„Der Traum des Allan Grey“
Für manch filmische Meisterwerke braucht man einen Schubs. VAMPYR musste jedoch drei Mal mein Interesse anstupsen, bis ich endlich diesen Meilenstein der Filmgeschichte gesehen habe. Stoß Nummer eins, war mein Kollege Stefan, der VAMPYR in seiner Filmliste der besten Horrorfilme aus den 1930er-Jahren auf Platz 1 setzte und ein Kinoplakat abbildete, was meine Neugier entfachte. Schubs zwei war, nach jahrelanger Suche einer vernünftigen Blu-ray-Veröffentlichung, das britische Label Eureka! mit ihrer The-Masters-of-Cinema-Serie (mittlerweile über 250 grandiose Veröffentlichungen). Endlich erschien VAMPYR mit neuer Restauration durch das dänische Filminstitut in HD. Hinweis Nummer drei und endgültiger Kaufimpuls war mein Regieliebling und Cinemaniac Guillermo del Toro. Er twitterte, dass er einen Audiokommentar eingesprochen hatte. Gesehen, geklickt und im Eureka-Shop gekauft – es wird sogar versandkostenfrei ins Ausland verschickt. Einen Tag später war endgültig die limitierte Erstauflage der 3.000 Stück über den Ladentisch gegangen. Solche Momente reibt man jedem kollegialen Filmsammler gern unter die Nase. Aber keine Sorge, eine Nachfolgeedition ohne Begleitbuch ist wieder erhältlich. Später dazu mehr, denn wir wollen hier über Vampire reden bzw. diese alptraumfiebrige Vision, die der dänische Regisseur Carl Theodor Dreyer mit seinem ersten Tonfilm in schwarzweißen Bildern auf Film gebannt hat.
Handlung
Der junge Student Allan Gray (Julian West) kehrt in der französischen Provinz namens Courtempierre in ein Gasthaus ein. In der Nacht taucht auf einmal ein alter Mann in seinem Zimmer auf, hinterlässt ein kleines Paket, das erst nach seinem Tode zu öffnen ist. Allan sucht nun in der Gegend nach dem Edelmann aus seinem „Traum“. Unterwegs begegnen ihm seltsame Schattenwesen, einbeinige Soldaten und eine alte Frau (Henriette Gérard). Er gelangt an ein Schloss. Dort trifft er auf den Mann aus seinem Traum, seine zwei Töchter und Bediensteten. Gray sieht durch das Fenster, wie der Mann in den Rücken geschossen wird. Der Attentäter ist nicht zu finden und der Edelmann stirbt in seinen Händen. Gray bleibt die Nacht im Schloss, auch weil er ein Auge auf die schöne Gisèle (Rena Mandel) geworfen hat. Ihre Schwester Léone (Sybille Schmitz) befällt unerwartet eine Krankheit und selbst der unheimliche Dorfarzt (Jan Hieronimko) kann ihr nicht helfen. Doch das kleine Päckchen, was der Schlossherr in Allans Traum zurückgelassen hat, enthält ein Buch, welches das Verhalten von Vampiren beschreibt, die auch auf das Verhalten der erkrankten Léone passt.
Wahrnehmung
Zugegeben, wenn man ältere Filme zur späten Stunde schaut, befällt einen meist die Müdigkeit. Das ist völlig okay, denn man ist an mehr Details, höhere Schnittfrequenzen und optimierte Drehbücher aus dem Gegenwartskino gewöhnt. Beim ersten Sehen von VAMPYR ging es mir nicht anders. Die Bilder sind großartig und die Szenen erfordern Mitdenken, aber Regisseur Dreyer lässt diesen Film wie einen Traum wirken, eine mystische Vision, die geschickt mit Symbolen und Blenden arbeitet. Außerdem ist, und das ist für die Zeit sehr ungewöhnlich, die Kamera sehr agil. Sie schwebt förmlich und dadurch folgen unsere Augen der Reise des Suchenden Allan Gray. Gray – diesen Hinweis habe ich Guillermo zu verdanken – hat nicht ohne Grund den Namen Grau. Er ist der Einzige, dem es gelingt zwischen den Welten zu wandeln, dem Realen und dem Übersinnlichem. Aber Schwarz ist hier nicht automatische das Böse und Weiß nicht das Gute. Die Definitionen bleiben unbestimmt und selbst zum Ende stirbt der bösartige Arzt in einem Berg aus weißem Mehl.
Die ganze Handlung kann als Traum gedeutet werden, den der junge Student im Gasthaus hat. Vorher ist jedoch noch ein Mann mit einer Sense zu sehen, der eine Glocke für den Fährmann läutet. Vielleicht ist Allan Gray schon gestorben und treibt sein Unwesen in den Zwischenwelten?
