„Eine Naturgewalt“
Der Western ist ein Genre, welches sehr harten Regeln unterliegt. Die zeitliche Epoche ist definiert, ein paar Schüsse aus dem Revolver müssen erklingen und ein Kampf zwischen Held und Bösewicht muss die Geschichte auch enthalten. Aber der Western ist ein störrischer Gaul und hält sich schon lange nicht mehr an seine eigenen Regeln. Vor allem Clint Eastwood hat kräftig an den Genre-Konventionen gerüttelt. Aber wer hätte gedacht, dass im Jahr 2019 ein Franzose mit seinem Film und dem verqueren Titel THE SISTERS BROTHERS dieser angestaubten Sparte ein paar neue Lichtblicke entlockt? Dies liegt nicht nur an der ausgezeichneten männlichen Besetzung, sondern auch an dem ungewöhnlichen Drehbuch sowie dessen Inszenierung durch Jacques Audiard (DER GESCHMACK VON ROST UND KNOCHEN, DER PROPHET).
Handlung
Charlie (Joaquin Phoenix) und Eli (John C. Reilly) Sisters sind Kopfgeldjäger, aber nicht im herkömmlichen Sinne, die Schurken auf Steckbriefen für die Regierung aufzuspüren, sondern sie haben nur einen Boss: Den Commodore (Rutger Hauer). Ja, man könnte sagen sie sind Auftragskiller mit präzisen Schießkünsten und extrem schwierig im Gefecht zu verwunden. Der Ruf von kaltblütigen Mördern mit Alkoholsucht eilt ihnen voraus und das nicht gänzlich zu Unrecht. Sie erhalten den Auftrag John Morris (Jake Gyllenhaal) zu treffen, der einem gewissen Hermann Kermit Warm (Riz Ahmet) auf der Spur ist. Warm soll eine Möglichkeit gefunden haben, Gold in Flüssen ohne mühevolles Schürfen sichtbar zu machen. Bei der Aussicht auf jede Menge Edelmetall, kann man die eigenen Loyalitäten doch gern noch einmal überdenken.
An der Grenze und darüber hinaus
THE SISTERS BROTHERS ist zu Beginn ein Western wie man ihn kennt. Gleich das erste Feuergefecht wird nach dem Intro geboten, jedoch sieht man kaum etwas, es ist stockfinstere Nacht und nur die Mündungsfeuer sind zu erkennen. Schon einmal aufgefallen, dass die meisten Schießereien in Western am helllichten Tag stattfinden? Bei den Gebrüder Sisters wird nicht lange gefragt, sondern geschossen. Aber schon allein durch den ungewöhnlichen echten Klang der Schüsse merkt man bereits: Dies wird kein üblicher Vertreter seiner Zunft.
Vor allem zwei Figuren brechen die üblichen Konventionen: Morris und Warm. Jake Gyllenhaal (DIE KUNST DES TOTEN MANNES, STRONGER) holt wieder eine neue Persönlichkeit aus seiner Zauberkiste und findet darin einen wortreichen, schon fast dandyhaften Cowboy. Riz Ahment (ROGUE ONE) reist spartanisch durch den Westen und will nicht nur reich werden, sondern ebenfalls die Gesellschaft reformieren und von der Gier befreien. Zwei Figuren, die es so noch gar nicht in diesem Genre gegeben hat. Die Sisters-Brüder verkörpern bekannte Rollen: Der gewalttätige Vater in ihrer Vergangenheit, der Zusammenhalt durch das gleiche Blut und das eiskalte Töten sind bereits bekannte Eigenschaften. Erst wenn sie auf Morris und Warm treffen, geschieht etwas mit ihnen. Hier hätte auch jeder andere Western sein Ende gefunden. Nicht jedoch THE SISTERS BROTHER, der die Geschichte weiterentwickelt, um sie dann doch noch einmal in eine völlig andere Richtung zu treiben.
Inszenierung
Regisseur Jaques Audiard liefert hier keine ausufernden Landschaftsaufnahmen, spannungsgeladenen Duelle oder beeindruckenden Schießkünste. Bei THE SISTERS BROTHERS geschieht alles im Galopp nur so nebenbei. Wichtig sind die Dialoge zwischen den Figuren, die witzig wie auch tiefsinnig sind. Vor allem die Figur von John C. Reilly tut man zu Beginn als naiven, dummen Sidekick ab, wird aber damit an der Nase herumgeführt. Auch wenn die visuellen Effekte in Form von Blut, Landschaften oder animierten Tieren sich nicht wirklich auf der höchsten Qualitätsstufe befinden, ist der Film an Realitätsnähe kaum zu überbieten. Die Kamera ist immer in Bewegung und bei der Jagd dicht dabei. Der Schnitt erlaubt sich ein paar harte Cuts, nur um uns dann wieder einen wunderschönen Zeitverlauf zu präsentieren. Die Filmmusik von Alexandre Desplat ist für ihn ungewöhnlich schrill, findet aber emotionale Tiefe in der schönsten Szene im Film: Wenn die „Jungs“ einen Staudamm bauen. Dies sind alles herausragende künstlerische Handwerke, vereint in einem Western.
Fazit
Unglaublich, wie viel Substanz in diesem Film steckt: Von der aufgezwungenen Männerrolle über die Gier der Reichen bis hin zu dem Wunsch nach einem freien Leben kann THE SISTERS BROTHERS alles bieten. Seit langem gab es keinen Western mehr, der so vielfältig und sicher mit dem eigenen Genre umzugehen weiß und dennoch die Grenzen hinter sich lässt. Die Brüder Sisters sind wie die Kinder des Western Genre: Aufmüpfig, unsterblich, nicht aufzuhalten und immer nah an der Schönheit des Augenblicks, auch wenn dieser „nur“ ein warmer Windhauch durch das Fenster der eigenen Kindheit ist. Unbedingt ansehen!
Chefredakteur
Kann bei ZURÜCK IN DIE ZUKUNFT mitsprechen / Liebt das Kino, aber nicht die Gäste / Hat seinen moralischen Kompass von Jean-Luc Picard erhalten / Soundtracks auf Vinyl-Sammler / Stellt sich gern die Regale mit Filmen voll und rahmt nur noch seine Filmposter