„Inverses Empathiekino“
Das Kino ist ein magischer Raum. Zeit kann sich hier verlangsamen, stehen bleiben oder sich beschleunigen. Jeder, der ein Ticket für einen Platz löst, kann einen Blick in die Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft werfen. Es ist stets eine Abbildung, spannend erzählt, emotional aufgeladen und fantastisch fotografiert. Bei nun über 100 Jahren Filmgeschichte hat sich eine gewisse Routine bei dieser Wahrnehmung eingestellt. Viele meinen zu wissen, wie ein Film und Drehbuch aufgebaut sein muss, um den Zuschauer möglichst perfekt zu unterhalten. Einige Filmmacher habe diese Analysen gelesen und setzen ihre Projekte anhand dieser Daten um. So ist ein Kreislauf der Routine über die Jahre hinweg entstanden, der kaum an seinen Grenzen kratzt. TENET durchbricht diese unberührte Mauer des immer Gleichen. Es ist eine fremde Welt, wo alltägliche Gesetze keine Bedeutung mehr haben. Regisseur Christopher Nolan reicht dem Zuschauer, in dessen Hoffnung einen Agentenfilm zu sehen, die Hand nur zum Schein. Aber das ist nur PR, denn nach wenigen Minuten dreht TENET den bequemen Kinosessel in alle Richtungen, so dass die Hoffnung auf eine verständliche Story durch deren Fliehkräfte hinfort geschleudert wird.
Jetzt ist man als Zuschauer an einem Punkt angekommen, an dem man mit sich selbst ausmachen muss, wie es weitergeht: Entweder man gibt auf, lässt die gewaltigen Bilder über einen hinwegfegen und fragt sich vielleicht, was noch daheim im Kühlschrank fürs Wochenende fehlt. Oder man bleibt aufmerksam, bei Dialogen, Action, Symbolen und stets mit der Erfahrung vorheriger Szenen im Zeitspiel. Es ist ein wirklich harter Kampf, der hier geführt werden muss. Als ob man sich wie Neo in MATRIX statt einer roten oder blauen Pille gleich eine ganze Handvoll beider in den Hals geworfen hätte. Auf der Leinwand passiert alles gleichzeitig, die lineare Zukunft wie auch die Vergangenheit des bereits Gesehenen. Die Augen und Ohren sind auf eine völlig neue Wahrnehmung ausgerichtet: Das vierdimensionale Filmerlebnis.
Was glaubte man mit dem 3D-Kino im Zuge von AVATAR die Lichtspielhäuser wieder attraktiv zu machen. Es brachte nur einen kurzen Geldsegen. Auch Sitze, die sich in alle Richtungen neigten und schüttelten, sollten dem Zuschauer ein neues Filmerlebnis bieten. Selbst vor einem Geruchskino wurde nicht zurückgeschreckt. Aber an einen Bereich wagten sich die wenigsten, die Vorstellungskraft. Es kann nie zu wenig gepredigt werden, den Zuschauer nicht zu unterschätzen, ihn zu fordern und zum Mitdenken anzuregen. TENET hebt diesen Anspruch jedoch auf eine völlig neue Dimension. Es ist, als ob man sich einfach in eine Vorlesung für theoretische Physik setzen würde. Der lehrende Professor ist ein Meister seines Fachs, weiß um die Stärke von Bildern, Tönen und seiner Protagonisten, aber für uns, als Ungelehrte im Hörsaal, fühlt man sich allein gelassen. Manch einer wird sich dumm vorkommen, kopfschüttelnd den Raum verlassen. Es ist jedoch ratsam zu akzeptieren, dass die ganze Diskussion des Verstehens in TENET zu nichts führt. Christopher Nolan hat hier ein Labyrinth erschaffen, was man nicht sofort gänzlich verstehen wird. Keine emotionale Tiefe zu seinen Hauptfiguren herzustellen, wurde ihm bereits mehrfach vorgeworfen und das wird hier auch wieder geschehen. Aber darum ging es ihm noch nie. Er scheint geradezu besessen von dem Thema Zeit, was in den letzten Jahren im Film sträflich vernachlässigt wurde und nun als TENET auf unfähige Gehirne trifft. Wie ein Muskel, den man noch nie brauchte und in diesen 150 Minuten bis zum Zerreißen gespannt genutzt wird.
