Die Regeln für Elisabeth sind klar: „You activate only once. You stabilize every day. You switch every seven days.“ Ebenso klar ist, dass sie alle brechen wird. Die alternde Schönheit wird jede Grenze überschreiten, um ihre Zeit als umjubelter und bewunderter Star immer weiter auszudehnen.
Coralie Fargeats zweite Drehbuch- und Regiearbeit nach dem eher schlichten REVENGE (2017) ist eine Jekyll-&-Hyde-Geschichte. Das kann man getrost verraten, denn der Film hält damit nicht lang hinter dem Berg, und auch den Figuren ist das von Anfang an bewusst. „Remember: You are one.“, warnt der Hersteller des Körperwechsel-Wundermittels immer wieder. Spannend ist die erste Anwendung aber trotzdem: Was genau ist geschehen?
Demi Moore hat mit THE SUBSTANCE in Cannes für Furore gesorgt, nachdem sie lange in der Versenkung verschwunden war. Mit GHOST – NACHRICHT VON SAM gelang ihr 1990 an der Seite von Patrick Swayze der Schritt vom Fernseh- zum Kinostar. In den 90ern spielte sie in EIN UNMORALISCHES ANGEBOT, ENTHÜLLUNG und STRIPTEASE – alles große Filme, aber die Titel sprechen für sich: Das Heischen nach Aufmerksamkeit, das Spekulieren auf einen Skandal dürfte für ihre Rollenauswahl nicht ohne Belang gewesen sein. Auch G.I. JANE fällt in diese Kategorie. Danach verschwand sie so langsam aus dem Rampenlicht, 2003 war sie noch CHARLIE’S ANGELS: FULL THROTTLE und 2011 in MARGIN CALL zu sehen. Berichtet wurde in dieser Zeit eher über den Altersunterschied zu ihrem dritten Ehemann Ashton Kutcher (der ihr nicht unähnlich ebenfalls mehr auf Spektakel statt auf schauspielerische Höchstleistungen setzt).
Vor zwei Jahren tauchte Demi Moore kurz in der Nicolas-Cage-Satire MASSIVE TALENT auf. Nun spielt sie Elisabeth Sparkle – der Name verweist bereits deutlich auf den Wunsch, die Umgebung zu überstrahlen -, und das tut sie ohne jede Angst vor Hässlichkeit bis hin zum Monströsen. Es besitzt eine gewisse Ironie, dass Demi Moore mit ihrem schönheitsoperierten Körper eine Frau verkörpert, die mit dem Altern nicht umgehen kann.
Ein krasser Horrorfilm von einer Frau über eine Frau – das lässt natürlich an TITANE denken, den Überraschungssieger von Cannes 2021. Etwas gemein kann man THE SUBSTANCE eine Vulgär-Version von TITANE nennen, aber das ist ein unsinniger Vergleich. Die beiden Filme haben eigentlich nichts miteinander gemein und zielen in unterschiedliche Richtungen, insbesondere überrascht die Handlung von TITANE fortwährend und ist völlig unvorhersehbar. THE SUBSTANCE aber ist ein Genre-Film: Der Weg in den Abgrund ist vorgegeben. Die Frage ist, wie es geschehen wird.
THE SUBSTANCE ist echter body horror und erinnert in der Tat an die frühen Filme von David Cronenberg. Die Effekte sind sehr gut gemacht, handwerklich besser als damals bei Cronenberg (der deutlich weniger Budget zur Verfügung gehabt haben dürfte). Es fehlt aber deren intellektuelle Schärfe. Die Charaktere sind eindimensional, es gibt keine Irritationen oder Doppelbödigkeiten hinter dem Offensichtlichen. Hinweise, die einmal genügen würden – ein prägnanter Satz, ein ungewöhnliches Muttermal -, werden gleich drei-, vier-, fünfmal wiederholt. Es ist schade, dass die Regisseurin dem Publikum nicht stärker vertraut und so sehr mit dem Holzhammer arbeitet, aber das kann sich in ihren künftigen Filmen ja noch ändern.
Wir scheinen uns in den 90er-, eher in den 80er-Jahren zu befinden. Es gibt keine Smartphones oder Laptops, tatsächlich sogar keine Handys oder Computer. Elisabeth Sparkle ist berühmt für eine Aerobic-Sendung im Fernsehen. Die Menschen lesen gedruckte Zeitungen mit Casting-Aufrufen darin. Der Flur im Studio und der Produzent, der darin herumläuft, scheinen sogar aus den 70ern zu sein. Die Bilder sind betont künstlich, die Figuren, auch Elisabeths unbeholfener Verehrer, gnadenlos überzeichnet. Harvey, der Fernsehproduzent, ist reine Karikatur. Dennis Quaid spielt ihn, auch seine großen Erfolge liegen schon einige Zeit zurück.
