„Perspektivkino“
Wie konnte so etwas geschehen? Warum haben so viele dabei mitgemacht? Und warum haben sich so wenige widersetzt? Fragen, die man sich stellt, wenn man erfährt mit welcher grausamen Effizienz die Nazis im Zweiten Weltkrieg Menschen inhaftiert, getötet und – zur Anonymität verdammt – vernichtet haben. Vor allem der industrielle und systematische Mord an europäischen Juden aus dem Gedanken heraus, man selbst sei die wertvollste „Rasse“ ist erschreckend. Der Holocaust darf nicht vergessen werden und muss als Mahnung bestehen bleiben. Das Kino hat sich schon auf vielfältige Weise mit dieser Zeit befasst. THE ZONE OF INTEREST setzt diese Geschichtsaufarbeitung als besonders intensives Erlebnis fort und das ohne Blut oder Gewalt zu zeigen. Die Vorstellungskraft ist immer noch der stärkste Komplize des Kinos.
Handlung
Der Kommandant des Konzentrationslagers Auschwitz Rudolf Höß (Christian Friedel) lebt zusammen mit seiner Frau Hedwig (Sandra Hüller) und den fünf Kindern direkt neben dem Lagerkomplex. Ihnen fehlt es an keinerlei Annehmlichkeiten. Die schöne Natur Polens ist direkt um die Ecke. Ein vielfältiger Garten mit Swimmingpool und ein großes Haus bieten der Familie Luxus. Gefangene kümmern sich um die Pflanzen und ein paar polnische Frauen dienen im Haushalt. Das Leben der Familie Höß findet direkt an der hohen Gefängnismauer des Massenmords statt. Schreie, Schüsse und Befehle dringen ungehindert darüber hinweg und erinnern daran, dass auf der anderen Seite hunderte Menschen täglich vergast wurden. Die Hochöfen dröhnen in der Nacht bei ihrer grausamen Arbeit und es weht der Geruch des Todes über die „perfekte“ familiäre Faschistenwelt. Was für ein Leben führt diese Familie?
Big Brother
Zuallererst fällt die strenge Inszenierung von Jonathan Glazer auf. Wir werden zu statischen Betrachtern, die Kamera bewegt sich selten. Das Geschehen wird aus mehreren Blickwinkeln gefilmt. Glazer und sein Kameramann Łukasz Żal setzten bis zu zehn Kameras ein, um gleichzeitig zu filmen. Die digitalen Aufnahmen trüben etwas die Qualität der Bilder und die fehlende künstliche Beleuchtung lässt den Kontrast sehr hart erscheinen. Jedoch entwickelt sich dieser optische Nachteil zur Stärke von THE ZONE OF INTEREST, da es das Dokumentarische betont und authentischer wirkt. Außerdem sind die Bildausschnitte nie seicht und die Bildkompositionen verändern geradezu unsere Wahrnehmung. Beispielsweise sieht man zuerst noch den schönen Garten, entdeckt aber dahinter die große Betonmauer zum KZ. Darüber ist ein dicker Stacheldraht zu sehen, der dann die Perspektive auf die endlosen Gebäude und rauchenden Schlote lenkt. Das Publikum nimmt somit eine beobachtende, passive Position ein. Das Historiendrama wird auch durch die gewissenhafte Requisite und die wachsamen Schauspieler beängstigend echt mit Leben gefüllt.
Geräusche und Kunst
Dem Leben der Familie Höss über 100 Minuten zu folgen, wäre vielleicht konsequent gewesen, aber THE ZONE OF INTEREST durchbricht immer wieder dieses Interessengebiet. Zu Beginn ist es noch der Alltag einer Familie, dessen Vater direkt nebenan „arbeitet“. Der Faschismus und die Unterdrückung bahnen sich aber immer wieder ihren Weg – manchmal unauffällig und ohne Erklärung. Frau Höss schenkt zum Beispiel den unbezahlten polnischen Hausmädchen ein Paket voller Kleidung, was zu Beginn noch wie eine nette Geste wirkt. Später wissen wir, wenn sie sich selbst einen Pelzmantel um die Schultern legt und in der Tasche einen Lippenstift findet, wo die Kleidung herkommt. Man sucht Mitleid oder Bedauern in ihrem Gesicht, doch jedem in diesem Haus ist klar, was hinter den Mauern geschieht – der Genozid – und bis zum Ende wird man keinerlei Gewissenbisse erkennen.
