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The End (2024) – Filmkritik

Alle Menschen sind tot, außer wir sechs. Wir leben im Bunker. Da flüchtet sich eine Fremde zu uns, sollen wir sie umbringen? Zeit zu singen und zu tanzen!

Ja, THE END setzt den aktuellen Trend klassischer (WICKED (2024)) und ungewöhnlicher (EMILIA PEREZ (2024), DAS LICHT (2025)) Musicals fort. Dieser Film fällt eindeutig in die zweite Kategorie. Ein reiches Ehepaar hat sich mit ein paar Bediensteten rechtzeitig vor dem Zusammenbruch der menschlichen Zivilisation in ein ehemaliges Salzbergwerk zurückgezogen und inszeniert dort den biederen Alltag, aus dem alle Beteiligten aber immer wieder in Gesangseinlagen ausbrechen.

© MUBI

Inszeniert hat diese Groteske Joshua Oppenheimer – es handelt sich um sein Spielfilmdebut, nachdem er bislang durch hammerharte Dokumentarfilme aufgefallen ist. Freilich: THE ACT OF KILLING (2012), in dem gealterte politische Massenmörder bereitwillig ihre Verbrechen nachstellen, war in Teilen bereits große Oper. So ist es eigentlich wenig verwunderlich, dass sein erster Spielfilm nun ein Musical ist. Und das meint er keineswegs satirisch. Wir sehen eine grandiose Hommage an die alten Musicals, Inszenierung und Choreographie können es handwerklich durchaus mit ihnen aufnehmen. Die Lieder decken die ganze Bandbreite ab von kurzen Einsätzen ohne Text bis hin zum überbordenden Orchester. (Das hat THE END mit EMILIA PEREZ gemeinsam; hier bleibt die Musik jedoch immer ganz klassisch.) Nur etwas fällt aus dem Rahmen: Die Schauspieler singen durchweg selbst, und zwar mit dünnen Stimmen. Das erinnert – keineswegs zufällig – an DIE REGENSCHIRME VON CHERBOURG (1964) von Jaques Demy, dazu später mehr.

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An die riesigen Höhlen des Bergwerks schmiegt sich in direktem Übergang eine großbürgerliche Wohnung, im gediegenen Prunk (zu) reicher Menschen eingerichtet. Hier leben die letzten Menschen. Der Kameramann Mikhail Krichman (LEVIATHAN (2014)) nutzt den spektakulären Drehort und die verschwenderische Ausstattung sowohl als Rahmen für aufwändige Tanzszenen als auch für Bilder der Enge und Einsamkeit.

Auch das Ensemble, das Oppenheimer versammelt hat, ist bemerkenswert. Das Ehepaar spielen Tilda Swinton (ORLANDO (1992), ONLY LOVERS LEFT ALIVE (2013), THE ROOM NEXT DOOR (2024)), die THE END auch coproduziert hat, und Michael Shannon (TÖDLICHE ENTSCHEIDUNG / BEFORE THE DEVIL KNOWS YOU’RE DEAD (2007). TAKE SHELTER (2011), THE SHAPE OF WATER (2017)), hier nun erstmals nicht mehr graumeliert, sondern alt. Beide muss man niemandem mehr vorstellen. Die Subalternen, Bronagh Gallagher und Tim McInnerny (Nebenrollen in PULP FICTION (1994) bzw. NOTTING HILL (1999)) sowie Lennie James, kennt man zumindest vom Sehen. Von diesen dreien bleibt der Butler etwas blass, bis er seinen Stepptanzauftritt hat. Und dann gibt es noch den Sohn, der in dieser Unterwelt geboren wurde und mit zwanzig Jahren noch nie das Sonnenlicht gesehen hat. George MacKay (CAPTAIN FANTASTIC (2016), 1917 (2019)) hat die wohl schwierigste, auf jeden Fall vielschichtigste Rolle übernommen und besteht diese Prüfung mit Bravour. Leicht hätte daraus eine Karikatur werden können. In seiner Darstellung spürt der Sohn geradezu körperlich, wenn er angelogen wird.

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Dieser Sohn ist aber trotzdem total verkorkst, er wächst völlig überbehütet auf und möchte alle Erwartungen erfüllen. Natürlich kommt irgendwann ein Eindringling von außen. Eine junge Frau (Moses Ingram) liegt eines Tages sozusagen auf der Türschwelle. Natürlich verliebt sich der Sohn in sie, und natürlich muss sie sich darauf einlassen, wenn sie hier überleben will. (Frühere Flüchtlinge wurden offenbar getötet.) Wie es dann weitergeht, sei hier nicht verraten, nur so viel: Es geschieht nicht unbedingt das, was die übliche Dramaturgie vorschreibt. In der Mitte von THE END entwickelt sich alles plötzlich sehr harmonisch (was auch ein bisschen eine Drehbuchschwäche ist), und es dauert recht lange, bis jemand stirbt.

Der Zynismus der Figurenzeichnung ist meisterhaft. Draußen „werden die Wälder für Jahrhunderte brennen, bis nichts von der Welt mehr übrig ist“, sagen die Eltern. Sie arrangiert derweil berühmte Gemälde der Kunstgeschichte, er schreibt seine Biographie „für die Nachwelt“, in der er den Klimawandel leugnet. Allerdings bleibt alles etwas blutleer, die Charaktere erinnern darin ein wenig an den nüchternen Oppenheimer selbst. Es müsste mehr Gefühlsausbrüche geben, bei denen auch mal Dinge zu Bruch gehen. Der Sohn würde die Fremde viel früher berühren. Man sieht die beiden nie beim Sex.

