„Bravouröses Blutmahl“
Essen ist eine existenzielle Grundlage, denn wer nicht ausreichend Nahrung zu sich nimmt, stirbt. Im Laufe der Menschheitsgeschichte wurde die lebenserhaltende Zubereitung von Mahlzeiten einer Köchin oder einem Koch anvertraut. Die Gesundheit des Speisenden liegt also unweigerlich in den Händen eines Fremden. Es ist eine fast göttliche Machtstellung, die das Leben verlängert, aber auch nehmen kann. Mit diesen Gedanken sind wir darauf eingestellt, welcher Abend uns mit dem fantastischen Ralph Fiennes und einem der besten Kinofilme des Jahres 2022 geboten wird. THE MENU ist serviert.
Handlung
Exklusivität bekommt durch das Sterne-Restaurant Hawthorne (zu Deutsch Weißdorn) ein neues Level: Es werden nur 12 erlesene Gäste, meist Prominente und Millionäre, mit einem Schiff auf eine entlegene 12 Hektar große Insel gefahren. Dort lebt der Chefkoch Slowik (Ralph Finnes) mit seinen Angestellten und er betreibt, nein zelebriert, ein Restaurant. Sämtliche Zutaten stammen von der Insel, werden dort selbst angebaut oder gezüchtet und jeden Abend zu einem einzigartigen Degustationsmenü in der offenen Küche zubereitet. Neben einer endlosen Warteliste kostet der Abend pro Person 1.250 Dollar. Gourmet Tyler (Nicholas Hoult) hat einen Platz ergattert und lädt seine Begleitung Margot (Anya Taylor-Joy) ins Hawthorne ein. Mit Milliardären, Managern, Prominenten und Restaurantkritikern nehmen sie ihre Plätze ein. Es soll ein unvergesslicher Abend werden, es wird aber viel mehr ein existenzielles Erlebnis.
Amuse-Bouche
Dank kleiner Gaumenfreuden regt sich der Appetit in THE MENU bereits in den ersten Minuten. Die Charaktere werden serviert. Zu Beginn liegt der Fokus auf dem jungen Paar Tyler und Margot, aber auch andere Gäste lassen vielversprechende Biografien und vor allem Geheimnisse erahnen. Die Inszenierung der Bilder ist klassisch aufgestellt, fast ein bisschen langweilig, aber dies soll uns auffordern, noch genauer hinzusehen und hinzuhören, denn wir können die edlen Speisen leider nicht kosten. Die Kreationen wurden übrigens von der mit drei Michelin-Sternen ausgezeichneten, französischen Chefköchin Dominique Crenn (in Zusammenarbeit mit Feinbäcker Juan Contreras & Food-Stylist Kendall Gensler) entworfen. Wir Zuschauer müssen uns auf die Gäste verlassen, auf das was sie erzählen, schmecken und entdecken. Ein solches Einfühlungsvermögen in die Figuren ist einzigartig. Es wird Zeit für den ersten Gang.
First Course
Die Dekoration des ersten Gangs überragt die eigentliche Speise, was auch für die Entdeckung dieser, einem Kult ähnelnden, Inselbiosphäre gilt. Die Bewohner und der besondere Leiter dieser Institution werden hinterfragt. Mit militärischem Gehorsam – die Mannschaftquartiere deuten es an – und ehrfürchtiger Vergötterung folgen die Köche ihrem Meister Slowik. Was er sagt, gilt. Die Küche läuft wie eine präzise, geölte Maschine und die abgeschiedene Insel entwickelt stetig das Gefühl eines Gefängnisses als das von Abgeschiedenheit. Der Fels, der bei diesem Gang den größten Teil des Gerichts einnimmt, symbolisiert den Ort, an dem sich nun alle befinden. Es gibt keinen Weg zurück.
Second Course
Wo ist das Brot? Mit einem Witz beginnt der zweite Gang. Das Gericht ist harmonisch, es fehlt jedoch das Brot, um die kleinen Soßen und Dips zu essen. Es bleibt nur das Erschmecken mit einem kleinen Holzlöffel. Der erste große Hinweis ist gefallen: Was passiert, wenn man der oberen Einkommensschicht das Brot verwehrt. Das Grundnahrungsmittel bleibt in der Küche, die exquisiten Geschmäcker gelangen auf den Tisch. Reicht das zum Überleben? Selbst als die Gruppe junger Manager vehement nach Brot verlangt, lässt die Oberkellnerin Elsa (Hong Chau) sie abblitzen. Dieser Abend folgt den Regeln des Chefs. Die einzige Anomalie ist Margot, die nicht für den Abend geplant war und nur ein Ersatz ist. Sie stört das perfekte Dinner und somit auch das Drehbuch. Zum Glück, weil man sich als Publikum bei minutiös durchgeplanten Abläufen der Freiheit beraubt fühlt. Sicher, der Film ist gedreht und nicht veränderbar, aber das Gefühl, dass die Handlung einer gewissen Spontanität folgt, muss zumindest gewahrt werden. Dank Margot kommt die nötige Spannung von dieser Seite auf, quasi ein Gegenpol zur Perfektion dieses Abends.
