristes Bild der beliebten mediterranen Stadt. In den Herzen von Laura und John steckt noch immer der tiefe Stachel des Verlusts ihrer Tochter Christine, die wenige Wochen zuvor in der Heimat England ertrunken ist. Christines Tod zieht sich als Leitthema durch die Handlung des Films, sie beeinflusst die Motivation der Protagonisten, das (virtuose) Spiel der Darsteller sowie die gesamte Bildgestaltung.
Besonders eindrücklich sind die wechselseitigen Darbietungen von Julie Christie und Donald Sutherland: deren subtile Gebrochenheit bis hin zum totalen Kollaps. Die beiden renommierten Akteure fahren in Roegs Film die ganze Bandbreite ihres schauspielerischen Könnens auf, versinken völlig in der Bedeutung ihrer Figuren. Besonders die Sexszene der beiden im venezianischen Hotelzimmer wurde viel diskutiert: raffiniert montiert („cross-cutting“) mit zeitlich nach dem Akt vonstatten gehenden Alltagsszenen, nachträglich mehrfach umgeschnitten, um überhaupt eine Jugendfreigabe zu erhalten und als solches nicht im Skript, sondern improvisiert – analog zu Brando und Schneider in Bertoluccis DER LETZTE TANGO IN PARIS (1972) –, wurde der Sex zwischen Christie und Sutherland als echt eingeschätzt. Als ich Roegs Film erstmals mit jüngeren Jahren sah, war ich von dessen Gesamteindruck wirkungsvoll verstört und natürlich leistete die recht technisch wirkende „Liebesszene“ inmitten der auch sonst sehr kühlen Stimmung ihren ganz eigenen Beitrag. Mir war damals bereits klar, dass ich hier einem intensiven Drama um Schuld und Sühne beiwohnte. Einem Mosaik der Gewalt. Einem Puzzlespiel über zerrissene Seelen, dessen allmähliche Zusammensetzung zugleich den Zerfall der Charaktere abbildet.
Nicolas Roeg – Meister der Bilder
Dem im November 2018 verstorbenen Kinokünstler Nicolas Roeg kann man bis heute gar nicht genug Lob und Achtung aussprechen. Geradezu kultgleich verehrt mit seinen ersten Spielfilmen als Regisseur – mit diesem Film hier vor allem noch DER MANN, DER VOM HIMMEL FIEL (THE MAN WHO FELL TO EARTH, 1976) mit David Bowie – schenkte man seiner Spätphase ab Mitte der 1980er-Jahre leider immer weniger Aufmerksamkeit. Ein Fehler. Die bereits in seinen frühen Filmen als Kameramann aufkeimende Poesie der virtuosen Bildgestaltung zieht sich bis in seine letzten Filme hindurch. Erst als Regisseur seiner eigenen Werke brachte Roeg seine Kenntnis über filmisches Erzählen zur Vollendung. Der Macher ist ein Paradebeispiel dafür (erneut auch ihm Rahmen meines Lieblingsjahrzehnts der Kinogeschichte), wie intensive fünfzehn Jahre rück- und nachwirkend eine ganze Karriere als meisterhaft definierten. Als Autorenfilmer mit unverwechselbarer Bildsprache keimte sein enormes Talent etwa als lichtsetzender Kameramann in LAWRENCE VON ARABIEN (1960) sowie als Kameraregisseur (Director of photography) für Regie-Größen wie Robert Rossen, Fred Zinnemann, Roger Corman und John Schlesinger auf. Roegs spezifische Bildsprache war vor allem von Symbolik (vgl. Stiglegger) und Entfremdung geprägt, seine Geschichten wurden häufig in semi-kohärenter und nichtchronologischer Weise abgebildet – gleich einem Puzzlespiel – deren gesamte Bedeutung erst zum Schluss hin verstanden werden kann, wenn die letzten Stücke Information ersichtlich werden. Gerade hinsichtlich der Funktionsweise des Mediums Film an sich – der Aneinanderreihung einzelner Bilder bzw. deren Zusammensetzung im Kopf des Betrachters – bleibt Roeg nicht nur stark der Fotografie, sondern besonders dem Kino und dessen ganz eigenem erzählerischen Charakter verbunden.
