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Spurlos verschwunden (1988) – Filmkritik

Filme wie DEAD END (2003), THE SIXTH SENSE (1999), SIEBEN (SE7EN, 1995) oder THE VILLAGE – DAS DORF (2004) haben eine große Gemeinsamkeit: das schockierende Ende. Ein Finale, das den Rezipienten erschüttert und überrascht, ihm den Atem raubt oder gar verstört. Ein Ende, das alles zuvor Gesehene auf den Kopf stellt. SPURLOS VERSCHWUNDEN reiht sich nahtlos in diese illustre Gruppe ein. Ein Film, von einer unglaublichen Konsequenz, Direktheit und Brutalität. Das Drehbuch basiert auf dem Roman „Het Gouden Ei“ des niederländischen Schriftstellers Tim Krabbé aus dem Jahre 1984. Dabei geht es um einen Mann, der von dem Gedanken beseelt ist, den perfekten Mord zu begehen. In eindringlichen Bildern, die sich für immer in das Gehirn des Betrachters brennen, präsentiert uns der niederländische Regisseur George Sluizer die ganze, furchtbare Geschichte. Aber Achtung; wer sich hier Gore und Splatter erhofft, der suche sich bitte ein anderes Abendprogramm.

© ARTHAUS/STUDIOCANAL

Inhalt

Ein frisch verliebtes Pärchen aus Amsterdam, Saskia (Johanna ter Steege) und Rex (Gene Bervoets), sind auf Urlaub in Frankreich unterwegs. An einer Raststätte an der Autobahn legen sie eine Pause ein. Saskia besorgt einige Erfrischungen, während Rex am Auto wartet. Doch sie kommt nie wieder zurück. Für Rex beginnt eine Odyssee über viele Jahre, die ihn schlussendlich an den Rand des Wahnsinns treibt. Er tritt im Fernsehen und bei Rundfunksendungen auf, startet immer neue Suchaktionen in Zeitungen und über Plakate. Alles ist erfolglos. Saskia bleibt verschwunden, als hätte sie nie existiert. Drei Jahre nach ihrem Verschwinden meldet sich ein Mann, Raymond Lemorne (Bernard-Pierre Donnadieu), bei Rex. Lemorne weiß alles über den fraglichen Tag auf dem Rastplatz. Er überzeugt Rex davon, ihn nach Frankreich zu begleiten, nur so erlangt er Gewissheit über Sakias Schicksal.

Zur falschen Zeit am falschen Ort

Nie war dieses Sprichwort zutreffender als hier. Die Handlung ist zu Beginn zweigeteilt und verbindet sich erst im Verlauf des Films. Rex und Saskia im Urlaub sowie Raymond Lemorne mit seiner Familie im Alltag. Je tiefer wir in diese Höhle der Besessenheit und des Wahnsinns steigen, desto mehr nähern sich beide Storys einander an. Nach und nach ergeben die vielen Puzzleteile ein Bild des absoluten Schreckens.

© ARTHAUS/STUDIOCANAL

Über weite Strecken versteckt sich der Film hinter dem Gewand eines Psychothrillers, der wahre Horror schlägt erst am Ende mit voller Wucht zu. In einzelnen Rückblendungen rollt Regisseur Sluizer das Geschehen auf. Wir sehen die minutiösen Planungen von Lemorne, der jede Kleinigkeit probt und prüft, bis zur absoluten Perfektion. Gleichzeitig sehen wir die verzweifelten Versuche von Rex, seine Freundin mit allen Mitteln ausfindig zu finden. Beide Männer sind besessen, fanatisch ihrer Leidenschaft ergeben, verstrickt in einem tödlichen Netz, aus dem ein Entkommen schier unmöglich ist. Zwischen ihnen entwickelt sich ein ungleiches Duell: auf der einen Seite der Emotionale und Impulsive, der psychisch am Ende ist, auf der anderen, der ruhige Logiker, welcher alles und jeden kontrolliert und manipuliert, um sein Ziel zu erreichen.

Der Soziopath

In der anspruchsvollen Rolle des Raymond Lemorne sehen wir den französischen Ausnahmeschauspieler Bernard-Pierre Donnadieu. Der Mann hat eine umfangreiche Filmografie, die meisten werden ihn aus dem Film DER PROFI (LE PROFESSIONNEL, 1981) mit Jean-Paul Belmondo kennen. Eine kleine, unauffällige Rolle hatte er in Roman Polanskis Film DER MIETER (LE LOCATAIRE, 1976).

© ARTHAUS/STUDIOCANAL

Der Franzose erschafft mit seiner überragenden Darstellung ein Monster, dass sich tief in den Hirnwindungen der Zuschauer einnistet. Hinter der unscheinbaren Fassade der Normalität von Lemorne versteckt sich ein gnadenloser Killer, der am ehesten mit Hannibal Lecter vergleichbar ist. Der Kontrast zwischen dem liebevollen Vater und Ehemann sowie dem gefühllosen Psychopathen erhöht die Wirkung seiner Taten und rückt ihn unangenehm nah an die Wirklichkeit. Dieser Eindruck verstärkt sich durch Sluizers genialen Schachzug, die Mehrzahl der Rollen mit Anfängern und Amateuren zu besetzen, die gegen den Profi aus Frankreich antreten müssen. Der großartige Mime Donnadieu beherrscht nicht nur den Film, sondern auch seinen hilflosen Gegenspieler Gene Bervoets, der in der Rolle des Rex einen bleibenden Eindruck hinterlässt. Aufschlussreich für den Zuschauer ist die Autofahrt von Rex und Lemorne nach Frankreich. Dabei fällt ein Satz, der jedem das Blut in den Adern gefrieren lässt:

„Sie müssen wissen, ich halte Mord nicht für das Schlimmste!“

Was genau Lemorne damit sagen will, erfährt Rex erst am Ende.