Das Universum und seine Regeln
Zeitreisefilme sind ein beliebtes Genre im Science-Fiction-Film. Aber spätestens nach der ZURÜCK-IN-DIE-ZUKUNFT-Trilogie weiß jeder Zuschauer, dass so etwas gar nicht linear von statten geht und einem manch Paradoxon Kopfzerbrechen bereitet. Wenn man in der Zeit zurückreist, beeinflusst man automatisch die Welt wie man sie kennt. Nur die kleinste Änderung und schon könnte es das Ende der eigenen Existenz bedeuten. Es bleibt die Frage, ob durch die Änderung eine Parallelwelt entsteht oder ob die Zukunft unwiderruflich verändert ist. Bei TENET springt man nicht in einen Delorean oder ein Zeitportal und ist auf einmal in der Vergangenheit, sondern man muss den Weg dorthin zurücklegen, während sich die Umwelt rückwärts bewegt. Als ob dieses Paradigma nicht schon reichen würde, gibt es noch Gegenstände, die invertiert aufgeladen sind. Eine Patronenkugel wird zum Beispiel nicht aus einer Kanone abgefeuert, sondern eingefangen. Wackelnde Betonstücke fliegen zurück in eine Explosion und bauen ein ganzes Gebäude in Sekunden auf. Die Welt des Rückläufigen kann man nicht verstehen, wenn man sich schon jahrelang in der Zeit nach vorn bewegt hat. Aber hier gibt es welche, die es können.
Handlung
In einem ukrainischen Opernhaus – in Wirklichkeit die Tallinna Linnahall in Estland – wird ein ganzer Konzertsaal als Geisel genommen. Der Protagonist (John David Washington) gehört zu einer geheimen Infiltrationstruppe der Rettungskräfte. Seine Aufgabe ist es nicht, die Menschen zu retten, sondern einen bestimmten VIP, der einen wichtigen Gegenstand bei sich trägt. Der Plan misslingt. Er wird gefangen genommen, gefoltert, aber ihm gelingt es noch, seine Selbstmordkapsel zu schlucken.
Die Wiedergeburt: Die Kapsel enthielt nur ein starkes Narkosemittel, was ihn in einen komaartigen Zustand versetzte und ihn somit für eine noch geheimere Organisation als geprüft deklariert. Denn die Welt ist dem Untergang geweiht. Nicht etwa durch eine böse staatliche Macht, sondern durch Gegenstände aus der Zukunft, zu denen nur der Oligarch und Warlord Andrei Sator (Kenneth Branagh) einen Zugang hat. Der Agent soll Kontakt über dessen Ehefrau Kat (Elizabeth Debicki) herstellen. Mit der Hilfe von Neil (Robert Pattinson) versucht der Protagonist Aufmerksamkeit zu erregen, was ihm schnell gelingt.
00X
Dieses grobe Handlungsgerüst liest sich wie ein weiterer JAMES-BOND-Teil. Es schleicht sich das Gefühl ein, dass Christopher Nolan die Gerüchte-Diskussionen nach seinem INCEPTION, dass er den nächsten James-Bond-Film drehen könne, noch dazu mit einem schwarzen Agenten, nun doch hat wahr werden lassen. Aber so leicht wird es nicht. TENET ist genauso wenig ein Geheimagentenfilm, wie INCEPTION ein Heist-Movie, INTERSTELLAR ein Weltraumabenteuer und DUNKIRK ein Kriegsepos. TENET ist pure Zeitreise. Die Handlungsorte springen geradezu über die eurasische Platte: Estland, Dänemark, London, Mumbai, Oslo, Italien und Sibirien, was ein Argument für den Geheimagentenfilm ist. Auch der Protagonist ist perfekt ausgebildet, verfügt über die nötigen unermesslichen Ressourcen. Aber das war es dann auch schon, kein Bondgirl, kein Sportwagen, keine lineare Handlung.
TENET befreit sich von jeglichem Ballast, wie der Erklärung von Nebenfiguren oder Ortswechseln. Wenn Pläne für die nächste Mission geschmiedet werden, geht es bereits mit Einschnitten los und das stets mit einer realistischen und nicht digital erzeugten Technik. Denn was hier vor der IMAX- und 70-mm-Film-Kamera von Hoyte Van Hoytema geschieht, ist auch genau so geschehen, praktische Effekte der Oberliga. Wo manch einer schnell zur Animation mit Fancy-Touch-Displays gegriffen hätte, gibt es selbst für die alles entscheidende finale Schlacht nur eine Folie und zwei Filzstifte, wie auch zwei pragmatische Teams, Rot und Blau. Die Ausstattung wird auf eine möglichst schlichte Optik zurückgefahren, um Raum für das Verständnis dieser Physik, die temporale Zangenbewegung, zu bekommen. Zeitreisen und temporale Zwillinge darzustellen, stößt in der Bebilderung aber auch an ihre Grenzen. Deswegen setzt sich der Filmschnitt gnadenlos durch den Film. Selbst bei den Dialogen wird der Zuschauer anspruchsvoll mit Metaphern und Zwei- bis Dreideutigkeiten so gefordert, dass der Prozessor des Rezipienten heißläuft. Eine Überhitzung mit Notabschaltung ist vorprogrammiert.