Neue 4K-Restauration
WENN DIE GONDELN TRAUER TRAGEN erschien seit Einführung der digitalen Bilddatenträger regelmäßig in neuen Auflagen. Das vom BFI im Jahr 1999 auf Platz 8 der besten britischen Filme aller Zeiten gewählte Meisterwerk erfreut sich ununterbrochener Beliebtheit bei Cineasten. Nun hat Studiocanal eine vollständige Neuabtastung vom Original-Negativ produziert, die den Film in der tatsächlich bestmöglichen Qualität für Zuhause erstrahlen lässt. „Erstrahlen“ ist vielleicht nicht gänzlich das richtige Wort, wird doch der einzige Lichtstrahl nur ganz zu Beginn der Erzählung in der Kameralinse reflektiert („lens-flare“), als Christine noch munter und fröhlich über die taufrischen Wiesen Englands tänzelt. Ihr knallroter Regenmantel, der zum Symbol des ganzen Films – sowie weiterer Filme anderer Filmemacher – avanciert, ragt als einziger deutlicher Farbtupfer aus der sonst bewusst entsättigten Palette der Bildgestaltung heraus. Daher sollte man das Ergebnis dieser Restauration auch nicht als Maßstab des gesamten Farbspektrums verstanden wissen. Vielmehr wurde WENN DIE GONDELN TRAUER TRAGEN entsprechend seiner ursprünglichen Intention ohne auffällige künstliche Manipulation der Bilder, etwa durch extensive digitale Bildbearbeitung, optimiert. Ein feines Filmkorn durchzieht den gesamten Film, Abweichungen von leicht verschwommenen Frames (aus entfernteren Einstellungen bzw. durch den drehbedingten Kamerazoom) und nunmehr messerscharfen Nahaufnahmen bestimmen das Seherlebnis. Besonders in den vielen dunklen Szenen fällt die (intendierte) Detailarmut auf, die vom analogen Ausgangsmaterial herrührt, leichtes Schneegestöber inbegriffen – wir Zuschauer tappen nach wie vor mit den Protagonisten im Dunkeln, auf deren Reise in die seelische Finsternis. Zusammenfassend wirkt WENN DIE GONDELN TRAUER TRAGEN nun so gut, wie sonst vielleicht nur damals im Kino von 35mm-Film erlebbar.
Extras der neuen Edition(en)
Zu den Extras der neuen Collector’s Edition zählt zunächst einmal der wunderbare Soundtrack von Pino Donaggio auf CD, obendrein das Filmmusik-Debüt des Komponisten. Studiocanal orientierte sich etwa an ihren zuletzt erschienenen Sammlereditionen zu einigen John Carpenter-Werken und legt den Score auch hier auf einer Extra-Disc mit bei. Auf 2 Blu-rays gibt es neben dem Hauptfilm noch folgende Features zu bewundern:
- Featurette „Pass the Warning – Nicolas Roegs Meisterwerk“
- Featurette „Ein Kaleidoskop an Farben – Die Bedeutung der Farbgebung im Film“
- „Die 4K Restaurierung“
- Audiokommentar von Nicolas Roeg
- Zusätzlich in den Soundtrack und SteelBook Editions: „Don’t Look Now – Ein Blick zurück“ sowie Interviews mit Pino Donnagio, Donald Sutherland, Allan Scott, Anthony Richmond und Danny Boyle
- Bildergalerie
- Exklusiv in der Soundtrack Edition: Original Soundtrack, Booklet, Poster, Artcards
Fazit
Während bei der britischen Edition (4 Discs) alles, also Soundtrack-CD plus UHD Blu-ray von DON’T LOOK NOW enthalten sind, fährt man hierzulande – wie schon bei den Carpenter-Releases – erneut die Strategie der Verteilung. Wer also Zuhause in 4K schauen möchte, muss zum eigens gestalteten Steelbook (3 Discs, ca. 30 Euro) greifen, das jedoch keine Soundtrack-CD enthält. Wer in den heimischen Hörgenuss kommen möchte, muss innerhalb einer Edition (3 Discs, ca. 18 Euro) auf die UHD-Scheibe verzichten. Abseits dieser eigenartigen Differenz innerhalb der europäischen Vertriebspolitik für den Heimkinomarkt liegen hier die nun definitiven Veröffentlichungen von Nicolas Roegs vielleicht wichtigstem Film vor. Ein Muss für jeden halbwegs ernsthaften Filmliebhaber und Sammler.