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Außerdem würde nach der langen Zeit der Isolation vieles nicht mehr richtig funktionieren, das Überleben auch im Luxusbunker müsste inzwischen auf Kante genäht sein. Man fragt sich schon, wo nach 25 Jahren der Strom herkommt, um sogar die Höhlen zu beleuchten, womit die Technik in Schuss gehalten wird, warum es keine Probleme mit dem Luftnachschub oder den Zutaten für die erlesenen Speisen gibt. Vor allem aber ist nicht klar, warum die Angestellten die Familie weiterhin bedienen. Die Abhängigkeit wird zwar thematisiert, aber die Servilität bleibt nicht recht nachvollziehbar.

Ursprünglich wollte Oppenheimer einen Dokumentarfilm zu der Thematik drehen. Unter Superreichen gehört es inzwischen anscheinend zum guten Ton, eine Art Zombie-Apokalypse der niederen Schichten zu erwarten. Als Reaktion darauf wollen sie aber nicht etwa ihre immensen Beiträge zu Treibhauseffekt und der immer krasseren Ungleichverteilung des Vermögens reduzieren, sondern Refugien für „die Zeit danach“ errichten, die in ihrem Wahnsinn dem in THE END geschilderten in nichts nachstehen.

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Joshua Oppenheimer fand nun Zugang zu einem solchen Fantastillionär, der ihm sein Versteck zeigte und seine Pläne darlegte, wie er seine Bodyguards davon abhalten will, ihn umzubringen, wenn ihnen klar wird, dass ihre Familien nicht gerettet werden. Es ist unerklärlich, wie Oppenheimer es immer wieder schafft, bei seinen Recherchen so nah an Menschen heranzukommen, denen an seinen Portraits wirklich nichts gelegen sein kann. Nach THE ACT OF KILLING und THE LOOK OF SILENCE (2014) wird er nie wieder Indonesien betreten können, wenn er an seinem Leben hängt. Und dieses Mal, erzählte er auf der diesjährigen Berlinale, begann er so sehr um das Wohlergehen seines Teams nach der Fertigstellung des Films zu fürchten, dass er das Projekt abbrach. Frustriert sah er sich sein Lieblingsmusical an, DIE REGENSCHIRME VON CHERBOURG, und die Idee zu THE END war geboren.

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Man hat sogar den Eindruck, dass seine fiktiven Figuren viel ambivalenter und weniger schablonenhaft amoralisch sind als ihre realen Vorbilder. Oder wie Oppenheimer es ausdrückt: Auch schlimme Mörder sind Menschen. Es wäre einfach, sich über den Vater zu erheben, aber er liebt seine Familie wirklich. Der Sohn kennt zwar die Welt nicht, aber er entdeckt die Schönheiten der Salzmine. Auch die Fremde ist materialistisch, sie fängt an, die schönen Kleider der Mutter zu tragen. Alle haben auf die eine oder andere Weise Schuld auf sich geladen, die sie verdrängen und die sie verfolgt. Und alle quält die Frage: Warum darf ich leben, wenn alle anderen tot sind?

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Im Englischen wird zwischen guilt und shame unterschieden. Guilt ist das, was man in sich spürt, im Herzen. Shame hat man, wenn man nicht den Erwartungen der anderen entsprochen hat. In THE END geht es um guilt.

Acht Jahre hat Oppenheimer, der auch die lyrics geschrieben hat, an THE END gearbeitet. Es wurde eine europäische Großproduktion aus ganz vielen Ländern daraus, ohne Beteiligung der USA. Sein nächster Film wird wohl etwas Intimeres werden, nachdem es hier um das Ende der Welt ging. In seinem asketischen Äußeren – groß, hager, stets komplett in schwarz gekleidet – erinnert Joshua Oppenheimer an Steve Jobs, den legendären Apple-Gründer. Und obwohl er sich mit den schrecklichsten Themen beschäftigt, scheint er dabei ein glücklicher Mensch zu sein.

Nach zweieinhalb Stunden findet THE END ein wirklich böses happy end. Es ist ein Meisterwerk der Form geworden, das man am besten auf einer Riesenleinwand erlebt, in einem vollen Kinosaal, in einer hinteren Reihe sitzend, so dass auch die Zuschauer vor einem von der Projektion beleuchtet werden.

© Franz Indra

Joshoua Oppenheimer und George MacKay Talents bei den Berlinale Talents 2025: https://vimeo.com/augentroester/berlinale2025theend

 

Titel, Cast und CrewThe End (2024)
Poster
ReleaseKinostart: 27.03.2025
RegieJoshua Oppenheimer
Trailer
BesetzungTilda Swinton (Mutter)
Michael Shannon (Vater)
George MacKay (Sohn)
Moses Ingram (Mädchen)
Bronagh Gallagher (Freund)
Tim McInnerny (Butler)
Lennie James (Doktor)
Danielle Ryan (Mary)
DrehbuchJoshua Oppenheimer
Rasmus Heisterberg
KameraMichail Kritschman
MusikJoshua Schmidt
Marius de Vries
SchnittNiels Pagh Andersen
Filmlänge148 Minuten
FSKab 12 Jahren

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