Was sich bildlich vor und zurück ereignet, wird auch musikalisch vollzogen. Die Stücke von Ludwig Göransson weisen immer ein Grundthema auf, was aber durch rückwärtige Klänge und Bässe mal im Hinter-, mal im Vordergrund gebrochen wird. TENET gibt bewusst immer wieder Momente zum Durchatmen und Wiederholungen, um zu verstehen, dass manche Ereignisse so schon geschehen sind. Zum Beispiel wie ein zerbrochener Außenspiegel oder ein rotes Band an einem Rucksack, aber die Kraft der Angst diesem Kunstwerk nicht gewachsen zu sein und die hohe Geschwindigkeit werden immer wieder Gedankenknoten knüpfen, die kaum gelöst werden können. Sobald der Abspann beginnt, möchte man aber dennoch eine weitere Runde mit TENET bestreiten, um tiefer in diese fremde Welt einzutauchen.
TENET im Kosmos von Christopher Nolan
Es ist beispiellos, dass ein solch extrem anspruchsvoller und nicht zu jedem Zuschauer durchdringender Film ein Blockbuster ist – ein sehr hohes Budget (ca. 225 Mio. Dollar) erhalten hat. Die echten Effekte plus das Drehen auf 70-mm-Film ist eine kostspielige Angelegenheit, wofür Warner Brothers als langjähriger Studiopartner sowie die Produktionsfirma Syncopy von Christopher Nolan und Ehefrau Emma Thomas ein hohes Risiko eingegangen sind, was sich nicht an der Kinokasse auszahlen wird. Man bedenke die Covid-19-Situation und der erste exklusive Kinostart in Europa. Aber was bedeutet TENET in der filmischen Entwicklung von Christopher Nolan? Es ist das bis jetzt kompromissloseste Werk Nolans.
Sein ausgeklügeltes temporales Irrgartendrehbuch ist konsequent verfilmt. Keine CGI-Effekte, keine Superstars und keine Buch-, Comic- oder Filmvorlage. Sein kreativer physikalischer Geist in Bezug auf das Thema Zeit in einem scheinbaren Spionagefilm. Wenige Regisseure können heute so punktgenau ihre Idee umsetzen. Sicher machte auch Nolan ein paar Zugeständnisse wie der unpassende Abspannsong (Travis Scott mit „The Plan“) und die FSK-12-Freigabe, aber der finale Schnitt lag bei ihm, so dass er bei seinen Zuschauern maximale Leistung abrufen kann. Auch wenn TENET wohl das unzugänglichste Stück aus seinem Oeuvre sein dürfte, sind es sein technisch meisterliches und auf das Medium Kino konzentriertes Hinarbeiten zu verdanken, dass er hier angelangt ist. Seine Kritiker wird TENET noch vehementer bestätigen und seine treuen Fans werden weitere Male ins Kino gehen, um jedes Rätsel zu lösen.
Fazit
Es ist ein Wahnsinnsflug durch die Zeit. TENET schaut nicht nur hinter die Mauer des anspruchsvollen Science-Fiction-Genres, sondern durchbricht sie mit einem Knall, um sie dann invers wiederherzustellen. Den „Grundsatz“, die Übersetzung des Titels ins Deutsche, wird man beim ersten Sehen nicht finden. Eher trifft die andere Übersetzung für „Glaubenssatz“ zu. Denn mit Glauben an die Magie des Kinos sollte man TENET gewiss durchleben können. Die Vergangenheit lässt sich nicht ändern, aber die Rache der Zukunft für unser jetziges Handeln wird gnadenlos sein.
Titel, Cast und Crew | Tenet (2020) |
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Poster | |
Release | Kinostart: 26.08.2020 |
Regisseur | Christopher Nolan |
Trailer | |
Besetzung | John David Washington (Der Protagonist) Elizabeth Debicki (Kat) Robert Pattinson (Neil) Kenneth Branagh (Andrei Sator) Aaron Taylor-Johnson (Ives) Clémence Poésy (Laura) Fiona Dourif (Wheeler) Himesh Patel (Mahir) Martin Donovan (Victor) Dimple Kapadia (Priya) Michael Caine (Michael Crosby) |
Drehbuch | Christopher Nolan |
Kamera | Hoyte Van Hoytema |
Filmmusik | Ludwig Göransson |
Schnitt | Jennifer Lame |
Filmlänge | 150 Minuten |
FSK | ab 12 Jahren |
Chefredakteur
Kann bei ZURÜCK IN DIE ZUKUNFT mitsprechen / Liebt das Kino, aber nicht die Gäste / Hat seinen moralischen Kompass von Jean-Luc Picard erhalten / Soundtracks auf Vinyl-Sammler / Stellt sich gern die Regale mit Filmen voll und rahmt nur noch seine Filmposter