Weiterführendes
Für alle weiterführend Interessierten möchte ich das Buch Nicolas Roeg (Film-Konzepte 3) empfehlen, das im Jahr 2006 von Marcus Stiglegger und Carsten Bergemann herausgegeben wurde. Auf kompakten 112 Seiten bietet es die wichtigsten Einblicke und Analysen in das Schaffen Roegs, die in deutscher Sprache versammelt erhältlich sind.
Gewinnspiel (vorbei)
Wir verlosen mit freundlicher Unterstützung von ARTHAUS/Studiocanal 1x die limitierte Blu-ray-Soundtrack-Edition.
Was müsst ihr tun, um am Gewinnspiel teilzunehmen?
Verratet uns, welchen Film ihr von Nicholas Roeg ebenfalls – neben diesem – sehr schätzt.
Schreibt es einfach in die Kommentare unter den Artikel.
Der Gewinner wird per Zufall gezogen und das Gewinnspiel endet am 29.08.19 um 23:59. Mit eurer Teilnahme akzeptiert ihr die Teilnahmebedingungen.
Liebt Filme und die Bücher dazu / Liest, erzählt und schreibt gern / Schaltet oft sein Handy aus, nicht nur im Kino / Träumt vom neuen Wohnzimmer / Und davon, mal am Meer zu wohnen
Das wäre bei mir „Der Mann, der vom Himmel fiel“
Ganz klar „Hexen Hexen“ welche mich in meiner Kindheit etliche Alpträume beschert hatte…
Vielen Dank für die Gewinnchance 😉
Neben diesem, schätze ich noch sehr den Film „Der Mann, der vom Himmel fiel“. Ich denke da muss man auch nicht viel zu sagen, es ist einfach ein grandioser Film, mit einem grandiosen David Bowie. Allerdings muss ich auch noch den Film „Hexen Hexen“ erwähnen. Ein Film aus meiner Kindheit, den ich auch heute noch sehr gerne anschaue. Was hab ich mich bei dem als kind gegruselt 😂😂
Mir hat die Bibel Samson und Delila noch gut gefallen! VG
Castaway – Die Insel
Hexen hexen fand ich super.
„Hexen Hexen“! Aber ich sehe, ich habe noch ein paar Filme nachzuholen…
The Man Who Fell To Earth ist auch ein großartiger Klassiker 🙂
Herzlichen Glückwunsch, der Zufallsgenerator hat deinen Namen gezogen. Bitte schau einmal in deinem Email-Postfach nach, ob Du eine Nachricht von uns erhalten hast.
Super, vielen Dank! Ich habe geantwortet 😀
Eureka Hat mich filmisch beeindruckt
Der Mann, der vom Himmel viel
hexen hexen 😍 als Kind hat mich dieser absolut gegruselt 😅
Ganz klar Hexen Hexen… hat meine Kindheit zerstört😂😂😂
Kalter Himmel
Von Nicholas Roeg schätze ich außerdem den Film „Kalter Himmel“.