Der Film kommt durchweg ohne die Darstellung von Gewalt aus. Jedoch übt er eine andere Art von Schrecken aus, durch seine Geräuschkulisse. Alles ist durchsetzt mit einem industriellen Dröhnen, wahrscheinlich die Krematorien, was permanent Anspannung erzeugt. Hinzukommen die Schreie und Schüsse, die aus dem Lager zu hören sind. Wenn Vertreter der Industrie dem Lagerkommandanten erklären, wie effektiv die Menschenvernichtung in Zukunft betrieben werden kann, ist man nur noch entsetzt. Begriffe wie Ladung und Dauerbetrieb sind zu hören. Das Wort Menschen kommt nicht in der Unterhaltung vor.
Regisseur Glazer bricht dieses unerträgliche Familienleben mit einer kleinen Nebenhandlung. In dunklen Nachtsichtaufnahmen ist immer wieder ein polnisches Mädchen zu sehen, was Obst an Orten versteckt, wo tagsüber die Lagerinsassen arbeiten. Sie findet in einer Metalldose ein Notenblatt und versucht es daheim auf dem Klavier zu spielen. Dies ist der einzige Moment, in dem man kurz das Leben der polnischen Bevölkerung sieht.
Zum Ende, wenn man vom raffgierigen Scheinleben der Eheleute nur noch angewidert ist, macht Regisseur Glazer etwas geradezu Spektakuläres. Er springt mit seiner Inszenierung in das jetzige Auschwitz, was heute als Museum besucht werden kann. Jetzt ist man zum ersten Mal innerhalb des Lagers und bekommt auch gleich die Antwort auf die Frage geliefert, ob dieser Teil der Geschichte einfach hinfort gefegt werden kann. Man merkt in dem aktuellen politischen Kräftemessen, sei es national oder international, dass es dafür nur eine Antwort geben kann.
Fazit
Auch wenn die Inszenierung offensichtlich auf Abstand gehen will und sein Publikum zu passiven Beobachtern verbannt, rückt einem THE ZONE OF INTEREST aufs Unangenehmste auf den Leib. Es ist wichtig, dass dieses grausame Kapitel der deutschen Geschichte nicht vergessen oder verwässert wird. Aber auch darüber hinaus, ist THE ZONE OF INTEREST ein Mahnmal für das Heute, wenn die westliche Welt sich im Wohlstand hinter Mauern versteckt und ganze Regionen der Erde vernichtet werden. Auch der Ökozid ist das Ergebnis von egozentrischen Interessen.
//Gesehen bei einer Pressevorstellung am 07.02.2024
Titel, Cast und Crew | The Zone of Interest (2023) |
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Poster | |
Release | Kinostart: 29.02.2024 |
Regie | Jonathan Glazer |
Trailer | |
Besetzung | Christian Friedel (Rudolf Höss) Sandra Hüller (Hedwig Höss) Johann Karthaus (Claus Höss) Luis Noah Witte (Hans Höss) Nele Ahrensmeier (Inge-Brigit Höss) Lilli Falk (Heidetraud Höss) Julia Polaczek (Aleksandra Bystroń-Kołodziejczyk) Imogen Kogge (Linna Hensel) Medusa Knopf (Elfryda) Zuzanna Kobiela (Aniela) Martyna Poznańska (Marta) Stephanie Petrowitz (Sophie) |
Drehbuch | Jonathan Glazer |
Vorlage | basiert auf dem gleichnamigen Roman von Martin Amis |
Kamera | Łukasz Żal |
Musik | Mica Levi |
Schnitt | Paul Watts |
Filmlänge | 106 Minuten |
FSK | ab 12 Jahren |
Chefredakteur
Kann bei ZURÜCK IN DIE ZUKUNFT mitsprechen / Liebt das Kino, aber nicht die Gäste / Hat seinen moralischen Kompass von Jean-Luc Picard erhalten / Soundtracks auf Vinyl-Sammler / Stellt sich gern die Regale mit Filmen voll und rahmt nur noch seine Filmposter