Third Course
Es ist Taco Tuesday. Slowik verrät etwas aus seiner Vergangenheit, jetzt muss allen klar sein, dass sie in die Hände eines moralisch zweifelhaften Künstlers geraten sind. Die Tortillas sind für jeden Gast individuell bedruckt. Jede Sünde ist darin zu lesen. Es wird kein gemütlicher Dinner Abend, sondern das Jüngste Gericht. An diesem Punkt wollen wir die Handlung verlassen, denn die sollte jeder selbst im Kino erleben, aber ein paar Elemente müssen noch entdeckt werden.
Ralph Fiennes
Ohne den britischen Schauspieler wäre THE MENU nicht das, was es ist – ein Glanzstück. Fiennes zieht ab dem Moment, in dem er seine gastronomische Kathedrale betritt, unsere Aufmerksamkeit an sich. Die verehrenden Worte von Fanboy Tyler sind in dieser Szene gar nicht nötig. Die jahrzehntelange Vita aus Sonderlingen, die sich Fiennes in seinem Figurenkabinett zugelegt hat, schlägt in der Brust unter der Kochjacke. Die zornigen Augen eines Lord Voldemort (HARRY POTTER), der blutige Wille nach Perfektion eines Francis Dolarhyde (DER ROTE DRACHE) und die gebrochene Vergangenheit eines Justin Quayle (DER EWIGE GÄRTNER) verbergen sich im Küchenchef. Jede Szene mit ihm reißt er übermächtig an sich und selbst im Finale, wenn Margot ihm die Stirn bietet, bekommt auch diese Entwicklung seinen Segen.
Kochen und Filmen
Die Netflix Dokumentarserie CHEF’S TABLE (2015-) hat für das Gelingen von THE MENU den Weg geebnet. Der Blick hinter die Weltklasse-Restaurants, nicht nur auf die Gerichte, die sie berühmt gemacht haben, sondern auch auf die Schicksale, die die Chefköchinnen und Chefköche geprägt haben, bringt Komplexität ins Kochen als Kunsthandwerk. Es hat die einfache Aufgabe des „Sattmachens“ hinter sich gelassen und wird mit teuren Maschinen und Zutaten in atemberaubende Werke verwandelt. Wer noch nicht am CHEF’S TABLE sitzen durfte, dem sei es hiermit dringend an das hungrige Auge gelegt. Serienschöpfer David Gelb und Produzentin Chloe Weaver haben nicht nur das Subgenre des Foodporn geprägt, sondern auch bei THE MENU beratend zur Seite gestanden.
Es überrascht für diesen hervorragenden Satire-Thriller einen bisweilen noch unbekannten Regisseurnamen zu lesen: Mark Mylod. Er hat bis vor THE MENU lediglich bei den Serien SUCCESSION und GAME OF THRONES inszeniert. Filmhandwerk setzt sich aber aus vielen Kunsthandwerken zusammen und hier gibt es starke Unterstützung: Kameramann ist Peter Deming (MULHOLLAND DRIVE, THE CABIN IN THE WOODS). Für einen virtuosen und stetig ungemütlichen Score sorgt Jazzmusiker Colin Stetson (HEREDITARY). Die Montage ist Christopher Tellefsen (A QUIET PLACE, THE VILLAGE) zu verdanken. Herausragend ist auch das Szenenbild: Minimalistisch skandinavisch, aber punktuell exzentrisch zeigt Ethan Tobman, was es bedeutet mit fast nur einem Handlungsort immer wieder Einzigartiges zu zeigen und nie zu langweilen. Vor allem gefallen die Geheimnisse und dunklen Ecken, wie eine verschlossene Tür mit Fresken, die – wenn man es genau betrachtet – bis zum Ende verschlossen bleibt. Das Drehbuch, welches es 2020 auf die Blacklist der besten unverfilmten Ideen Hollywoods schaffte, stammt von Seth Reiss und Will Tracy. Beide noch ohne Kerben in Hollywood, aber mit dieser originellen Satire, die sich vielfältig als Gegenwartsspiegel interpretieren lässt, hinterlassen sie eine erste sehr tiefe. Das Projekt wurde durch die Produzenten Adam McKay (BOOKSMART, HUSTLERS) und sogar von Schauspieler Will Ferrell (STRANGER THAN FICTION, ANCHORMAN) mit dem nötigen finanziellen Lockstoff versehen.
Fazit
Ein spirituelles, kunstvolles Mahl für jeden Filmfeinschmecker. Gefangen in der Katharsis eines Chefkochs wird man THE MENU euphorisch verschlingen, aber schwer verdaulich im Magen liegen haben. Denn Hoffnung gibt es wenig an diesem Abend. Und das ist der einzige Aspekt, den man THE MENU vorwerfen kann, dass nur diejenigen Erlösung finden, die traditionelle Hausküche bevorzugen als jene, die zur Perfektion greifen.
Chefredakteur
Kann bei ZURÜCK IN DIE ZUKUNFT mitsprechen / Liebt das Kino, aber nicht die Gäste / Hat seinen moralischen Kompass von Jean-Luc Picard erhalten / Soundtracks auf Vinyl-Sammler / Stellt sich gern die Regale mit Filmen voll und rahmt nur noch seine Filmposter