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Tár (2022) – Filmkritik

Ohne großen Trommelwirbel, TÁR ist ein Paukenschlag von einem Film. Cate Blanchett gelingt es in fast drei Stunden sein Publikum an sich zu reißen und eine authentische Geschichte der Gegenwart zu erzählen. Erfrischend echt, fordernd und spannend ist dieses lebensechte, aber dennoch fiktive Biopic einer Dirigentin entstanden, das aus der Fantasie geboren und dennoch unsere Gegenwart maßgeschneidert abbildet. So hat sich Kino schon lange nicht mehr angefühlt und TÁR spielt jedes seiner Gewerke geschickt aus.

© 2022 Focus Features, LLC.

Handlung

Sie ist an der Spitze ihrer Karriere angekommen. Lydia Tár (Cate Blanchett) hat sich in der Männerdomäne als Dirigentin durchgesetzt. Sie lehrt ein eigenes Netzwerk an zukünftigen jungen Talenten, ist seit Jahren Maestro der Berliner Philharmoniker und lebt in einer festen Beziehung zur Konzertmeisterin Sharon Goodnow (Nina Hoss) mit der sie eine syrische Adoptivtochter aufzieht. Neben ersten eigenen Kompositionen will sie Mahlers fünfte Sinfonie live aufnehmen. Während der ersten Proben beginnt sich ihr düsteres, moralisches Unterbewusstsein zu melden. Sie ignoriert die Warnzeichen und nutzt dennoch ihre Position aus, um die junge Cellistin Olga (Sophie Kauer) an sich zu ziehen.

© 2022 Focus Features, LLC.

Das Milieu

Klassische Musik ist für viele etwas Angenehmes, es kann nebenbei laufen oder man schaltet traditionell beim Neujahrkonzert ein. Für wenige bedeutet es jedoch alles, es ist wie ein Lebenselixier. Und die, die darin leben, pulsieren und fühlen, scheinen für Ausstehende etwas sehr Komplexes und Unverständliches gefunden zu haben. TÁR stellt uns in dieser Welt eine Dirigentin der Oberliga vor. Sie leitet die Berliner Philharmoniker so gekonnt wie die nächste Generation der Branche im Hörsaal. Eine Ausnahmeerscheinung, die unweigerlich durch Macht ihr Umfeld zu manipulieren weiß. Regisseur Todd Field gelingt es nach 16-jähriger Pause vom Regiestuhl mit sicherer Hand seinem Publikum diese elitäre Welt vorzustellen. Allein schon der Beginn zeugt von Sicherheit. Mit peruanischem Gesang von Elisa Vargas Fernandez werden wir beruhigt, vergessen alles, was vor dem Filmstart passiert ist, und stellen die Sinne auf etwas Neues ein. Protagonistin Lydia Tár wird gleich auf verschiedenen Ebenen vorgestellt: als nervöses Genie mit Ticks, als souveräne Interviewpartnerin im medialen Umfeld, sowie als leidenschaftliche Arbeiterin in Berlin zwischen Orchester, Meetings und Lehre. Aber auch die Frau mit Familie, eigener Arbeitswohnung zum Komponieren und sportlichem Ausgleich erhält filmische Aufmerksamkeit. Ihr Leben ist wie ein Metronom getaktet und gibt keinen Raum für Extravaganzen. Auch wenn ihre Assistentin Francesca (Noémie Merlant) sie versucht davon abzuhalten, hat Lydia das Verlangen nach Affären, die sie sich dank ihres Ruhms herbeizumanipulieren weiß.

© 2022 Focus Features, LLC.

Fast ausschließlich an Berliner Originalschauplätzen ist TÁR inszeniert. Die Kamera von Florian Hoffmeister ist wunderbar minimalistisch, fast architektonisch. Sie fängt die Räume und ihre Designs auf, ohne ihre Hauptdarstellerin zu vergessen. Wir sind im Leben von Lydia stets dabei und Cate Blanchett versteht es wie keine andere, uns diese Persönlichkeit lebensecht vorzustellen, dass man bei jedem Haarschwung meint, ihr Parfüm zu riechen.

© 2022 Focus Features, LLC.

