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The Wicker Man (1974) – Filmkritik

„Mehr Sein als Schein“

Als ich die Liste der besten Horrorfilme der 1970er-Jahre der Kollegen Stefan & Stefan durchgelesen hatte, wusste ich, dass ich kaum auf mir bekannte Titel stoßen werde. Das Horrorfilm-Genre wird sträflich von mir vernachlässigt. Ich ängstige mich ungern und es ist mir immer noch ein Rätsel, wie tausende Zuschauer die dunklen Säle aufsuchen, um sich in Grund und Boden schrecken zu lassen.

Die Blu-ray von © Studiocanal

Aber ich zolle den Schöpfern und Genies dieser Genre-Spielart auf jeden Fall meinen Respekt, denn auch sie haben die Welt der Filmerlebnisse vorangebracht. Zu besagter Liste: Am interessantesten klang für mich ein Streifen, der so gar nicht zu den anderen Horrorfilmen passte. Kein Psychopath oder etwas Übernatürliches wurde genannt. Man sprach von einer verrückten, schottischen Sekte und jeder Menge Gesang. Ein tolles Blu-ray-Cover hat meinen Wunsch nach diesem Film endgültig manifestiert und im Zuge unseres #Horroctober legte ich, Zitat von der Blu-ray-Rückseite, „Den CITIZEN KANE des Horrorfilms“ ein: THE WICKER MAN.

THE WICKER MAN (1973)
© Studiocanal

Handlung

Es beginnt schon fast wie in einem guten MONTY-PYTHON-Sketch: Ein viel zu akkurater Polizist steigt aus seinem Wasserflugzeug und diskutiert mit dem jungen Hilfssheriff über Schein und Sein. Aber schnell wird klar, dass Sergeant Neil Howie (Edward Woodward) bis ins Mark ein linientreuer Polizist und bibeltreuer Mann ist. Ihn erreicht ein anonymer Brief, in dem er gebeten wird, auf einer abgelegenen schottischen Insel das schon seit Wochen verschwundene 12-jährige Mädchen Rowan Morrison zu finden. Als Ritter in Not besteigt er sogleich seinen Flieger und landet am dörflichen Hafen von Summerisle. Ein herzhafter Empfang sieht anders aus und der Hafenmeister als auch die Schaulustigen wollen das Mädchen auf der Fotografie, was dem Umschlag beiliegt, nicht erkennen. Aber Neil Howie gibt nicht so leicht auf und beschließt in der Ortsspelunke zu nächtigen und dem doch recht schrägen Verhalten der Dorfbewohner nachzugehen. Vor allem das unzüchtige Verhalten, der offene Umgang mit Sex und die verhaltenen Informationen kehren den christlichen Missionar in ihm hraus.

THE WICKER MAN (1973)
Neil Howie (Edward Woodward) schlägt zu // © Studiocanal

Eine Insel voller Verrückter

Zugegeben, die doch sehr schlechte Qualität des Materials und dementsprechend das Bild der Blu-ray rauben in den ersten Minuten sehr die Ernsthaftigkeit des Films. Trotz 35-mm-Produktionsmaterial kommt es kaum mit dem Mastering von DER CLOU aus demselben Entstehungsjahr mit. Aber wenn man mit dem Sergeant die ersten Dorfbewohner interviewt, vergisst man die marode Bildauflösung und steht mit beiden Füßen auf der schottischen Insel. Wie hat das der Regisseur Robin Hardy nur geschafft? Vor allem mit Hilfe der wirklich schrägen Dorfbewohner, die scheinbar alle etwas zu verbergen haben und nicht ganz richtig im Oberstübchen sind, wird man in die geheimnisvolle Geschichte gezogen. Und dann beginnt der Gesang. Ja, es wird wirklich sehr viel in THE WICKER MAN gesungen und das auch noch in wunderschöner schottischer Volksliedkunst. Über die sexuelle Deutung des Textes lassen wir uns mal nicht aus, aber es ist klar, warum unser keuscher Polizist immer recht schnell das Weite sucht, wenn jemand zu singen beginnt. Alte Bräuche und nordische Götter spinnen die Geschichte immer weiter zusammen, bis man völlig im Wahn zwischen Sekte und mythischer Religion gefangen ist.

