„Balsam für die Ohrmuschel”
Musik kann wie eine akustische Reise in die Vergangenheit sein. Die Gefühle, die man bei einem bestimmten Song – ob Freude, Liebe, Trauer oder Einsamkeit – hatte, rauschen als Erinnerungen wieder direkt durch die Arterien und Synapsen. Deswegen ist es so wichtig, Erlebnisse an Musik zu koppeln. Man setzt sich eine Art Speicherpunkt. Ganz schnell ist man wieder im Moment, kann sich vielleicht nicht genau an Details erinnern, aber man weiß genau, welche Stimmung die Melodie begleitet. Musik, die mit Erinnerungen verbunden ist, kann aber auch eine Fessel sein. Ein Weiterkommen ist nicht möglich, man hängt förmlich mit jeder Wiederholung in der Vergangenheit fest. Neue Erlebnisse werden unmöglich wie auch das Erkunden neuer Songs. Dieses Problem haben nicht nur Hörerinnen und Hörer, sondern auch die Musikerinnen und Musiker. Es gibt den einen Superhit, den alle beim Konzert mitsingen können, aber für das neue Album interessiert sich das Publikum kaum. Regisseur James Griffiths spielt in THE BALLAD OF WALLIS ISLAND diese beiden Synergien der Erinnerungsmusik gegeneinander aus – auf der Sender- wie auf der Empfängerseite. Und nicht etwa mit einem historischen Biopic auf großer Bühne, sondern auf einer kleinen walisischen Insel mit einem Folk-Duo, das sich bereits vor Jahren trennte.

Handlung
Herb McGwyer (Tom Basden) soll einen Gig auf einer dünn besiedelten Insel spielen. Sponsor dieses Konzerts ist der Lotto-Gewinner Charles Heath (Tim Key). Er ist ein großer Fan des Folk-Duos „McGwyer Mortimer“. Herb McGwyer hat aber schon seit Jahren eine Solokarriere und Nell Mortimer (Carey Mulligan) lebt in den USA mit ihrem Mann Michael (Akemnji Ndifornyen). Beide werden ebenfalls von Charles auf die Insel eingeladen. Er will eben genau seine Lieblingsmusik von damals – McGwyer Mortimer. Charles scheint über viele Jahre der Einsamkeit ein paar soziale Umgangsformen verlernt zu haben und die Abgeschiedenheit und Einfachheit des Insellebens führt alle ganz schnell wieder zu dem Grund, weshalb sich McGwyer Mortimer getrennt haben. Aber darum soll es hier gar nicht gehen, denn mit Verlust hat auch der stets gut gelaunte Charles trotz zweifachen Lottogewinns zu bekämpfen.

Super-Fan vs. Idol
Für manche die gute Nachricht: THE BALLAD OF WALLIS ISLAND drückt nicht so sehr auf die Tränendrüse wie man es ahnt. Der Film versteht sich als Komödie und das bleibt er auch bis zu seinem stimmigen Ende. Anderen wird das aber vielleicht zu wenig sein, denn so richtig an die Trennung des Duos wagt sich der Film kaum heran, wie auch die Vergangenheit von Charles, der hier übrigens darstellerisch und auch von der Figurenzeichnung ganz klar die Hauptrolle an sich reißt. Denn das Leben schreibt eben immer noch die besten Geschichten. Durch dieses Spiel der drei Hauptfiguren gerät der Film teilweise zu einem Kampf um die beste Darstellung und die Aufmerksamkeit des Publikums. Dabei sind wir Zuschauerinnen und Zuschauer eigentlich von Anfang an auf zwei Dinge aus: Fernweh und Musik, die ans Herz geht. Aber dazu später mehr. Tom Basden mimt von Filmbeginn an zu sehr den begossenen Pudel mit oberflächlicher Star-Attitüde. Was aber an ihm gefällt, ist, dass er nie die Diva raushängen lässt. Trotz Pech und kontaktfreudigem Gastgeber bleibt er freundlich und ergibt sich seinem Schicksal. Vielleicht ist er froh, dem seltsamen Weg, den seine Karriere eingeschlagen hat, kurz zu entfliehen.

