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Traumwelten – David Lynch und Kristine McKenna | Buchvorstellung

Neben Filmen beschäftigt sich der Fluxkompensator immer gerne auch mit Literatur über Filme und seine Macher. Ein ganz besonderer Filmemacher wird seit kurzem auch bei uns, auf knapp 700 Seiten in TRAUMWELTEN, im Heyne-Encore Verlag, in den Mittelpunkt einer etwas anderen Biografie gestellt: David Lynch.

Prolog

Mit ERASERHEAD schuf David Lynch 1977 einen der ersten Midnight-Movie-Kultfilme und bis heute einen der verstörendsten und zugleich faszinierendsten Meilensteine eines unabhängigen Kinos. Mit TWIN PEAKS veränderte er Ende der 80er das Medium Fernsehen durch eine sämtliche Sehgewohnheiten sprengende TV-Serie. Doch Lynch war immer mehr als „nur“ Filmregisseur oder TV-Revolutionär. Er ist Maler, Bildhauer, Musiker, leidenschaftlicher Anhänger der transzentralen Meditation, Raucher, Leader, Mensch. Ein Künstler mit einer ganz eigenen Sicht auf das Leben. Einem Leben zwischen hier und irgendwo anders.

Traumwelten David Lynch
David Lynch beim Dreh von ERASERHEAD

Der Künstler Lynch

„Anders“ umschreibt ihn und besonders sein Filmwerk recht treffend. Gerade seine Inszenierungen für die große Leinwand, wie auch das Fernsehen, spielen in einer uns weitestgehend bekannten Welt mit authentischen Figuren. Doch Kleinigkeiten sind „anders“ und geben dem Zuschauer ein Gefühl der Unsicherheit, des Verlorenseins auf einem LOST HIGHWAY (1997). Handlungen laufen ins Leere, oder bilden einen Kreis, der sich nicht schließt.
In oft unmerklich stilisierten Bildern und Klangräumen schafft er Stimmungen, die in ihrer Kraft, komplexeste Seelenzustände offenlegen und die Essenz eines Ortes, mit all seiner Historie und den Menschen, die diesen prägen, erfahrbar machen. Seine Filmsets sind bis auf die kleinste Requisite aufgebaute Bühnenbilder, bei denen jedes noch so kleine Detail seine Bedeutung hat. Mit diesen Details erzählt er seine Geschichten. Geschichten, die man erlebt, statt sie zu verstehen. Doch genau an dieser Stelle scheiden sich Bewunderer und Kritiker seiner Werke. Während die einen sich seinem Weg durch das Mysterium unserer Existenz ergeben anschließen, fragen sich die anderen, was dieser ganze Humbug mit roten Vorhängen, Mutantenbabys und tanzenden Kleinwüchsigen eigentlich soll.

Traumwelten David Lynch

David Lynch. Allein beim Lesen dieses Namens verändern sich bei vielen seiner Verehrer sämtliche Realitätsrezeptoren und werden zu Antennen in surrealistisch alptraumhafte Zwischenwelten. Andere dagegen raufen sich die Haare und verlassen Kopf schüttelnd das Kino oder räumen fluchtartig ihren Platz vor dem Fernseher. Viele lieben sein Werk, während fast noch mehr Menschen damit überhaupt nichts anfangen können. Doch wer ist dieser David Lynch überhaupt? Seine ganz eigene Sicht auf das Leben brauchte immer schon einen weiteren Blick, als den durch die Sucher einer Kameralinse. Vielleicht gerade deshalb, weil Lynch seine kreativen Wurzeln zunächst in einem sehr einfachen Leben und dann der bildenden Kunst, also der Malerei und Bildhauerei, bildete.

Das Buch

Genau um diese Wurzeln und die fruchtbare Erde, in der sie weiterwachsen konnten, geht es in diesem Buch TRAUMWELTEN. So wie Lynch in all seinen Werken den „zweiten Blick“ kultivierte, bietet uns dieses Buch auch zwei Blickrichtungen an.

Zunächst die der Journalistin und Filmkritikerin Kristine McKenna. Durch unzählige Begegnungen und Gespräche mit Weggefährten nähert sie sich diesem faszinierenden Künstler an. Chronologisch eingebettet, kommen Familienmitglieder, Freunde aus früher Kindheit, Künstlerkollegen, Förderer, Geliebte und Ehefrauen, wie auch seine Kinder zu Wort.

