„Willkommen im Algorithmus“
2017 identifizierte der amerikanische Publizist Timothy Morton das postmoderne Leben als ewigen Algorithmus, der sich selbst stetig weiter optimiert; schließend mit der nicht gerade erbaulichen Beobachtung: „Individuals don’t matter“.
Im Kino ist das Individuum, wenn überhaupt, noch im Programmkino präsent. Auf den größeren Leinwänden laufen die ewig gleichen Algorithmen vor unseren Augen auf und ab. Das Multiverse vervielfachte die Disposition, dass es nichts mehr zu erzählen gibt, sogar fast kreativ. So visuell beeindruckend der 2018 erschienene SPIDER-MAN: INTO THE SPIDER-VERSE auch sein mag, so schlummerte unter der viszeralen Oberfläche doch die endgültige Kapitulation vor dem Geschichtenerzählen, ausgedrückt durch des Filmes Credo: Let’s do this one last time. Da klingt der erste Satz von SPIDER-MAN: ACROSS THE SPIDER-VERSE ja fast wie ein Versprechen: „Let’s do things differently this time“.
Wir erinnern uns. Teenager Miles Morales (Stimme: Shameik Moore), hochintelligent und gewitzt, wird von einer radioaktiven Spinne gebissen. Das wäre in einem Spider-Man-Film nichts allzu Ungewöhnliches, wenn sein New York nicht bereits eine freundliche Spinne aus der Nachbarschaft besitzen würde und die Spinne nicht aus einer Paralleldimension stammen würde. Ein Dimensionsportal öffnet das Multiversum und konfrontiert Miles u. a. mit Spider-Gwen (Hailee Steinfeld), Peter B. Parker (Jake Johnson) und Noir-Spider-Man (Nicolas Cage). Nachdem man das Dimensionsportal notdürftig wieder schloss, wurde in der Postcredit Scene des ersten Teils auch der mysteriöse Spider-Man 2099 (Oscar Isaac) auf den jungen Miles aufmerksam.
ACROSS THE SPIDER-VERSE bietet genau das, was der Titel verspricht. Höher, schneller, weiter. Mehr Spidermen, mehr Dimensionen, bis zur visuellen Überforderung. Dabei arbeiten zwei Filme gegeneinander. Denn auf der reinen Oberfläche muss man den Hut ziehen vor dem Film des Trios Joaquim Dos Santos, Kemp Powers und Justin K. Thompson. Für westliche und nicht Experimentalfilm-Verhältnisse ist das hier Gebotene das Maximum an sensorisch-überforderndem Überwältigungskino, was der Mainstream so hergibt. SPIDER-MAN: ACROSS THE SPIDER-VERSE ist Körperkino, reine ästhetische Kategorie. Klingt dufte? Ist es auch (nicht).
So großartig die visuelle Textur des Filmes ist, so sehr leidet und zerbricht er unter seiner zu erzählenden Geschichte. Als Übeltäter identifizieren muss man hier wohl Phil Lord und Christopher Miller, Hollywoods charmanteste Produktverschleierer. Dieses selbstreflexive Drüberstehen, das Dauerkommentieren, das in der JUMP STREET und dem LEGO-MOVIE sicherlich noch so etwas wie zeitgeistig war, lässt jeglichen viszeralen Effekt von ACROSS THE SPIDER-VERSE verpuffen. Wenn man sich verlieren möchte in den Farben und dem Tempo des Gezeigten, dann plappern die Figuren ohne Punkt und Komma darauf los, nicht selten erinnert das an Twitch-Streamer:innen, die Reaction-Videos aufnehmen.
Besondere Vorsicht (siehe SCREAM 6) ist immer dann geboten, wenn man als Filmkritiker:in dazu aufgefordert wird, ja nicht allzu viel über die bahnbrechende Handlung des zu rezensierenden Filmes zu verraten. Überraschungen darf es in einem bestimmten Teil des Kinos per Definition nicht geben. Tode sind nie von Dauer, auf der guten, wie auf der bösen Seite. Das ist gar nicht als Kritikpunkt gemeint, es liegt in der Disposition der Fortsetzungsgeschichte begründet. Wie auch schon in dunkler Vergangenheit der Artushof als narratologischer Ort nur existieren konnte, wenn seine Ritter wieder in die feindselige Welt auszogen, kann auch der Superheldenfilm, der sicherlich so etwas wie die moderne Entsprechung der Artusepen ist, nur existieren, wenn die Helden einen neuen Schurken bekämpfen müssen.
Noch deutlicher als INTO THE SPIDER-VERSE macht ACROSS THE SPIDER-VERSE dies zu einem Hauptteil seines discourse. Spiderman 2099 als selbsternannter Wächter des Multiversums erläutert recht nachvollziehbar, dass die Spiderman-Diegesen nur existieren könnten, wenn gewisse narrative Parameter eingehalten werden. Eine Art Onkel-Ben-Instanz muss sterben, damit aus großer Macht große Verantwortung entstehen kann. Dass der Film Miles, der sich gegen diese Disposition auflehnen will und damit sein eigenes Genre destabilisieren würde, ist zumindest interessant. Leider verweigert sich ACROSS THE SPIDER-VERSE einer endgültigen Positionierung zu dieser Frage, um die Beantwortung ins Sequel auszulagern. Denn egal, wie Miles sich entscheiden wird, es wird stets ein neuer Spider-Man kommen. Individuals don’t matter. Welcome to the algorithm.
Titel, Cast und Crew | Spider-Man: Across the Spider-Verse (2023) |
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Poster | |
Release | Kinostart: 01.06.2023 ab 04.12.2023 auf UHD, Blu-ray und DVD erhältlich. Direkt bestellen beim Label bestellen. |
Regie | Joaquim Dos Santos Kemp Powers Justin K. Thompson |
Trailer | |
Besetzung | Shameik Moore (Miles Morales) Hailee Steinfeld (Gwen Stacy) Oscar Isaac (Miguel O'Hara) Jake Johnson (Peter B. Parker) Issa Rae (Jessica Drew) Brian Tyree (Jefferson Davis) Luna Lauren Velez (Rio Morales) Rachel Dratch (Direktorin) |
Drehbuch | Phil Lord Christopher Miller Dave Callaham |
Musik | Daniel Pemberton |
Schnitt | Mike Andrews |
Filmlänge | 140 Minuten |
FSK | ab 12 Jahren |