Wohingegen Carey Mulligan recht schnell auftaucht und flott wieder weg ist. Sie scheint im Herzen eine Künstlerin geblieben zu sein, aber das Gründen einer Familie ist ihr wichtiger. Ziemlich schnell wird klar, dass Herb damals mehr Gefühl in die Musik gesteckt hat als Nell bzw. sie diese Lebensphase schnell hinter sich lassen konnte. Da die Insel-Isolation nur zur Bewältigung von Herzschmerz geeignet ist, sitzt die Glückliche auch recht schnell wieder im Ruderboot zum Festland und zu einem Leben, das den Film gar nicht interessiert. Ehemann Michael schippert etwas später hinterher, der war noch auf Vogelbeobachtung.

Seelenheil
THE BALLAD OF WALLIS ISLAND hat ein Herz für seine Geschichte, für die Kunst und für seine Figuren. Lange war nicht mehr ein solch menschlich offenherziger Film in den Kinos zu sehen. Auf jeden Fall eine gute Gelegenheit, Trübsal und Weltschmerz für zwei Stunden zu vergessen. Für das große Gefühl reicht es jedoch nicht. Das liegt vor allem an zwei Sachen: Muse und Musik. So eine Insel voller Natur ist geradezu prädestiniert dafür Wetter, Flora und Fauna etwas Raum zu geben. Ab und zu reißt in Dialogszenen die Wolkendecke auf und lässt die Sonne herein, aber das war es auch schon mit Natur im Film. Ein paar Momente ohne Menschen hätten dem Erlebnis und dem Verständnis, dort zu leben mehr Tiefe gegeben.

Hauptkritikpunkt ist jedoch die Musik, die immer nur ein bisschen von der Seitenlinie gespielt wird. Es braucht ewig, bis die Gitarre ausgepackt wird und Indie-Folkmusik die Herzen öffnet. In dieser Szene bleibt die Kamera jedoch bei Charles, der intensiv mit seiner Vergangenheit, dem Verlust und der Schönheit des Moments zu kämpfen hat. Der Song verliert sich jedoch in dieser beeindruckenden Darstellung. Danach tritt die Musik nie in den Vordergrund und der Konzertzusammenschnitt am Ende ist extrem lieblos zusammengesetzt. Zum Vergleich: Bei ONCE (2006) schmettert Glen Hansard in den ersten Minuten einen solch starken Song auf die Backsteine der Fußgängerzone, dass man überwältigt ist. Oder in THE BROKEN CIRCLE (2012), wenn das Banjo in einer engen stickigen Bar erklingt und die beiden Stimmen sich über das Publikum erheben, weiß man, dass Gefühle in Noten gegossen werden. THE BALLAD OF WALLIS ISLAND versteckt sich dabei etwas zu sehr hinter seinen lustigen Wolljacken und den guten Darstellern. Aber vielleicht fehlte es nur an guten Songwritern.
Fazit
THE BALLAD OF WALLIS ISLAND ist eine gute Portion Ablenkung, um einfach mal den Kopf freizubekommen. Ein musikalischer Kurztrip, der intensiver, gefühlvoller und naturnaher hätte sein können. Aber dann müssten wir schon ein paar Wochen auf Wallis Island verbringen, nicht nur zwei Stunden.
Chefredakteur
Kann bei ZURÜCK IN DIE ZUKUNFT mitsprechen / Liebt das Kino, aber nicht die Gäste / Hat seinen moralischen Kompass von Jean-Luc Picard erhalten / Soundtracks auf Vinyl-Sammler / Stellt sich gern die Regale mit Filmen voll und rahmt nur noch seine Filmposter