THE WICKER MAN (1973)
© Studiocanal

Gruselig wird es jedoch zu keinem Zeitpunkt, eher ein bisschen paranoid und unnahbar. Im letzten Drittel ist man der Handlung völlig ausgeliefert und fragt sich, wo sie hinführen wird. Parallelen zu dem noch jungen MIDSOMMAR sind kaum von der Hand zu weisen, jedoch trägt THE WICKER MAN eher einen Konflikt auf dem Religionslevel aus als die Auseinandersetzung mit Zuschauer und Filmfiguren zu führen. Religion spielt in meinem Leben keine Rolle, aber das Rätsel um das vermisste Mädchen wollte ich dennoch lösen. Es werden immer wieder kleine Hinweise gelegt, damit man seine eigene Verschwörungstheorie zusammenspinnen kann und hier war ich völlig dabei.

THE WICKER MAN bietet auch extrem viel Deutungspotential. Vor allem der damalige gesellschaftliche Wechsel wird mit Anspielungen versehen. Verkörpert der Polizist Howie die alte, gottesfürchtige Mittelschicht, die so gar nicht mit der Hippiekultur der jungen Leute und deren offenen Umgang mit Sexualität zurechtkommt? Oder befinden wir uns in einem wiederkehrenden Wechsel zwischen den Religionen und einem Wiederbeleben alter Bräuche und Riten?

THE WICKER MAN (1973)
Lord Summerisle (Christopher Lee) // © Studiocanal

Darsteller

Neben dem hörenswerten Soundtrack – prüde englische Muttersprachler sollten jedoch nicht in Hörweite sein – sind die präsenten Schauspieler in THE WICKER MAN nicht von der Hand zu weisen. Der Hauptdarsteller Edward Woodward ist eher ein Theater- und Serienschauspieler (THE EQUALIZER). Interessant ist, dass er über ein Dutzend Musikalben vorzuweisen hat, aber hier keine einzige Note singt. Das Oberhaupt der Insel ist Lord Summerisle und wird von der Schauspiellegende Christopher Lee verkörpert. Lee hat eine großartige Stimme, ein Darsteller alter Schule eben. Ein Hingucker ist die „Tochter des Wirts“ Willow, gespielt von Britt Ekland. Nicht nur, dass sie als Dorfschönheit ein steter Hauch von „leicht zu haben“ umweht sondern auch ein gewisses Tanzritual in ihren eigenen vier Wänden wird Mann nicht vergessen. Richtig interessant ist, dass Christopher Lee und Britt Ekland sich nur ein Jahr später bei einem Dreh wieder begegnen. Aber dieses Mal mit einem Millionen-Budget: JAMES BOND: DER MANN MIT DEM GOLDENEN COLT (1974). Wer hat hier wohl wen empfohlen?

THE WICKER MAN (1973)
Willow (Britt Ekland) // © Studiocanal

Fazit

THE WICKER MAN entzieht sich einer Wertung wie ein schottischer Aal. Auf jeden Fall für jene, die der aktuelle MIDSOMMAR stark mitgenommen hat und die nun auf Spurensuche sind, sei ein Blick empfohlen. So richtig wird THE WICKER MAN seine Kraft entfalten, wenn man im Fernsehprogramm um 23 Uhr darüber stolpert, ihn mit starren Augen zu Ende schaut und sich am nächsten Morgen fragt, ob alles nur ein Traum war.

© Christoph Müller

Titel, Cast und CrewThe Wicker Man (1973)
PosterDie besten Horrorfilme der 1970er Jahre
ReleaseSeit dem 20.07.2017 auf Blu-ray (OmU)

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RegisseurRobin Hardy
Trailer
BesetzungEdward Woodward (Sergeant Howie)
Christopher Lee (Lord Summerisle)
Diane Cilento (Miss Rose)
Britt Ekland (Willow)
Ingrid Pitt (Librarian)
Lindsay Kemp (Alder MacGreagor)
Russell Waters (Harbour Master)
Aubrey Morris (Old Gardener / Gravedigger)
DrehbuchAnthony Shaffer
KameraHarry Waxman
MusikPaul Giovanni
SchnittEric Boyd-Perkins
Filmlänge88 Minuten
FSKab 16 Jahren

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