Atmosphärischer ist der Weg, den Elisabeth zurücklegen muss, um an das Produkt ihrer Wünsche zu gelangen, inklusive eines Rollladens, der nur halb hochfährt. Eine schöne Idee sind auch die riesigen Zwischentitel mit den Namen der Personen: „Elisabeth“, „Sue“ und noch ein dritter. So wie Elisabeth auf den Beipackzetteln bloß „matrix“ genannt wird, ist Sue nämlich „the other one“ – die neue junge Schönheit, der alle zu Füßen liegen.
Margaret Qualley, die Tochter von Andie MacDowell, ist Sue und spielt die anderen gegen die Wand. 2016 machte sie erstmals auf sich aufmerksam, in einem Werbespot von Spike Jonze, eine Parodie auf dessen eigenes Musikvideo zu „Weapon of Choice“ von Fatboy Slim mit einem tanzenden und fliegenden Christopher Walken. Es folgten Nebenrollen in ONCE UPON A TIME IN… HOLLYWOOD (2019) von Quentin Tarantino, JEAN SEBERG – AGAINST ALL ENEMIES (2019) sowie POOR THINGS (2023) von Yorgos Lanthimos. Vor Kurzem konnte sie in KINDS OF KINDNESS ebenfalls von Yorgos Lanthimos ihre Fähigkeiten in gleich vier Rollen zeigen, und in THE SUBSTANCE gelingt es ihr als Einziger, die Karikatur schauspielerisch aufzuwerten. Ihr ständig halboffener Mund, ihr Rehblick und dann ihre entschlossenen Bewegungen sind so auf den Punkt, dass sie Sue geradezu zu einer Idealvorstellung transzendieren lässt.
Nicht nur bei Sue, sondern bei allen Figuren arbeitet der Kameramann Benjamin Kracun (PROMISING YOUNG WOMAN) mit vielen Close-Ups, oft auch gewollt unangenehm oder sozusagen „pornomäßig“. Die Horrorbilder sind eigentlich kein Splatter bis auf eine unpassende Gewaltszene spät im Film, im Finale werden CARRIE und THE SHINING zitiert. Der Film findet bei einer Länge von 140 Minuten allerdings nicht so recht ein Ende.
Man merkt relativ schnell, dass der Film nicht völlig überzeugen kann; dafür ist alles zu überzogen und auch schlicht. Realismus würde einen tiefer treffen, war aber offensichtlich nicht die Absicht. Coralie Fargeat wollte sich wohl austoben in Zerrbildern weiblicher Schönheit und Jugend. Elisabeth und Sue haben keine Erinnerung, was die jeweils Andere getan hat. Anfangs versuchen sie noch zusammenzuarbeiten und verstehen dankenswerterweise ihre Situation sofort ohne irgendwelche Missverständnisse, die man schon in hundert anderen Jekyll-&-Hyde-Filmen gesehen hat. Zusehends können sie einander aber immer weniger leiden, worin letztendlich Selbsthass sichtbar wird.
Bei einigen Szenen hätte man sich aber doch ein wenig mehr Realismus gewünscht. Sue ist aus dem Nichts eine Meisterhandwerkerin, Elisabeth hat bei einem spontanen Koch-Exzess alle ausgefallenen Fleischgerichte in der Küche herumstehen, bei der mysteriösen Firma geht zu jeder Tages- und Nachtzeit dieselbe Person ans Telefon. Das klingt jetzt vielleicht ein bisschen haarspalterisch, stört aber die Illusion beim Ansehen. Auch die Sequenzen, in denen Wirklichkeit und Vorstellung verschwimmen, sind mal mehr, mal weniger gelungen. Gut ist der Moment, in dem sich die Dusche (der Film hat sehr viele Duschszenen) in eine Zelle verwandelt.
Die am wenigsten überdrehte Szene ist dann auch ein Höhepunkt des Films. Elisabeth will zu einem Date gehen und zieht schon ein etwas zu rotes und zu kurzes Kleid an. Der Schritt durch die Wohnungstür ist ihr aber nicht möglich, weil sie ständig die perfekte Sue vor Augen hat. Immer wieder kehrt sie zurück ins Badezimmer. Erst trägt sie nur ein wenig verführerischen Glanz auf den Lippenstift auf, dann legt sie schon zu viel Schminke nach, schließlich schmiert sie alles wieder vom Gesicht, um neu anzufangen. Auch hier weiß man, wie es enden wird.
Synecdoche New York, Los amantes del Círculo Polar, Melancholia, La mala educación, Underground, Grand Budapest Hotel – noch Fragen?