Traumwelten David Lynch

Kindheit und Jugend

So entsteht nach einer kurzen Einleitung zu seinen Eltern ein Handlungsbogen ab David Lynchs Geburt. Aufgewachsen im mittleren Westen der USA atmen wir bereits subtil den Geist der Vorstädte und seiner Bewohner, denen Lynch später in vielen seiner Filme skurrile Denkmäler setzen wird. Da begegnet der junge David auf offener Straße z. B. einer verstörten, nackten Frau, die wir später mit ihm gemeinsam in der Figur der Dorothy Vallens (Isabella Rosselini) in BLUE VELVET (1986) wiedertreffen. Und wir lernen Lynch als naturliebenden Anführer seiner Freunde, in von ihm geleiteten Abenteuerspielen, während endloser Sommerferien kennen. Hier zeigt sich bereits sein ganz natürliches Regie- und Leadershiptalent. In kurzen Zwischentexten verbindet die Co-Autorin Äußerungen und Erinnerungen ganz unterschiedlicher Menschen.

Ganz offensichtlich blieben Lynchs düstere Gedankengänge seinen Spielkameraden in Boise verborgen. Smith sagt: „Wenn dieses schwarze Auto in MULHOLLAND DRIVE den Berg hinauffährt, dann weiß man, dass etwas Schreckliches passieren wird. Aber das hat nichts mit dem David zu tun, den wir als Kind kannten. Diese Düsternis in seinen Werken überrascht mich, und ich weiß nicht, woher sie kommt.“

Traumwelten David Lynch

Der Künstler

Wir folgen Lynch nun kapitelweise über seine freigeistige Jugend in die Welt der Kunstuniversitäten. Dabei entsteht eine bis heute andauernde Freundschaft mit Jack Fisk, einem der kreativsten Set-Designer Hollywoods und Ehemann von Sissy Spacek, die in diesem Buch später auch noch zu Wort kommen wird. In der Zeit entwickelt er erste Begegnungen mit dem Medium Film, welches ihm bis dahin eher untergeordnet interessierte. Durch einen Kurzfilm landet er schließlich am American Film Institute in Los Angeles. Hier entsteht über Jahre auch sein Debütfilm ERASERHEAD.

Allein die Schilderungen über die intensive Entstehung dieses filmischen Meilensteins lohnt dieses Buch. Hier zeigt sich die ganze aufopferungsvolle Leidenschaft für seine Kunst. Er ist nicht nur Autor, Produzent und Regisseur, sondern auch Requisiteur, Make Up Artist, Caterer und sein eigener ausführender Assistent jeder künstlerischen Abteilung.

Traumwelten David Lynch

Regie und Leadership

Bei genauer Betrachtung lesen wir spätestens ab hier vielleicht sogar ein zukünftiges Standardwerk für modernes Leadership Management. Denn um seine Visionen umzusetzen, ist er kein despotischer Egomane, sondern ein begeisterungsfähiger Anführer eines für ihn alles gebenden Teams. Dadurch, dass er sich nicht zu schade ist, selbst mit anzupacken und aktiv Lösungen zu suchen, statt sich zurückzulehnen und lediglich Befehle auszuteilen, wird er für alle zu einem Inspirator ihres eigenen, noch nicht vollkommen ausgeschöpften, Potentials. Liebe Business Coaches und Change Manager! In diesem Buch findet sich echter Leadership Spirit.

Traumwelten David Lynch

Filme und Galerien

Ab dann begleiten wir nun jede seiner Filmprojekte in jeweils einzelnen Kapiteln. Wir erfahren viel über den 8-fach Oscar nominierten DER ELEFANTENMENSCH (1980), das große Scheitern in Schönheit mit DUNE (1983), seine Ausflüge als Musiker und seine erfolgreiche Weiterentwicklung als ernsthafter Künstler in den Galerien dieser Welt. Schließlich kehren wir mit der dritten Staffel nach TWIN PEAKS (2018) zurück, einem 19-stündigen Spielfilm, getarnt als TV-Mini-Serie, an der er körperlich fast zugrunde geht.

