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Uhrwerk Orange (1971) – Filmkritik

„Der böse Geist der Geschichte“

Stanley Kubrick verfilmte zwischen Oktober 1970 und März 1971 den Roman UHRWERK ORANGE (A CLOCKWORK ORANGE) von Anthony Burgess, worin die Geschichte des jugendlichen Mörders Alexander DeLarge erzählt wird, „dessen Hauptinteressen Vergewaltigung, Verbrechen und Beethoven sind“. Wie Burgess, der in seinem Buch auch eigene traumatische Erlebnisse verarbeitete, beschäftigt sich Kubrick mit der Frage nach dem freien Willen des Menschen – und übt ätzende Kritik an Institutionen und an einem an Hegel angelehnten Geschichts- und Staatsverständnis. Nach Drohungen gegen seine Familie und nachdem jugendliche Gewalttäter sich immer wieder auf den Inhalt des Films bezogen – ohne diesen in den meisten Fällen wirklich gesehen zu haben – wurde UHRWERK ORANGE 1974 von Kubrick selbst aus dem britischen Verleih genommen und kam erst nach dem Tod des Regisseurs wieder in die Kinos.

© Warner Home Video

Handlung

Nachts verüben Alex (Malcolm McDowell) und seine Gang, die „Droogs“, in einem utopisch verfremdeten London grausame Gewaltakte gegen überwiegend völlig wehrlosen Menschen. In der Bande selbst, die sich mit einer eigenen Slang-Sprache abgrenzt, herrscht eine strikte Hierarchie, an der die Gruppe letztlich zerbricht. Alex erschlägt bei einem Einbruch eine Frau (Miriam Karlin) und wird zu einer langjährigen Haftstrafe verurteilt. Um freizukommen, willigt Alex ein, an dem Ludovico-Verfahren im Sanatorium von Dr. Brodsky (Carl Duering) teilzunehmen, die den Menschen „gut“ machen soll. Nach seiner Entlassung wird Alex nicht nur damit konfrontiert, dass seine Eltern (Philip Stone, Sheila Raynor) ihn nicht mehr zu Hause aufnehmen wollen, sondern auch, dass seine früheren Opfer Rache nehmen.

© Warner Home Video

Interpretation

Alex lebt in einer zynischen, sozialdarwinistisch anmutenden Gesellschaft. Seine Gewalt erscheint wie eine Fortsetzung des Alltags, nur mit brutaleren Mitteln. „Er nimmt, was er kriegen kann,“ rätseln seine mit der Gesamtsituation überforderten Eltern und gehen von Gelegenheitsarbeiten aus. Trotz technologischem Fortschritt, Bildung und Komfort gibt es extreme Ungleichheit und sinnlose Gewalt. Sigmund Freud schreibt über die Dynamik von Gewaltexzessen, dass ein anderer Mensch „nicht nur möglicher Helfer und Sexualobjekt (ist), sondern auch eine Versuchung, seine Aggression an ihm zu befriedigen, seine Arbeitskraft ohne Entschädigung auszunützen, ihn ohne seine Einwilligung sexuell zu gebrauchen, sich in den Besitz seiner Habe zu setzen, ihn zu demütigen, ihm Schmerzen zu bereiten, zu martern und zu töten.“

© Warner Home Video

Alex akzeptiert auch, wenn Andere stärker sind und verhält sich ihnen gegenüber nahezu servilisch: Behördenvertreter werden mit „Sir“ angesprochen. Hegels Vorstellung des Staates als „Gang Gottes auf Erden“ erfährt eine völlige Negation: Sowohl bei seiner Festnahme als auch bei seinen Gefängnisaufenthalt ist Alex gewalttätigen Übergriffen des Personals ausgesetzt: einer der Polizisten kommentiert, „unserem Freund Alex“ werde erklärt, dass „wir auch das Gesetz kennen“. Gefangene ohne politischen Hintergrund sollen entlassen werden, da die Haftanstalten für Oppositionelle benötigt werden. Der Gefängnisdirektor (Michael Gover) ist der Auffassung, dass der Staat unter Kriminalität am meisten zu leiden habe – tatsächlich Betroffene werden völlig ausgeblendet. Ehemalige Gangmitglieder werden zu Polizisten, die ihre bisherigen Aktivitäten – Überfälle auf Schwächere – jetzt uniformiert weiter betreiben. Am Ende des Films wird Alex, dem eine „gutbezahlte Stelle“ angeboten wird, wie ein Vogel von dem Innenminister (Anthony Sharp) gefüttert – ein zynischer Kommentar auf die Abhängigkeit von einer „fütternden Hand“ des Staates.

