„Wir müssen tun, was sich gehört“
Wir leben in einer Zeit, in der man immer irgendetwas falsch macht. Dieses Gemüse ist voller Giftstoffe durch Schädlingsbekämpfung, diese Kleidung wurde mit hautschädlichen Chemikalien gefärbt, das Auto sollte man nur noch in Notfällen benutzen und Mikroplastik ist sowieso überall. Durch die Digitalisierung gibt es ein Füllhorn an Informationen und Meinungen, die vor Gefahren aufklären sollen, aber die meisten Menschen eher ängstigen als positiv zu leiten.
Diese Gedanken gingen mir während des Abspanns von WENN DER WIND WEHT mit dem gleichnamigen David-Bowie-Song durch den Kopf. Die beiden Protagonisten Hilda und James Bloggs sind da ganz andere Menschen in einer vergangenen Zeit. Mit kindlicher Naivität glauben die beiden Rentner einer Broschüre der britischen Regierung im Falle eines Atombombenangriffs. Ohne Misstrauen oder Hinterfragen, folgen sie Hinweisen des offiziellen Flyers. Darin steht zum Beispiel, dass man seine Fenster weiß streichen soll, was gegen die Hitze einer Atombombe hilft. Zu Beginn belächelt man das Ehepaar Bloggs, wie sie sich in die Vorbereitung hineinsteigern und in ihrer alltäglichen Routine glauben, dass Kissen gegen Radioaktivität helfen werden, aber dann wird man eines Besseren belehrt.
Handlung
James Bloggs kommt aus der Bibliothek zurück nach Hause. Freudig wedelt er mit den amtlichen Vorschriften zum Bau eines Selbstschutzraums. Die Bloggs leben Anfang der 1980-Jahre und die Weltmächte rüsten ihr atomares Waffenarsenal weiter auf, denn der „Ruski“ ist der neue Feind des britischen Empires. Ehefrau Hilda ist so gar nicht angetan, dass James die Türen aushängt, um im Wohnzimmer einen kleinen Verschlag zu bauen. Sie lässt ihn aber gewähren und ist im weiteren Verlauf durch das spannende Projekt selbst ganz emsig dabei Trinkwasser in Flaschen abzufüllen. Als Zuschauer ist man sich wegen der vielen korrekten historischen Ereignisse, von denen die Bloggs reden, sicher, dass der Ernstfall nicht eintreten wird. Doch dann kommt die Ansage im Radio: „Menschen sollen ihre Schutzräume aufsuchen, denn in drei Minuten schlagen Raketen ein.“ Das Paar „rettet“ sich unter die schräg angenagelten Türen – der Selbstschutzraum – im Wohnzimmer. Die gleißend helle Detonation zerstört die Landschaft ringsherum und verwüstet das Haus. Beide überleben die Explosion, aber wir wissen, die gefährliche Wirkung einer Atombombe breitet sich erst nach der Detonation aus.
Ungewöhnlich vom Anfang bis zum Ende
Wer bereits BARFUSS DURCH HIROSHIMA (1983) oder DIE LETZTEN GLÜHWÜRMCHEN (1988) gesehen hat, bekommt ein gewisses Gefühl, in welche Richtung WENN DER WIND WEHT sich entwickelt. Vom Gewand eines Animationsfilms oder der Freigabe ab 6 Jahren darf man sich nicht täuschen lassen. Kindern kann man diesen Film nicht zumuten. Die Animation ist ungewöhnlich, weil sie eine Mischung aus Stop-Motion-Technik, handgezeichneten Figuren und Kameraaufnahmen ist. Im Kern ist es aber ein Zeichentrickfilm, weil unsere Hauptfiguren James und Hilda gezeichnet sind. Sie werden jedoch in ein echtes Haus mit kleinem Maßstab, quasi ein Puppenhaus, hineinprojiziert. Das wirkt am Anfang noch sehr ungewöhnlich, wenn zum Beispiel über James echte Wolken ziehen oder er seine Jacke im Flur aufhängt und diese sich direkt in echten Stoff verwandelt. Das vergisst man aber sehr schnell bei diesen herzlichen und fein abgestimmten Eheleuten.
Hintergrund
Der Animationsfilm basiert auf dem gleichnamigen Comic von 1980 aus der Feder von Raymond Briggs, der bereits in der Geschichte GENTLEMAN JIM das Ehepaar Bloggs zu den Hauptfiguren machte. Briggs Eltern sollen als Vorlage für das regierungstreue und optimistische Ehepaar gedient haben. In den 1980er-Jahren waren Comics mit ernsten Themen, die sich an eine erwachsene Leserschaft richten, noch sehr ungewöhnlich. Aber mit dem Comicbuch WENN DER WIND WEHT traf Briggs damals genau den Zahn der Zeit und die Angst der englischen Bevölkerung vor einem Atomkrieg. Zu dieser Zeit gab es tatsächlich solch schwachsinnige Broschüren, um die Bevölkerung für radioaktive Strahlung zu sensibilisieren. Es dauert jedoch bis zum Jahr 1986 bis das Filmprojekt WENN DER WIND WEHT realisiert werden konnte. Regie übernahm der in den USA geborene Jimmy T. Murakami (HEAVY METAL, SADOR) und die äußerst schwierige Produktion stemmte John Coats, dem es gelang 2,25 Millionen Pfund Budget auf die Beine zu stellen.
