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The Alpinist (2021) – Filmkritik

„Die Suche nach Einsamkeit“

Kann man ohne mediale Aufmerksamkeit noch berühmt werden? Die einen genießen die Öffentlichkeit, das digitale Gefolge und das Rampenlicht, die anderen hassen es, machen es aber wegen der Sponsoren dennoch mit. Marc-André Leclerc passt in keine dieser beiden Kategorien. Es gab bis zum Produktionsstart von THE ALPINIST kaum Fotos von ihm. Er hatte keine öffentlichen Profile, kein Smartphone, keinen festen Wohnsitz und dennoch werden seine Erfolge am Felsen, am Eis und im Schnee in der Gemeinde der Profi-Kletterer und -Bergsteiger bewundert und respektiert. Marc André klettert solo, also ohne Partner, ohne Seil und ohne Sicherung. Es sind extrem lange Routen am Fels, an steilen gefrorenen Wasserfällen oder an beidem zusammen, dem sogenannten Mixed-Climbing. Wenn es jemandem gelingt, rekordverdächtige Leistung zu erbringen und sie dennoch kaum wahrgenommen wird, bekommt die Person etwas Mystisches. Es erinnert an vergangene Zeiten, in denen noch der Erfolg im Vordergrund stand und dem Bergsport noch etwas Unverständliches anhaftete. Die Menschen mussten Fantasie aufbringen, wie es ist, sich allein bei Schneestürmen in hunderten Metern Höhe nur auf den eigenen Körper und Geist zu verlassen.

© Piece of Magic Entertainment

THE ALPINIST geht an die Person Marc-André Leclerc ganz behutsam heran, schickt kein großes Filmteam, sendet keine filmenden Drohnen und stellt keine Momente nach. Das Team aus Peter Mortimer und Nick Rosen – beide selbst Größen im Kletterfilmbereich (FIRST ACCENT, THE SHARP END) – haftet sich an die Spuren einer noch sehr jungen Legende (geb. 1992). Es ist eine der wenigen Chancen hinter den Vorhang der Öffentlichkeit zu blicken und wie in einer Suche nach einer seltenen Spezies etwas über das Essentielle im Alpinismus und Bergsteigen zu entdecken. Doch dann diktierte Leclerc und das Leben selbst das eigentliche Drehbuch.

Der eigene Blickwinkel

Seit 2001 bin ich vom Klettersport fasziniert. Ich erlebe seit nun zwei Jahrzehnten eine beeindruckende Entwicklung des Sports, der sich aus seinen dunklen selbstgebauten Hallen zu einer coolen Trendsportart wandelte. Während man früher noch erklären musste, wie das mit dem Klettern so läuft, ist es heute bis zu medialen Großereignissen herangewachsen. Bei den Olympischen Spielen Tokyo 2020 war Sportklettern, Bouldern und Speedclimbing zum ersten Mal olympisch und was haben die Athleten dort für eine tolle Show geboten. Klettern ist aber schon immer eine Münze mit zwei Seiten. Wo manch einer in den klimatisierten Hallen an TÜV-geprüften Kunststoffgriffen die sportliche Herausforderung sucht, gibt es für andere das „echte Klettern“ nur in der Natur am Felsen. Aber auch hier kann das Erlebnis angepasst werden. Während sich viele, wie auch ich, über fest verankerte Haken in Granit und Kalkwänden als Sicherung freuen, suchen andere das Abenteuer mit ungesicherten oder noch unbekannten Routen. Jetzt aber alle materiellen Sicherheiten hinter sich zu lassen – Felsen können rausbrechen oder Füße abrutschen – und solo hunderte Meter steilen bis überhängenden Felsen zu erklimmen, ist schon eine ganz besondere Erfahrung, für die man bereit sein muss.

© Piece of Magic Entertainment

 

Alex Honnold hat uns in FREE SOLO (2018) mit seiner Solo-Begehung der knapp 1.000 m langen „Freerider“ Route im Yosemite-Nationalpark einen Blick in diese Welt des konzentrierten, reinen Kletterns gewährt. Man muss hier einfach so weit ausholen, um Außenstehenden begreiflich zu machen, in welcher Welt sich Marc-André Leclerc bewegt. Besagter Alex Honnold, Solo-Kletterer langer und extrem schwerer Routen, bewundert Marc André. Denn der ist nicht nur an steilem Gestein unterwegs, sondern auch mit Eispickel und Steigeisen am temporären Eis, zudem in extremen Höhen wie auch bei harschen Wetterlagen. Wenn es Marc-André so richtig packt, soll es auch noch eine sogenannte Onsight-Begehung sein. Das bedeutet, er war noch nie in der Route und kennt nicht im Vorhinein Griffe und Tritte. Während Alex Honnold am Seil die schwersten Züge studieren und immer ins rettende Seil fallen kann, gibt es für Marc-André nur einen Versuch. Was für ein Abenteuer das sein muss, kommt in THE ALPINIST bei seiner Begehung am Torre Egger im winterlichen Patagonien beeindruckend rüber.