Traumwelten David Lynch

Der Mensch

Über das gesamte Buch beschreiben ihn fast alle, als einen einerseits bescheidenen Eigenbrötler, mit dem Hang zur sympathischen Skurrilität und andererseits als charismatischen Verführer und natürlichen Leader. Viele schätzten ihn für seine innere Ruhe und seine Fähigkeit, die richtigen Menschen in den entscheidenden Momenten seines Lebens für seine Ideen begeistern zu können. Und doch ist er ebenfalls ein rastloser Schöpfer ständig neuer Projekte, die er oft bis zur absoluten Erschöpfung und Selbstaufgabe umzusetzen weiß. Dabei vermittelt er nach außen jedoch stets ein souveränes Grundvertrauen in die Richtigkeit seines Handelns. Doch gerade durch seine Loyalität zu sich selbst, kommt es auch zu Trennungen von bestimmten Menschen, besonders von den Frauen an seiner Seite.

Traumwelten David Lynch

Der Stil des Buchs

Das alles liest sich angenehm flüssig und ist durch die lebendigen Berichte der zu Wort Kommenden wirklich informativ und kurzweilig. Keine langen Abhandlungen über Kunst, oder die möglichen Beweggründe von Lynchs Handeln. Genau wie in seinen Filmen entsteht durch lebendiges Schildern ein kompaktes Bild, was lange nachwirkt. In der scheinbar beiläufigen Schlichtheit der Anekdoten von Leuten wie seinem mimischen Alter Ego Kyle MacLachlan, oder auch Naomi Watts, die ihre Karriere nachweislich ihrer fantastischen Darstellung in MULHOLLAND DRIVE zu verdanken hat, entsteht ein fast greifbarer Nährboden seines eindrucksvollen Schaffens.

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Slideshow – Blick ins Buch

Die zweite Perspektive

Es ist beeindruckend wie viele Menschen die Co-Autorin, Kristin Mc Kenna, wie selbstverständlich im Fluss ihrer Handlung kurz lebendig werden lässt. Und doch ist das wirkliche Highlight von TRAUMWELTEN die zweite Blickrichtung, die von David Lynch selbst. Nach jedem von ihr geschriebenen Kapitel, welches sich mit einer weiteren wichtigen Station in seinem Leben befasst, kommentiert Lynch das geschilderte dann aus seiner Perspektive.

Der sonst so verschwiegene Künstler, der seine Werke lieber für sich sprechen lässt, wird so ganz natürlich und vollkommen freiwillig aus seiner selbstgewählten Deckung geholt und plaudert ganz ungezwungen, wie ein guter Freund, über das soeben Gelesene, als habe man ihn gerade aus einer lang lähmenden Nachtruhe befreit. Ganz nebenbei erfahren wir so auch, warum er seine Hemden immer komplett bis zum Hals knüpft. Dabei ist seine Sprache fast kindlich einfach und erfrischend direkt.

„Es ist nett von meinem Bruder, mich als geborenen Anführer zu bezeichnen, aber ich war bloß ein ganz normaler Junge. Ich hatte tolle Freunde und machte mir nie Gedanken darüber, ob ich beliebt war oder nicht. Ich hatte nie das Gefühl, anders zu sein.“

Traumwelten David Lynch

Diese Bescheidenheit und fast naive Sicht auf sein gesamtes Schaffen, wirkt auf Dauer zwar ein wenig zu sehr nach „fishing for compliments“, zeigt aber die besondere Ambivalenz eines einerseits besessenen Künstlers und eines im Einfachen verharrten Jungen aus einer längst vergangen Zeit, mitten in den 50ern. Denn gerade aus den fast verklärten Wurzeln seiner Kindheit erwächst seine besondere Fähigkeit, Geschichten speziell über die Besonderheit von Orten und Gegenständen zu erzählen.

„Das Fernsehen bewirkte damals schon, was das Internet heute noch verstärkt: Es macht alles gleich. Das ist eine ganz wichtige Eigenschaft der Fünfziger, die niemals wiederkehren wird: Die Orte unterschieden sich voneinander…Ihre jeweilige Welt war einzigartig und lud dazu ein, mehr über sie herausfinden zu wollen. Diese Unterschiede sind heute weitestgehend verschwunden.“

Und doch hat Lynch dem Fernsehen, wie auch später dem Internet, als einer der ersten namhaften Künstler mit einer eigenen Homepage, einzigartige Momente entlocken können. So sehr er sich seinen Wurzeln verpflichtet fühlt, so klug findet er gerade in neuen Medien weitere Wege seiner Schaffenskraft.