Metaphern, Andeutungen und der Tod

SPURLOS VERSCHWUNDEN ist voll davon. Gleich zu Beginn in der Tunnelszene beschreibt uns Sluizer das Schicksal der beiden Urlauber, anhand des goldenen Eies.

Etwas später, auf dem Rastplatz läuft parallel zum Verschwinden von Saskia im Radio ein Ausschnitt der Tour de France, der das Geschehen in verschlüsselter Form beschreibt. Die Jagd, der Führende, die Verfolger und das Ende.

Eine Szene, die sehr schön den ganzen Wahnsinn hinter Raymonds Handlungen aufdeckt, entspinnt sich früh morgens beim Frühstück. Simone stellt ihren Mann zur Rede, ob er eine Geliebte hat, da er so viel Zeit im Ferienhaus verbringt. Geduldig erklärt er ihr daraufhin, dass ihr neues Ferienhaus seine Leidenschaft ist. In Wahrheit spricht er über die Entführung und den geplanten Mord. Der Ausdruck in seinen Augen, als er so begeistert darüber spricht, verrät seine wahren Beweggründe.

© ARTHAUS/STUDIOCANAL

Einer der entsetzlichsten Momente im Film ist, wenn Saskia ihrem Mörder in die Falle geht. Wir blicken über Raymonds Schulter in die weit aufgerissenen Augen seines wehrlosen Opfers. In dieser Sekunde erzählen uns Sakias Augen von den namenlosen Schrecken, die nur in unseren schlimmsten Alpträumen auf uns lauern. Dort finden wir all das Entsetzen, die Angst und die pure Verzweiflung, die ein Mensch in solch einer Situation empfinden muss. Was mit Saskia wirklich passierte, bekommen wir in der Schlussszene des Films zu sehen. Ich erinnere mich noch gut an meine Erstsichtung von SPURLOS VERSCHWUNDEN. Das Finale hat mich buchstäblich vom Sitz gehauen. Der sogenannte tritt in den Magen, der noch lange nachwirkte. Seit dieser Zeit verfolgt mich Sluizers Meisterwerk, dass von seiner nackten, brutalen Kraft bis heute nichts verloren hat. Hervorheben möchte ich noch die Arbeit des Kameramanns Toni Kuhn. Er schwelgt in nüchternen, teils nihilistischen Bildern, die den Zuschauer mehr und mehr aus der Fassung bringen. Diesen schwierigen Balanceakt zwischen Banalität und atemloser Spannung findet man selten.

Die Blu-ray

Endlich hat sich STUDIOCANAL dazu durchgerungen, dieses verstörende Meisterwerk in einer Neuauflage auf den Markt zu bringen. Die Digital-Remastered-Version ist ein echter Fortschritt gegenüber der alten DVD, die nicht mehr erhältlich ist. Das Bild ist über weite Strecken gestochen scharf, der Kontrast perfekt ausbalanciert, der Ton glasklar. Bedauerlich, dass keinerlei Extras den Weg auf die Scheibe gefunden haben.

© ARTHAUS/STUDIOCANAL

Fazit

SPURLOS VERSCHWUNDEN ist ganz sicher einer der besten Psycho-Horror-Thriller der 1980er Jahre. Wer ihn noch nicht kennt, hat jetzt die Gelegenheit das nachzuholen. Durch seine gefühllose Authentizität und seinen überragenden Darstellern entpuppt sich SPURLOS VERSCHWUNDEN als ein zeitloses Meisterwerk.

1993 drehte Regisseur Sluizer mit Jeff Bridges und Kiefer Sutherland ein Remake in den Vereinigten Staaten, dass auf den Namen SPURLOS (THE VANISHING) hört. Die weichgespülte, langweilige US-Version ist ein müder Abklatsch und kein Vergleich zur kompromisslosen Direktheit des Originals.

© Stefan F.

Titel, Cast und CrewSpurlos verschwunden (1988)
OT: SPOORLOOS
Poster
Releaseab dem 23.04.2020 auf Blu-ray und DVD

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RegisseurGeorge Sluizer
Trailer
BesetzungBernard-Pierre Donnadieu (Raymond Lemorne)
Gene Bervoets (Rex Hofman)
Johanna ter Steege (Saskia Wagter)
Gwen Eckhaus (Lieneke)
Bernadette Le Sachê (Simone Lemorne)
DrehbuchTim Krabbê
George Sluizer
KameraToni Kuhn
FilmmusikHenny Vrienten
SchnittLin Friedman
George Sluizer
Filmlänge106 Minuten
FSKab 16 Jahren

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