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The Eyes Of My Mother (2016) – Filmkritik

Schon bei DARLING (2015) hatte ich geschrieben, es sei kein leichter Film, so kann, nein muss ich es bei THE EYES OF MY MOTHER wiederholen: Kein Popcorn-Kino, kein Film für Zwischendurch und beileibe kein Film wie jeder andere. Eine Kategorisierung fällt ebenso schwer, denn er ist nicht wirklich ein Horrorfilm im herkömmlichen Sinne. Es ist fast unmöglich, dieses kleine Biest in eine Schublade zu stecken. Nicolas Pesces erster Spielfilm ist ein bizarres Gothic-Drama-Gemälde, das weit über jede Kategorisierung hinaus geht. Bei weitem keine Achterbahnfahrt des Grauens oder eine nette, kleine Geisterbahnfahrt. Nein, hier erwartet uns eine Reise in den dunkelsten Winkel der menschlichen Seele, ohne Rückfahrt-Ticket. Unglaubliche Bilder und Momente explodieren regelrecht auf der Netzhaut des Rezipienten, um sich für immer tief in sein Gehirn zu brennen.

Inhalt

Die kleine Francisca (Olivia Bond) lebt mit ihren Eltern weit außerhalb der Stadt, zurückgezogen in einem kleinen Häuschen. Franciscas Mutter (Diana Agostini) war einstmals Chirurgin in ihrem Heimatland Portugal. Nun lehrt sie ihrer Tochter alles, was sie über ihr Handwerk weiß. Praktische medizinische Übungen finden an toten Kühen in der Küche statt. Eines Tages, der Vater (Paul Nazak) ist außer Haus, kommt ein gewisser Charlie (Will Brill) auf den Hof. Nach einem kurzen Gespräch bittet er darum, das WC benutzen zu dürfen. Als der Vater schließlich nach Hause kommt, findet er die verängstigte Francisca in der Küche vor, während Charlie im Badezimmer noch immer auf die schon längst tote Mutter einschlägt. Doch dass ist erst der Anfang dieser Geschichte.

© Bildstörung

„Es fühlt sich unglaublich gut an.“

Regisseur und Drehbuchautor Nicolas Pesce wird öfters vorgeworfen, abartige Brutalitäten in THE EYES OF MY MOTHER aneinander zu reihen, ohne jeden Sinn. Wenn man den Film lediglich als normalen Horrorfilm konsumiert, dann können die teilweise sehr heftigen Szenen durchaus diesen Eindruck erwecken. Zum einen ist es kein normaler Horrorfilm, zum anderen sollte man sich die Mühe machen und tiefer in den Plot eintauchen. Beleuchtet man diese seltsame Familie ausführlicher, dann entfaltet sich das ganze Grauen wie eine Blume der Finsternis vor den Augen des Betrachters. Die Schönheit des Schreckens in seiner Reinform und man erkennt, dass die ganze Gewalt der Protagonistin nur eine Form der Angst vor der absoluten Einsamkeit darstellt, die Angst vor dem Vergessen werden.

© Bildstörung

Thorsten Hanisch hat in dem beiliegenden Booklet der Bildstörung-Edition zum Film ausführlich darauf hingewiesen, dass wir es hier mehr oder weniger mit einer neuen Art von abstraktem FRANKENSTEIN zu tun haben und ich kann ihm da nur zustimmen. Denn Francisca ist nur ein Produkt ihrer Umwelt, ihrer Eltern und dem Grauen, dass sie seit ihrer Geburt umgibt. Die Gewalt mündet schließlich in einer verzweifelten Suche nach Liebe bzw. Zuneigung und bringt sie in die Nähe eines Frank Zito aus MANIAC (1980). Auf ihrer Jagd nach Nähe mordet sie, wenn nötig, weil ihr das Werkzeug der Kommunikation nur eingeschränkt gegeben wurde und sie eine Ablehnung nicht duldet. Zudem ist ihr der Aufbau einer Beziehung und das formulieren und interpretieren von Emotionen und Gesten vollkommen fremd. Der einzige Gefühlsausbruch innerhalb der skurrilen Familie fand statt, als Vater und Tochter im Wohnzimmer gemeinsam tanzten.

© Bildstörung

Beeindruckend sind auch die beiden Stars des Films, allen voran Olivia Bond, die die junge Francisca spielt und Kika Magalhaes, die Francisca etwas später als junge Frau darstellt. Während Olivia Bond mit einer Abgeklärtheit und einer unglaublichen, fast schon dämonischen Ruhe die komplexe Rolle spielt, umweht Magalhaes Auftritt etwas ganz anderes. Zwar geht auch von ihr diese stille Bosheit aus, die schon Olivia Bond vorzüglich darstellte, eine Aura der Gefahr. Doch Magalhaes Spiel scheint einfach nicht von dieser Welt zu sein, wenn sie vor der Kamera auftaucht. Ihr Gesicht zeigt keinerlei Emotionen, egal was gerade von ihr verlangt wird. Lediglich beim Gedanken an die verstorbene Mutter brechen für Sekunden menschliche Gefühle aus ihr heraus, die fast wie ein Fremdkörper an ihr wirken.