Traumwelten David Lynch

Lynch ist ein Schöpfer durch das Konservieren besonderer Momente seiner Erinnerung, sowie das Einbeziehen seiner Träume. Er ist überzeugt davon, dass alles was geschehen ist und jeder noch so kleine Moment im Hier und Jetzt den Schlüssel zu etwas Magischem beinhalten. Durch seine Offenheit dieser Gesamtheit gegenüber, kann es bei Lynch schon einmal passieren, dass er bei Dreharbeiten aus einem Requisiteur spontan den monströsen Hauptschurken Bob in TWIN PEAKS werden lässt. Wie es genau dazu kam, ist eine von vielen spannenden Anekdoten in diesem Buch. So bekommen wir u.a. auch einen herzlichen Eindruck von Mel Brooks, der sich hier als bescheidener und künstlerisch hoch ambitionierter Produzent von DER ELEFANTENMENSCH präsentiert. Es ist eine Freude zu erfahren, wie Lynch bestimmte Leistungen seiner Darsteller hervorzaubert, indem er sie einfach auf eine bestimmte Art am Arm berührt. Dies ist keine Zauberei, sondern Konsequenz aus einem wirklich ganzheitlichen Verständnis aller Dinge. Nicht umsonst nimmt die transzendentale Meditation nach Maharishi einen zentralen Platz in seinem Leben ein. Für diesen Weg verlässt Lynch auch immer wieder die eigene Komfortzone, reist um die Welt und hält Vorträge zum Thema Meditation, obwohl er öffentliche Auftritte scheut. All das macht einen besonderen LEADER aus.

Lynch ist sich in diesem Buch auch nicht zu schade, die eigenen Niederlagen offen zu benennen und sich selbst für vieles die Schuld daran zu geben. Doch anders als die meisten von uns, tut er dies mit der Gelassenheit eines Yogi-Meisters. Niemand kann vollkommen sein. Auch nicht Lynch. Nur durch das Phänomen des Scheiterns kann wirklich Neues entstehen. So ergeben sich ganz viele kleine Mosaike auf dem Weg zu einem ganzheitlichen Bild eines wirklich beeindruckenden Menschen, welches am Ende dennoch unvollendet bleiben muss. Denn einen alles erklärenden Zugang zu seinem Werk, kann uns auch dieses Buch nicht gewähren.

Lynch in DUNE

Wir erfahren hier ganz viel und ganz vieles auch wieder nicht. So ausgiebig uns Lynch in seine Zusammenarbeit mit seinem Haus- und Hofkomponisten, Angelo Badalamenti, mit dem er seit BLUE VELVET kongenial interagiert, blicken lässt, so wenig erfahren wir, wie es z. B. konkret zur musikalischen Zusammenarbeit mit der Rockband TOTO zu DUNE kam. Dafür werden besonders seine Kameraleute, Frederik Elmes, Freddie Francis, oder Peter Deming ins rechte Licht gerückt.

Das Buch wirkt insgesamt wie ein Gespräch unter Freunden, die sich nach Jahrzehnten mal wieder treffen, die ganze Nacht von einer Anekdote zur nächsten springen, dabei über sich und das Leben philosophieren und am Ende dankbar für alles wieder auseinander gehen. Erst auf der Fahrt nach Hause fällt einem ein, dass man noch viele offene Fragen hat.

Fazit

Wer also wirklich jedes noch so kleine Geheimnis von Lynch für sich enttarnen möchte, wird hier sicher enttäuscht werden. Als Ergänzung zu früheren Büchern, wie LYNCH ÜBER LYNCH von Chris Rodley und der Werkschau DAVID LYNCH von Susanne Kaul und Jean-Pierre Palmier, ist dieses reich bebilderte Buch TRAUMWELTEN dennoch zu empfehlen. Wer selbst kreativ tätig ist, Kunst und Filme liebt, gerne meditiert oder einfach neugierig auf wirklich bedeutsame Menschen ist, sollte dieses Buch zur Inspiration für sein weiteres Leben als Sommerlektüre in Betracht ziehen.

© Andreas Ullrich

  • Titel: Traumwelten Originaltitel: Life and Work
  • Autoren: David Lynch und Kristine McKenna
  • Verlag: Heyne-Encore Verlag
  • Erschienen am  25. Juni 2018
  • ISBN: 978-3-453-27084-8
  • Hardcover mit Schutzumschlag,
  • Umfang: 768 Seiten, 13,5 x 21,5 cm, 80 s/w Abbildungen
  • Preis: 25 € Bei Amazon bestellen

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