Zwei Herzen in einer Brust

Eine Frau nutzt Macht aus, um sich junge Liebschaften gefügig zu machen. Diese Art der Diskriminierung ist spannend erzählt, denn noch zu Beginn gibt sich die Branche modern und neutral. Das Orchester veranstaltet Bewerbungen hinter Vorhängen, um sich nicht vom Aussehen der Bewerberinnen und Bewerber beeinflussen zu lassen. Doch dann hat der Apparat solch diktierende Strukturen festgelegt, dass das Orchester ihrem Maestro ohne Widerworte zu folgen hat. In einer Szene mit Lydia und ihrer Tochter Petra, wird es kurz auf den Punkt gebracht. Petra stellt ein kleines Orchester mit Plüschtieren zusammen und gibt jedem einen Bleistift als Dirigentenstab. Lydia klärt gleich auf, dass es sich aber nicht um eine Demokratie handelt. TÁR stellt nicht die Aussage in den Raum, dass auch Frauen ihre Macht für sexuelle Beziehungen zu Angestellten ausnutzen können, sondern dass es die Macht an sich ist, die korrumpiert. Wenn selbst solch erfolgreichen Stars, denen jeder Wunsch von den Lippen abgelesen wird, keine Grenzen aufgezeigt werden, steigen sie egoistisch über die Leben anderer hinweg. Dieses Thema in den strengen, fast schon militärischen Strukturen der klassischen Musik mit alle ihren Prozessen, ist in TÁR packend und gedankenvoll dargestellt.

© 2022 Focus Features, LLC.

Das andere Herz, welches in TÁR schlägt, ist die Liebe zur Musik. Lydia wird nicht nur als kalte Herrscherin über ihr Reich dargestellt. Sie wird immer wieder verletzlich gezeigt, wird von akustischen Alpträumen geweckt und immer wieder wird ihre Passion zur Musik deutlich. Man verteufelt ihre Position, die sie ausnutzt, schätzt aber ihre unermessliche Kraft für diese Kunst. Nachdem das Kartenhaus über der Ikone zusammenbricht, hört der Film aber nicht auf. Denn Lydia ist zäh, weiß weiterzuziehen und dennoch Musik zu orchestrieren, die nicht wirklich vom selbsternannten Adel der Klassik geschätzt wird. Das Ende ist so standhaft, versöhnend und realitätsnah, das vielleicht Mitleid entstehen mag, aber dem auch eine Kraft innewohnt, die selbst eine Verbannung erleichtert.

© 2022 Focus Features, LLC.

Die Musik in der Musik

Eine weitere Besonderheit ist die Fusion der musikalischen Branche in TÁR. Das Plattenlabel Deutsche Grammophon ist nicht nur mit Promotion um Lydia Tár im Drehbuch vertreten. Dem Label ist auch ein kleiner produktbezogener Coup gelungen. Nicht so plakativ wie der E-Porsche mit Stuttgarter Kennzeichen im Film, nein eher in organischer Weise. Eine Schallplatte findet ihren Weg gleich zu Beginn in den Film, genauer gesagt unter Blanchetts nacktem Fuß, die aber erst zum Kinostart von TÁR erscheinen wird: Claudio Abbado spielt mit den Berliner Philharmonikern Gustav Mahlers fünfte Symphonie. Der Prozess für die Liveaufnahmen von Lydias Interpretation findet zusätzlich nicht nur fiktional statt, sondern begibt sich sogar in unsere Realität. Der Soundtrack zum Film trägt das Cover mit Lydia, das im Film entworfen wird. Es gibt aber noch eine andere Metaebene, wenn man so will. Die Filmmusik von TÁR ist komponiert und gespielt von der Isländerin Hildur Guðnadóttir (JOKER, SICARIO 2). Guðnadóttir ist Cellistin, wie die Figur von Olga im Film und bringt zusätzlich musikalische Stimmung. Wenn Cate Blanchett mit ihrer Probe zu Mahlers Fünfte ein musikalisches Gewicht stellt, so bringt Hildur Guðnadóttir mit ihren Stücken die düstere Tiefe.

© 2022 Focus Features, LLC.

Fazit

TÁR hat so Vieles, was einem noch Tage später durch die Gedanken schwebt. Man glaubt Monate mit dieser komplexen Hauptfigur zusammengelebt zu haben, so echt agiert Cate Blanchett auf der Leinwand. All das gelang nur, weil sich der Dirigent (Regisseur) zurückgenommen hat und die Bühne für seine beste Künstlerin räumte. Selten war Kino so frei erzählt, trotz seiner egoistischen Hauptfigur.

Titel, Cast und CrewTár (2022)
Poster
RegieTodd Field
ReleaseKinostart: 02.03.2023
Trailer
BesetzungCate Blanchett (Lydia Tár)
Noémie Merlant (Francesca)
Nina Hoss (Sharon)
Sophie Kauer (Olga Metkina)
Julian Glover (Andris Davis)
Allan Corduner (Sebastian)
Mark Strong (Eliot Kaplan)
Sylvia Flote (Krista)
DrehbuchTodd Field
KameraFlorian Hoffmeister
MusikSimon Franglen
SchnittMonika Willi
Filmlänge158 Minuten
FSKAb 6 Jahren

© Christoph Müller

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