© Piece of Magic Entertainment

Die Frage steht natürlich im Raum: Warum tut man so etwas? Darauf gibt THE ALPINIST ein paar Antwortmöglichkeiten. Im Fall von Leclerc ist es vielleicht eine Art der Bestimmung, weil der junge Kanadier in der Gesellschaft seine Probleme hatte. Neben unendlichen Energieressourcen als Kind, war er vor allem in der Natur glücklich. Die alleinerziehende Mutter fand eine gute Balance aus Freiheiten und Sicherheit für ihren sensiblen Sohn, so dass Leclerc auch genug Willen aufbringt das Scheitern auf eine minimale Wahrscheinlichkeit zu reduzieren. Wetterdaten und Kletterrouten-Führer werden bei der Vorbereitung akribisch studiert. Zudem hat Leclerc eine Beziehung zur talentierten Free-Solo-Kletterin Brette Harrington, die ebenfalls in THE ALPINIST zu Wort kommt. Beide lebten eine lange Zeit zusammen, in einer kleinen Treppenhauskammer oder in einem Zelt mitten im kanadischen Wald. Minimale Lebensverhältnisse und kaum Sponsorenverträge bedeuten eben auch mehr Freiheit bei der Wahl des nächsten Projekts. Das sieht man auch in diesem dokumentarischen Portrait, Marc-André trägt kaum unterschiedliche Kleidung, zeigt selten Markennamen und scheint am High-End-Material, das immer leichter und funktioneller wird, nicht interessiert zu sein. Eine Aussage im Film bringt es auf den Punkt, Leclerc scheint in der falschen Zeit geboren zu sein. Die 1960er und 1970er wären eher etwas für den Freigeist gewesen. Aber das macht seine Persona im alles erreichbaren 21. Jahrhundert nur umso spannender.

© Piece of Magic Entertainment

Inszenierung

Auf inhaltliche Aspekte will ich gar nicht weiter eingehen, denn THE ALPINIST ist eine Geschichte, die nur das Leben so schreiben kann. Die beiden Filmemacher Mortimer und Rosen können es zwar nicht lassen sich selbst als Akteure zu zeigen, aber das passt zur Suche nach ihrem Helden, dem es immer wieder gelingt abzutauchen. Keine Sponsorenverträge und keine Aufmerksamkeit zu wollen, lässt einen in der Bergsteigerwelt noch leicht verschwinden. Kein Telefon zu haben, ist ein weiterer Vorteil. Die Bilder sind ein gelungener Mix aus professionellen, atemraubenden Aufnahmen und wackeliger Kleinkamera, die Leclerc selbst bei seinen Erstbegehungen dabeihat. In einer frischen Schnittmontage mit Fotos, Interviews, Erzählerstimmen und Animationen werden wir auf diese detektivische Reise mitgenommen. Ein paar geschichtliche Fakten und Akteure der alpinen Solo-Szene bekommen ihren Auftritt. Alles stets im kleinen Rahmen, um Platz für die Persönlichkeitssuche und für die Frage nach der Entwicklung des Alpinismus freizuräumen. Der Bergsport hat auch seine obszönen selbstdarstellerischen Seiten, wie zum Beispiel in 14 PEAKS (2021) auf Netflix zu sehen ist. THE ALPINIST ist jedoch ein Film über jemanden, der die Aufmerksamkeit weder nötig hat bzw. überhaupt will. Es ist die Suche nach den letzten großen Abenteuern in den Bergen.

© Piece of Magic Entertainment

Fazit

THE ALPINIST raubt jedem den Atem. Die spektakulären Aufnahmen, die investigative Suche nach einem versteckten Helden und die kritisierte Sucht nach medialer Aufmerksamkeit in einer verschrobenen Szene aus Egoisten, Autisten, Selbstdarstellern und Existenzialisten ist der Quell, aus dem dieser Film entsteht. Zudem ein wunderbares Zeitdokument eines Menschen, der gar nicht anders konnte als diesen gefährlichen Weg zu gehen. THE ALPINIST ist Inspiration dafür, was wir können, ohne teure Ausrüstung, digitale Herzchen und der sich selbst aufzehrenden Frage: Was ist das nächste Level im Bergsport?

© Christoph Müller

Titel, Cast und CrewThe Alpinist (2021)
Poster
RegiePeter Mortimer
Nick Rosen
ReleaseKinostart: 17.02.2022
Trailer
BesetzungMarc-André Leclerc
Alex Honnold
Jason Kruk
Will Stanhope
Hevy Duty
Brette Harrington
Barry Blanchard
Bernadette McDonald
Reinhold Messner
Will Gadd
MusikJon Cooper
KameraJonathan Griffith
Brett Lowell
Austin Siadak
SchnittJosh Lowell
Joshua Steele Minor
Peter Mortimer
Fernando Villena
Filmlänge93 Minuten
FSKAb 12 Jahren

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