Der Vampir
Immer wieder werden in der Handlung ein paar Seiten aus dem Buch gelesen, das Hinweise zum Leben der Vampire enthält. So lernen die Zuschauer, der Film wurde bereits 1930 gedreht, was es mit den Vampiren auf sich hat. Sie benötigen Blut und können den Willen von Menschen brechen. Sie können aber auch ihre Opfer in den Selbstmord treiben und nur mit einem Pflog im Herzen vernichtet werden. Der Vampir – in diesem Fall die Vampirin namens Marguerite Chopin – ist nur einmal bei der Tat des Bisses zu sehen. Als gefährlicher Bösewicht stellt sich der Dorfarzt heraus, der selbst vor Gift und Entführung nicht zurückschreckt. Aber selbst die Hauptfigur wird in die Welt der Untoten versetzt, mit einer der beeindruckendsten Szenen im Film und der damaligen Zeit: Gray verlässt seinen Körper, seine Seele wandelt durch die Gegend und er entdeckt seine eigene Leiche in einem Sarg. Die Perspektive, der Point of View (POV), ist auf einmal aus dem Sarg heraus. Wir werden nun Zeuge wie der Sarg (in Wahrheit die Kamera) zum Friedhof getragen wird. Eine klaustrophobische Angst befällt uns und wir wissen, dass Gray nicht tot sein kann. Eine schreckliche Vorstellung lebendig begraben zu werden.
Memento Mori
Im Audiokommentar von Guillermo del Toro werden auch Symboliken angesprochen. Es ist ein angenehmer Kommentar von del Toro, der nicht jede einzelne Einstellung überanalysiert. Die Ausführungen des „fat Mexican“, wie er sich selbst nennt, sind eher emotional und philosophisch. Aber er gibt gleich zu Beginn einen Hinweis, der jede Zuschauerin und jeden Zuschauer gut durch die Symboliken des Films führt. Memento Mori, grob übersetzt „Sei Dir der Sterblichkeit bewusst“, ist der Ausdruck, der durch VAMPYR führt. Sind nicht Vampire die perfekte Metapher für die Unsterblichkeit und den Tod zugleich? Im Zusammenhang mit dem lateinischen Ausdruck Memento Mori werden in der Kulturgeschichte zwei Symbole genutzt: ein Totenschädel und eine Sanduhr. Sie stehen für den Tod und die Zeit. Diese Symbole tauchen immer wieder im Film auf, selbst in den Schrifttafeln im Hintergrund. Dieser Ansatz verhilft VAMPYR vielmehr zu einer spirituellen Form als zu einer rein physischen, wie es meist die Vampirfilme der Neuzeit sind. Gewalt, Schönheit und Verführung stehen heutzutage bei solchen Werken im Vordergrund.
Die beste Edition von VAMPYR
Die Criterion Collection hatte vor Jahren bereits VAMPYR auf Blu-ray und DVD veröffentlicht. Danach war die Ausgabe lange Zeit vergriffen. Im Jahr 2022 hat nun dank des 90-jährigen Jubiläums eine 2K-Restauration stattgefunden. Das Danish Film Institut, unterstützt vom Creativ Europe MEDIA Programm sammelte unterschiedliche Archivaufnahme des Films. 104.800 Einzelbilder wurden gescannt, aufbereitet, von Kratzern und Staub befreit. Man sollte hier noch den Namen Claus Greffel erwähnen, der beim DFI manuell fast 250.000 Elemente und Kratzer von den Bildern entfernte. Eine mühsame Arbeit, die im Ergebnis begeistert.
Die Erstauflage von Eureka verfügt neben dem Film auf Blu-ray über ein 100-seitiges englischsprachiges Buch. Von Auszügen aus der Dryer-Biografie über ein Interview mit dem damaligen Produzenten Baron Nicolas de Gunzberg und Produktionsnotizen ist alles enthalten – ein hervorragendes Extra, was leider nur in der Erstauflage enthalten ist, die wie gesagt schon Out of Print ist. Die Nachfolgeauflage enthält aber ebenfalls die audiovisuellen Extras, wie einen Audiokommentar von Guillermo del Toro und dem Filmkritiker Tony Rayns, zwei neue Interviews zur Filmmusik mit David Huckvale und die Dokumentation CARL TH. DREYER (1966). Hier bleiben keine Wünsche offen!
Fazit
VAMPYR unterstreicht, was es bereits vor hundert Jahren bedeutet hat, eine unabhängige Produktion für ein Filmprojekt zu haben. Dreyer konnte sich dank dieser Freiheit, vollkommen seiner künstlerischen Interpretation des Vampirmythos ausleben. Die 74 Minuten dringen leicht in unser Bewusstsein ein, um dort wie ein Traum voller Gefühle und Eindrücke weiterzuleben.
Titel, Cast und Crew | Vampyr (1932) |
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Poster | |
Release | seit dem 17.10.2022 auf Blu-ray erhältlich. Ihr wollt den Film bei Amazon kaufen? Dann geht über unseren Treibstoff-Link: Direkt bei EUREKA! in Großbritannien bestellen >>> |
Regisseur | Carl Theodor Dreyer |
Trailer | |
Besetzung | Julian West (Allan Grey) Maurice Schutz (Der Schlossherr) Rena Mandel (Gisèle) Sybille Schmitz (Léone) Jan Hieronimko (Der Dorfarzt) Henriette Gérard (Die alte Frau vom Friedhof) |
Drehbuch | Christen Jul Carl Theodor Dreyer |
Kamera | Rudolph Maté Louis Née (nicht im Abspann erwähnt) |
Musik | Wolfgang Zeller |
Schnitt | Tonka Taldy |
Filmlänge | 74 Minuten |
FSK | ungeprüft |
Chefredakteur
Kann bei ZURÜCK IN DIE ZUKUNFT mitsprechen / Liebt das Kino, aber nicht die Gäste / Hat seinen moralischen Kompass von Jean-Luc Picard erhalten / Soundtracks auf Vinyl-Sammler / Stellt sich gern die Regale mit Filmen voll und rahmt nur noch seine Filmposter