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Über die Unendlichkeit (2019) – Filmkritik

Sich allein in ein Café zu setzen, ist immer etwas Besonderes. Der Platz am Tresen hinter der Scheibe ist der Schönste. Hier hat man den besten Blick auf die Menschen, die ihren Wegen nachgehen:  Pärchen, die liebevoll Händchen halten, Kinder, die ihre Schulbeutel hinter sich her schleifen oder ältere Damen, die ihre Supermarkt-Schnäppchen in Sicherheit bringen. Jeder von ihnen trägt auch immer ein bisschen seine Geschichte auf den Schultern. Regisseur Roy Andersson hat sicher schon oft auf diese Weise seine Mitmenschen beobachtet. Vor allem aber die Unscheinbaren haben es ihm angetan. Müde von der alltäglichen Arbeit trotten sie nach Hause und sinnieren über den nächsten Urlaub, der noch in weiter Ferne liegt. Es sind die unauffälligen Arbeiter, die man sich gern in Behörden vorstellt, die mit ihren beigefarbenen Mänteln fast mit den Häuserwänden verschmelzen. Mit ÜBER DIE UNENDLICHKEIT kehrt Andersson zu diesen melancholischen Figuren zurück. Eine lebendige Bilderschau über die Frage nach dem Sinn des Lebens, die aber nicht beantwortet werden kann.

© Neue Visionen Filmverleih

Handlung

Eine konkrete Geschichte gibt es in den Filmen von Roy Andersson selten. Sie sind vielmehr wie eine Sammlung von kleinen Momenten und Anekdoten. Manchmal tauchen bestimmte Personen in mehreren Bildern auf. In ÜBER DIE UNENDLICHKEIT ist es ein Pfarrer (Martin Serner), der seinen Glauben an Gott verloren hat und nun traurig mit seiner Existenz hadert. Die Rahmenhandlung bildet ein Pärchen, was über die zerstörte Stadt Köln schwebt. Roy Andersson gab in einem Interview zu, dass das Handlungsgrundgerüst von „Tausendundeine Nacht“ inspiriert wurde. Die erzählt von der zum Tode verurteilten Scheherazade, die ihrem Mann, dem König, eine Geschichte erzählt, die sie immer wieder unterbricht. Der König möchte aber stets wissen, wie es weitergeht und so verschiebt sich die Vollstreckung stets um einen Tag. Das Märchen geht glücklich aus und Scheherazade wird begnadigt. Die Stimme von Scheherazade meint man auch in ÜBER DIE UNENDLICHKEIT zu vernehmen, weil jede Szene mit einer weiblichen Stimme aus dem Off kurz erklärt wird. Meist offensichtliche Dinge, aber auch Aspekte, die den Blick des Zuschauers auf etwas anderes lenken.

© Neue Visionen Filmverleih

Melancholische Kunst

Zuallererst muss man erwähnen, dass sich die Kamera nie bewegt. Die Bilder sind im Studio aufgenommen und die Hintergründe wie auch Requisiten perfekt auf das Gesamtbild abgestimmt. Ganze Straßenzüge werden mit Modellen entworfen und durch geschicktes Spiel mit der Perspektive, wirkt es echt. Es ist eine absolute und konzentrierte Kontrolle über das eigene Kunstwerk. Improvisation gibt es höchstens bei den Proben mit den Schauspielern. Da es keine Schnitte oder Kamerabewegungen gibt, sind die Bilder mit einer besonderen Tiefe und Fluchtpunkten versehen. Auch wenn meist nicht viel geschieht, hat der Zuschauer jedoch viel zu entdecken. Die Bilder sind auf jeder Ebene durchgängig scharf.

© Neue Visionen Filmverleih

Was passiert mit der Wahrnehmung des Betrachters? Zuallererst stellt sich eine fast meditative Ruhe ein. Die aufeinander abgestimmten erdigen und pastellfarbenen Töne geben jedem Gegenstand das gleiche Recht gesehen zu werden. Ein rein demokratischer Blick, wenn man so will, weil sich keinerlei Signalfarbe aufdrängt. Es ist ein bisschen wie zum ersten Mal in eine Wohnung eines Freundes oder Bekannten zu kommen. Jedes Möbelstück und jeder Gegenstand bekommen ihre Aufmerksamkeit.