© Warner Home Video

Als Alex zum zweiten Mal dem Schriftsteller Alexander (Patrick Magee) begegnet, erläutert ihm dieser – seit dem Überfall der Droogs sitzt er im Rollstuhl – ebenso wie seine Ehefrau (Adrienne Corri), die an Folgen der erlittenen Gewalttat gestorben ist, sei auch Alex „ein Opfer moderner Zeit.“ In der Romanvorlage arbeitet Alexander, den man psychoanalytisch als Vaterfigur interpretieren kann, an dem Buch Uhrwerk Orange und Alex erzählt unter dem gleichen Titel seine Lebensgeschichte. Nachempfunden ist die Figur des Mr. Alexander bei Kubrick möglicherweise dem Philosophen Herbert Marcuse, der zunächst durch seine Hegel-Studien bekannt wurde und – auch bedingt durch den frühen Tod seiner ersten Frau – eine Theorie entwarf, dass der technologische Fortschritt in der modernen Industriegesellschaft zu einer immer perfekteren Manipulation der Massen führe, der sich nur wenige entziehen könnten. Ähnlich äußert sich auch Mr. Alexander im Film.

© Warner Home Video

Es finden sich bereits mehrere Motive, die auf SHINING (THE SHINING, 1980) verweisen: in beiden Filmen wird ein verunglückter VW-Käfer gezeigt und schriftstellerische Tätigkeit thematisiert. Mit dem rasenden Jack Torrance im Labyrinth zitiert Stanley Kubrick den im strömenden Regen umherirrenden Alex. Es geht um die Suche nach einem „Heim“, nach bürgerlichem Glück, – für Freud ist „das Wohnhaus ein Ersatz für den Mutterleib, die erste, wahrscheinlich noch immer ersehnte Behausung, in der man sicher war und sich so wohl fühlte“ – welches sich aber in grauenvollen Taten manifestiert: Die Misshandlung des alkoholkranken, wohnsitzlosen Mannes (Paul Farrell) zu Beginn des Films geschieht auch vor dem Hintergrund, dass die im Grunde perspektivlosen Droogs für sich eine ähnliche Zukunft erwarten.

Während Jack den Befehlen der Geister des Overlook-Hotels ausgeliefert ist, spricht der Bewährungshelfer (Aubrey Morris) von einem „bösen Geist“, der Alex beherrscht. Bei Hegel ist von „welthistorischen Menschen“ die Rede, welche den Willen des „Weltgeistes“ ausführen und damit auf der Erde die „Vernunft Gottes“ verwirklichen. Diese erwartet aber auch kein „glückliches“ Schicksal: „Ist der Zweck erreicht, so fallen sie, die leeren Hülsen des Kernes, ab. Sie sterben früh wie Alexander, sie werden wie Cäsar ermordet, wie Napoleon nach St. Helena transportiert.“ Es wirkt wie eine Verballhornung dieses Gedankengangs, wenn Alexander DeLarge („der Große“) eine phallusartige Maske trägt oder sich vorstellt, ein Römer zu sein, der Christus auspeitscht. Kubrick beabsichtigte auch das Leben Napoleons als Monumental-Epos zu verfilmen.

© Warner Home Video

Jeder utopische Entwurf einer Gesellschaftsordnung nach historischen Kriterien wird in UHRWERK ORANGE – das im Grunde pessimistische Ende weicht von der Romanvorlage ab – entweder völlig verworfen oder bis in die schrecklichste Konsequenz zu Ende gedacht. Sigmund Freud hat geschrieben, dass etwa mit der Aufhebung Privateigentums „der menschlichen Aggression eines ihrer Werkezeuge“ entzogen werde, aber sich an „den Unterschieden von Macht und Einfluss, welche die Aggression für ihre Absichten missbraucht“ nichts ändern wird.

© Stefan Preis

Verwendete Literatur:

  • Freud, Sigmund (2009): Das Unbehagen in der Kultur und andere kulturtheoretische Schriften. Frankfurt am Main.
  • Hegel, G. W. F. (1986): Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. Werke 12. Frankfurt am Main.

 

Titel, Cast und CrewUhrwerk Orange (1971)
OT: Clockwork Orange
Poster
Releaseseit dem 28.04.2022 auf UHD Blu-ray

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RegisseurStanley Kubrick
Trailer

Englisch
BesetzungMalcolm McDowell (Alex)
Patrick Magee (Mr. Alexander)
Michael Bates (Chief Guard)
Warren Clarke (Dim)
John Clive (Stage Actor)
Adrienne Corri (Mrs. Alexander)
Carl Duering (Dr. Brodsky)
DrehbuchStanley Kubrick
RomanvorlageNach dem gleichnamigen Roman von Anthony Burgees
KameraJohn Alcott
SchnittBill Butler
Filmlänge136 Minuten
FSKab 16 Jahren

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