„Du bist mein einziger Freund“.

Die teilweise gemäldeartigen Aufnahmen in konsequenten Schwarz und Weiß unterstützen den alptraumhaften und morbiden Eindruck, den der Film hinterlässt. Besonders beeindruckend sind die Szenen, die in Draufsicht gedreht worden sind, gerade so, als wenn eine böse Gottheit die Kamera für einen Moment übernommen hätte. So wie einst Alfred Hitchcock in PSYCHO (PSYCHO, 1960) oder Robert Aldrich in WIEGENLIED FÜR EINE LEICHE (HUSH… HUSH, SWEET CHARLOTTE, 1964) mit dieser Technik beeindruckten, so zeigen uns Pesce und sein überragender Kameramann Zach Kuperstein hier ihr ganzes Können. Aber sie kopieren nicht einfach nur die Technik der Altmeister, sondern bringen ganz neue und sehr faszinierende Momente mit ein. Sie entwickeln diese Technik, dank modernstem Equipment, kongenial weiter.

© Bildstörung

Zusätzlich zu den komplexen und ausdrucksstarken Bildern kommt, dass der Film unglaublich leise ist, so das selbst das kleinste Geräusch umso stärker an unsere Ohren dringt. Egal, ob es sich um das Knarzen der Dielen handelt, das Rascheln von Stoff oder das Eindringen eines Messers in einen lebenden, atmenden Körper. Bewusst wurde von Pesce darauf verzichtet, die geballte Ladung Gewalt darzustellen. Stattdessen verstärkte er die Bemühungen, einen möglichst echten und realistischen Ton einzufangen. Dass die Morde außerhalb der Kamera geschehen, hat eine lange Tradition, bis in die frühen 1920er Jahre zurück. Damals wurden solch dramatischen Momente mit lauter, schockierender Orchestermusik unterlegt. Hier bekommt der Zuschauer jedoch zusätzlich zu seinen eigenen Bildern im Kopf, eine solch unglaubliche Soundkulisse, dass einem angst und bange wird. Dazu passend hält sich der sparsame Score von Ariel Loh im Hintergrund.

Auf Nachfrage zu der einzigen BONANZA-Folge, die in Dauerschleife im Wohnzimmer von Franciscas Eltern läuft, meinte Regisseur Pesce, dass sein Großvater auch immer BONANZA gesehen hatte. Jedoch hat diese kurze Szene, die wir dort sehen und hören eine weitere Funktion. Denn sie unterstreicht wichtige Momente des Films, also genau zuhören. Als wäre all die Gewalt noch nicht genug, klingen in einigen Szenen des Films Nekrophile und kannibalistische Töne an. Zum einen beim Zerstückeln eines Opfers und anschließendem Verpacken in Folie für den Kühlschrank, zum anderen beim Aufbewahren des toten Vaters über eine längere Zeit im Haus. Man fühlt sich sofort an Hitchcocks PSYCHO oder gar an Joe D‘Amatos SADO – STOSS DAS TOR ZUR HÖLLE AUF (BUIO OMEGA, 1979) erinnert.

Fazit

Es gibt noch viel mehr über den Film zu schreiben, doch das würde gleichzeitig wichtige Elemente der Handlung vorwegnehmen. THE EYES OF MY MOTHER ist ein Film gewordenes Gemälde, ein Porträt des Grauens und der Finsternis, die in uns allen herrscht. Eines ist gewiss, die Hauptfigur Francisca zeigt, wie wenig es braucht, um diese Finsternis in uns selbst zu befreien. Noch ein kleiner Tipp: Nicolas Pesces zweiter Film PIERCING (2018) ist ebenfalls einen längeren, nachdenklichen Blick wert.

© Stefan F.

Titel, Cast und CrewThe Eyes Of My Mother (2016)
Poster
Releaseab dem 01.09.2017 auf Blu-ray

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RegisseurNicolas Pesce
Trailer
BesetzungDiana Agostini (Mother)
Olivia Bond (Young Francisca)
Will Brill (Charlie)
Joey Curtis-Green (Antonio)
Flora Diaz (Lucy)
Kika Magalhaes (Francisca)
DrehbuchNicolas Pesce
KameraZach Kuperstein
MusikAriel Loh
SchnittNicolas Pesce
Connor Sullivan
Filmlänge76 Minuten
FSKab 16 Jahren

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