Roy Andersson ist in der Hinsicht eher ein Maler der Neuen Sachlichkeit als ein Filmregisseur. Diese stringente Inszenierung lässt manch Zuschauer in den Schlaf gleiten, aber bei den meisten wird sie eine besondere Art der Konzentration erzeugen, auf die Räume wie auch die Figuren in diesem „Theater“. Besonders wenn man weiß, dass die Aufnahmen ausschließlich in seinem Studio in Stockholm gedreht sind, fängt man zusätzlich an sich zu fragen: Wie haben sie es gemacht? Highlight in ÜBER DIE UNENDLICHKEIT ist ein ganzer Bahnsteig, an dem sogar noch ein Zug vorbeifährt. Selbst die Extras auf der Blu-ray und DVD verraten nicht, wie dieses Bild entstanden ist.

© Neue Visionen Filmverleih

Einordnung

Leider reicht ÜBER DIE UNENDLICHKEIT in seiner emotionalen Bandbreite nicht an Anderssons Living-Trilogy (SONGS FROM THE SECOND FLOOR, DAS JÜNGSTE GEWITTER, EINE TAUBE SITZT AUF EINEM ZWEIG UND DENKT ÜBER DAS LEBEN NACH) heran. Die Bilder und Momente sind wieder einmal fantastisch und das Handwerk hinter den Aufnahmen meisterlich. So eine Art des Filmens gibt es wirklich nur einmal und die Verbindung zur Malerei ist schon in der ersten Szene, wenn ein Pärchen auf einer Bank den Zugvögeln hinterherblickt, erkennbar. Wie in einem Bild von Caspar David Friedrich schauen wir als Betrachter auf den Hinterkopf der beiden Personen auf der Parkbank und somit sind auch wir wehmütig. Der Winter naht, die Menschen bleiben zurück und können nicht in den Süden fliehen. Solche Momente der Melancholie und resignierter Traurigkeit zeichnen die Werke von Roy Andersson aus. Insgesamt sollte die eigene emotionale Waage stabil sein, denn das trübe Dasein in diesem Universum macht nicht gerade fröhlich. Zum Glück wird stets ein Hauch der Ironie über die Bilder gestreut, wie der Pfarrer, der erstmal ein paar kräftige Schlucke vom Blute Jesus nimmt oder ein Single auf der Suche nach seiner Verabredung ist.

© Neue Visionen Filmverleih

Fazit

Die 76 Minuten von ÜBER DIE UNENDLICHKEIT sind der perfekte Einstieg in den Kosmos von Roy Anderssons Kunst. In verträglichen kleinen Happen gibt es Szenen zum Nachdenken, Lachen und Betrübtsein. Insgesamt fehlt aber etwas der doppelte Boden seiner blassen, traurigen und lethargischen Figuren, die die Vorgängerfilme noch gesellschaftskritischer haben werden lassen. Vielleicht musste das Projekt auch einfach abgeschlossen werden, weil man noch „den Bus bekommen wollte“.

© Christoph Müller

Titel, Cast und CrewÜber die Unendlichkeit (2019)
Poster
RegisseurRoy Andersson
Releaseab dem 25.03.2021 auf Blu-ray und DVD

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Trailer
BesetzungMartin Serner (Pfarrer )
Jessica Lothander (Erzählerin )
Tatjana Delaunay und Anders Hellström (Fliegendes Paar)
Jan Eje Ferling (Mann an der Treppe)
Bent Bergius (Psychiater)
Thore Flygel (Zahnarzt)
DrehbuchRoy Andersson
KameraGergely Pálos
BühnenbautenAnders Hellström
Frida E. Elmström
Nicklas Nilsson
Filmlänge76 Minuten
FSKab 12 Jahren

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