Die Bloggs
Man merkt in der Art der Dialoge und dem Verhalten des routiniert eingespielten Ehepaars, dass der Autor seine Geschichte realitätsnah angesiedelt hat. Die Bloggs sind einfache, für die damalige Zeit etwas bildungsschwache Leute, die den Zweiten Weltkrieg miterlebt haben. Bei ihren Gesprächen und Äußerungen merkt man, wie sie schon damals der Presse treu geglaubt haben und die damaligen Akteure wie Churchill, Stalin oder Hitler „noch richtige Persönlichkeiten“ waren. Was diese geschichtsträchtigen Personen wirklich getan haben, scheinen die Bloggs nach vielen Jahren Krieg völlig verdrängt oder gar nicht erst gelesen zu haben. Stalin wird zum Beispiel von Hilda nur wegen seines Schnurrbarts gelobt.
Wer im Geschichtsunterricht nicht geschlafen hat, wird sich bei manchen Äußerungen der Bloggs immer wieder an den Kopf fassen, aber dennoch sind beide sympathisch dargestellt. Vor allem, wie sie miteinander umgehen ist einfach schön anzusehen. James, der seine Neuigkeiten aus den Tageszeitungen erzählt und Hildas Liebe für Gardinen und Kissen. Hilda sitzt kaum auf ihrem Hintern und schmeißt den Haushalt. Aber es ist rührend anzusehen wie sie – in Beschränkung ihrer intellektuellen Fähigkeiten – aufeinander aufpassen. Die Wärme, die beide ausstrahlen, ist extrem wichtig, um uns am Filmende rücksichtslos das Herz zu brechen.
Die Filmmusik
Der psychodelische Soundtrack stammt von Roger Waters, Mitgründer der Band Pink Floyd und wurden von The Bleeding Heart Band eingespielt. Der gleichnamige Titelsong stammt von David Bowie, der als Fan des Comicbuchs schnell für das Filmprojekt zu begeistern war. Bekannte Musiker aus den Achtzigern wie Genesis, High Cornwell oder Squeeze wollten ebenfalls Songs zu diesem politischen Werk beitragen, jedoch sind sie nur auf dem Soundtrack-Album zu hören.
Das Mediabook
WENN DER WIND WEHT ist immer noch ein Geheimtipp und dank Turbine im angemessenen Mediabook auf Blu-ray erhältlich. Vom Filmmaterial sollte man nicht zu viel erwarten, bei einem 4:3 Format und dem 80er-Jahre-Animation-Keying. Im Original werden James und Hilda von den britischen Theater-Instanzen John Mills und Peggy Ashcroft gesprochen. Bei der deutschen Synchronisation wurde ebenfalls viel wert auf gute Sprecher gelegt, die mit Brigitte Mira und Peter Schiff gefunden wurden. Die deutsche Synchronversion kann mit dem Original mithalten. Beim zweistündigen Bonusmaterial hat sich Turbine nicht zimperlich gezeigt. Die beiden Dokumentationen zu Murakami und zum Filmdreh sind auf jeden Fall einen Blick wert. Auch das Booklet von Tobias Hohman ordnet die Produktion und Rezeption informativ ein und klärt für mich auch die Frage, warum es 1986 immer noch Angst vor radioaktiver Strahlung gab. Korrekt, die Reaktorkatastrophe in Tschernobyl. Ein schönes Cover rundet das filmgeschichtliche Luxuspaket ab.
Fazit
Dieser gesellschaftliche Zeitzeuge von einem Animationsfilm ist immer noch aktuell, auch wenn sein Alter deutlich zu erkennen ist. Die Geschichte trifft auch noch im 21. Jahrhundert ins Herz ihrer Leser und Zuschauer. Wer weiß, was wir uns in 50 Jahren an Naivität nachsagen lassen müssen.
Titel, Cast und Crew | Wenn der Wind weht (1986) OT: When The Wind Blows |
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Poster | |
Release | ab dem 16.08.2019 im Mediabook (Blu-ray+DVD) seit dem 24.06.2022 auf Blu-ray Ihr wollt den Film bei Amazon kaufen? Dann geht über unseren Treibstoff-Link: |
Regisseur | Jimmy T. Murakami |
Trailer | |
Originalsprecher | Peggy Ashcroft (Hilda Bloggs) John Mills (Jim) Robin Houston (Radiosprecher) |
Comicvorlage | WHEN THE WIND BLOWS von Raymond Briggs |
Drehbuch | Deric Washburn Harry Kleiner |
Musik | Roger Waters |
ArtDirection | Errol Bryant Richard Fawdry |
Filmlänge | 96 Minuten |
FSK | ab 6 Jahren |
Chefredakteur
Kann bei ZURÜCK IN DIE ZUKUNFT mitsprechen / Liebt das Kino, aber nicht die Gäste / Hat seinen moralischen Kompass von Jean-Luc Picard erhalten / Soundtracks auf Vinyl-Sammler / Stellt sich gern die Regale mit Filmen voll und rahmt nur noch seine Filmposter