„Wonder Woman der Mütter“
Die Welt einer Mutter ist für Außenstehende schwierig zu begreifen. Da gibt es zum einen die Mitleidsschenker: „Das muss wirklich eine stressige und anstrengende Zeit sein. Wie schafft du das nur?“ Und dann gibt es noch die Idealisten: „Es ist so schön, Leben in die Welt zu setzen. Mit einem Lächeln deines Kindes bekommst du doch so viel zurück“. Aber das sind alles Sprüche von Leuten, die selbst keine Mutter sind oder sein werden. Es sind Phrasen, die nachgeplappert werden oder eine Wiedergabe des Idealbilds, welches die Medien uns auftischen. Dabei haben die Meisten von uns doch selbst eine Mutter kennen und lieben gelernt.
Wir müssten doch wissen, was in ihnen so vorgeht. Problem ist jedoch, dass man sich an die frühen Jahre leider kaum erinnern kann. Jason Reitman (UP IN THE AIR, THANK YOU FOR SMOKING) stellt sich mit seinem Film TULLY nun der Herausforderung, allen Müttern – und sicherlich auch seiner – ein schonungsloses Denkmal zu setzen. Diese Aufgabe gelingt ihm zusammen mit Charlize Theron (YOUNG ADULT, MAX MAX: FURY ROAD) in der Hauptrolle nicht nur mit viel Sinn für eine realitätsnahe Geschichte, sondern auch mit dem richtigen Feingefühl für eine Frau in der Mutterrolle mit all ihren Höhen und Tiefen.
Inhalt
Marlo (Charlize Theron) ist Mitte dreißig, hat zwei kleine Kinder und das Dritte ist bereits in den Startlöchern. Ihr Sohn Jonah kommt in seinen jungen Jahren mit Veränderungen schlecht klar und schafft es nicht seine Gefühlsausbrüche zu kontrollieren. Das passt natürlich nicht in das Bild der schönen und teuren Privatgrundschule, auf die er geht. Marlo muss immer wieder bei der Direktorin zu Kreuze kriechen. Dies ist nur eine der vielen aufreibenden Aufgaben, die Marlo als Familienoberhaupt hat. Da helfen auch kaum Kind Nr. 3, der vielbeschäftigte Ehemann Drew (Ron Livingston) oder ihr vermögender Bruder weiter. Craig (Mark Duplass) will seiner gestressten Schwester zur Geburt des Kindes eine Nacht-Nanny engagieren. Sie kümmert sich nachts um das Baby und sorgt für den Haushalt. Jeder wäre hier skeptisch, sein frisch geborenes Kind einer fremden Frau anzuvertrauen, doch Tully (Mackenzie Davis) ist als Nanny ganz anders als erwartet und genau das, was Marlo braucht: Eine Freundin.
Im Gleichgewicht
Okay, die Geschichte hört sich vielleicht etwas zu sehr nach einem reinen Frauenthema an. Ich möchte nichts verheimlichen, denn es werden die „Nebenwirkungen“ einer Schwangerschaft und die ersten Monate mit einem Baby schonungslos dargestellt. Aber Regisseur Jason Reitman und Drehbuchatorin Diablo Coty (JUNO) schaffen die perfekte Balance zwischen Komik und Mitleid, welche der Zuschauer für Marlo empfindet. Wenn Tully, gespielt von der strahlenden Mackenzi Davis (Black Mirror Folge „San Junipero“), an der Tür klingelt, verflüchtigt sich die anfängliche Skepsis ihr gegenüber und man begleitet die beiden Frauen gern in ihre beginnende Freundschaft. Die Themen über die sie sprechen wirken nie sperrig, verbraucht und in die Geschichte gequetscht. Marlos intelligente Sicht auf Familie oder Beziehung werden durch die jungen Ansichten von Tully aufgefrischt. Das bemerkt auch ihr Ehemann Craig und die Kinder, Marlo blüht wieder auf, sie wird wieder eine Frau und kein gestresster Roboter.
Zweite Runde: Reitman & Theron
Charlize Theron hatte bereits mit MONSTER und KALTES LAND bewiesen, dass sie auf ihre Modelfigur verzichten kann und über enormes schauspielerisches Talent verfügt. Aber eine Marlo hatte sie noch nie gespielt und wir kennen eine solche Figur auch nicht: Realitätsnah, witzig, clever und Mut zum aus der Form geratenen Körper. Es ist eine ganz neue Art von femininer Stärke, wie zum Beispiel in LADY MACBETH oder PROFESSOR MARSTON UND WONDER WOMAN. Für mich ist es nach dem etwas zähen YOUNG ADULT, ebenfalls von Reitman und mit Theron in der Hauptrolle, ein kleine Wiedergutmachung. Er schafft es mit viel Humor ein Abbild unserer Gesellschaft zu schaffen, welches nicht nur interessant und unterhaltsam ist, sondern sich so anfühlt als ob man mit dabei ist.
@DCM Film
Mit TULLY ist nicht nur eine innige Liebeserklärung an alle Mütter dieser Welt gelungen, sondern auch ein Verständnis-Paket, warum junge Mütter manchmal die einsamsten Menschen der Welt sein können. Wir als Kinder sind nach so einem Film zufrieden, nicht in unseren jungen Jahren einfach am Straßenrand ausgesetzt worden zu sein. Ebenfalls ist es ein Beispiel dafür, wie unsere Welt auf Effizienz und Perfektion abgestimmt ist. Eine Mutter mit drei Kindern muss nicht arbeiten, es ist bereits ein Vollzeitjob. Vielleicht gab es vor 100 Jahren keine praktischen Erfindungen wie Babyfons und Strampler mit Druckknöpfen, aber dafür hatte die Wohnung nur ein paar Quadratmeter, die helfenden Großeltern wohnten mit im Haus und es gab keine zeitintensiven Hobbys der Kinder. Jede Art von Entlastung schafft irgendwo auch wieder eine neue Belastung. Da ist es wichtig, sich mit einer Freundin nachts in den trockenen Whirlpool vor dem Haus setzen und über Träume sprechen zu können. Die schönsten Muffins der Welt backen zu können ist doch am Ende nur ein gesellschaftlicher Zwang.
Fazit
Wenn Marlo mit ihrem Sohn Jonah zum ersten Mal in einer öffentlichen Schule ist, treffen sie auf einen Grundschullehrer, der es schafft Jonah mit einer simplen Methode zu beruhigen. Wir stellen uns alle auf ein Bein und werden ein Baum, schütteln unser ganzes Laub in Form unserer Arme wie vom Wind bewegt einmal durch und atmen ganz tief aus. Dieses Loslassen und Abschütteln von allen Problemen, die unser schnelllebiger Alltag mit sich bringt, ist auch der Effekt dieser modernen Mary Poppins-Neuauflage. Gute Erfahrungen macht man nicht nur in teuren Privatschulen und genauso ist es bei diesem Kinobesuch: Beeindruckende Filme müssen nicht immer große Produktionen oder umfassende Dramen aufweisen, TULLY beweist es.
Und ruft mal wieder eure Mütter an! Ihnen habt ihr Einiges zu verdanken!
Chefredakteur
Kann bei ZURÜCK IN DIE ZUKUNFT mitsprechen / Liebt das Kino, aber nicht die Gäste / Hat seinen moralischen Kompass von Jean-Luc Picard erhalten / Soundtracks auf Vinyl-Sammler / Stellt sich gern die Regale mit Filmen voll und rahmt nur noch seine Filmposter