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Sonne und Beton (2023) – Filmkritik

„Der Bordstein hat keine Skyline“

Wie schnell sie doch alle alt werden. In den letzten Jahren beobachteten wir, nicht nur im Kino, sondern gerade auf dem Literaturmarkt eine Vielzahl von autofiktionalen bis -biographischen Texten von Künstler:innen, die über ihre Jugend in den bildungsbürgerlich als Problemvierteln bezeichneten Teilen Deutschlands aufwuchsen. Die Speerspitze darunter war sicherlich Hendrik „Testo“ Bolz‘ Werk NULLERJAHRE, das in einem faszinierenden Mix aus Popliteratur und sozialwissenschaftlichem Essay das Aufwachsen in den „neuen Bundesländern“ in den titelgebenden Jahren zu Beginn des Millenniums skizzierte und eindrücklich illustrierte, wie für vielen gesellschaftlichen Dynamit, der sich erst Jahre später entzünden sollte, der Grundstein gelegt wurde. Das Ausdefinieren eines biographical narratives, das Schreiben eines Bildungsromans, das war schon immer etwas dezidiert Deutsches und ist natürlich gerade dann besonders spannend, wenn es von Autor:innen vorgenommen wird, die wie Testo oder Nura die bestehenden Verhältnisse eher kritisieren, wenn nicht sogar ablehnen.

© Constantin Film

Dass Podcaster und Comedian Felix Lobrecht die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse ablehnt ist eine Behauptung, die nicht mal groß falsifiziert werden müsste, angepasster und systembedienender kann man als Entertainer wohl nicht mehr sein. Die Veröffentlichung seines autofiktionalen Debütromanes SONNE UND BETON könnte, zynisch betrachtet, als etwas verzweifelte Versicherung einer gewissen street credibility gelesen werden, die wohl vor allem für Lobrecht eine archivierte Erinnerung und ein Beweis dafür waren, durch das Aufwachsen in Gropiusstadt doch mehr zu sein als ein Angepasster für Lehramtsstudent:innen jeden Alters. Bei aller Häme muss man diesem Roman lobend attestieren, dass er ob seiner angenehmen Ziellosigkeit und seiner autodiegetischen Fokalisierung bei all dem „Einer von den Jungs“ Gepose doch recht eindrücklich veranschaulicht, wie das Ausdefinieren einer eigenen Identität einen vom Spielball zum aktiven Teilnehmer seiner Umwelt machen kann. Das größte Faszinosum der Autofiktion, die Losgelöstheit der sprachlichen Entität von der körperlichen, die Lobrecht gut bedient, kann ob der verschiedenen Medien natürlich nicht in die nun anlaufende Verfilmung übertragen werden.

© Constantin Film

„Das ist alles genauso passiert. Vielleicht aber auch nicht“ steht auf schwarzem Bild zu Beginn der filmischen Adaption von SONNE UND BETON. Damit ist bereits eines der Hauptbeschäftigungsfelder mit Autofiktion beschrieben: Inwieweit können wir das Beschriebene glauben? Spielen uns Erinnerungen nicht immer einen Streich? Und ist das überhaupt wichtig?

Sommer 2003: Gerhard Schröder verabschiedet die Agenda 2010, aus den Boxen dröhnt Aggro Berlin, das Thermometer klettert konstant über die 30 Grad Marke. Überall in Gropiusstadt steht Security, eine generelle Atmosphäre der Gewalt liegt über dem Viertel. Lukas (Levy Rico Arcos) hat schon früh gelernt, hier gilt nicht „Der Klügere gibt nach“, sondern, „Der Klügere tritt nach“. Der schüchterne Jugendliche gleitet passiv durch sein Leben, sein Lehrer (Leon Ullrich) attestiert ihm zwar ein hohes Gefühl für Sprache und empfiehlt eine gymnasiale Laufbahn, aber dazu fehlt unserem Protagonisten der Mut und der Antrieb. Wohl auch, um ihn zu einer Entscheidung zu zwingen, hat sich das Drehbuch von David Wnendt und Felix Lobrecht dazu entschlossen, den slice-of-life Ansatz des Buches einer konventionellen Dramaturgie weichen zu lassen. Der buch- und filmbeginnende Dealerkampf, den Lukas Kumpel Julius (Vincent Wiemer) anstiftet, ist im Roman nicht mehr als ein weiteres Ereignis im Gropiusstadtleben, im Film ist er der initialisierende Plotmoment. Lukas wird um 500 Euro erpresst und diese müssen nun beschaffen werden. Da passt es gut, dass die Schule der Jungs gerade eine Spende an Computern für den EDV-Unterricht erhalten hat, die man jetzt nur entwenden müsste, um mit dem Erlös der Beute die Schulden zu begleichen.

© Constantin Film

Das Zwängen der Ereignisse in ein klassisches Handlungskorsett schwächt SONNE UND BETON leider häufig mehr, als dass es ihm nutzt. Es ist natürlich begrüßenswert, die eindimensionalen Figuren der Vorlage mit mehr Innenleben zu bereichern, allzu häufig werden nun aber aus Sympathieträgern zweifelhafte Übervorteiler. Am stärksten fällt das bei Lukas Bruder Marco (Luvre47) ins Gewicht. Der dient, selbst mit krimineller Vergangenheit Gropiusstadt entkommen, Lukas im Roman als Mentorfigur. Gewalt und Aggressivität gegenüber ist auch er nicht abgeneigt, im Kontext der Familie entwickelt er aber eine auch für das Milieu ungeahnte Zärtlichkeit. Der Film reduziert ihn auf die Gewalt, wenn Marco und Lukas miteinander interagieren hat man hier nicht das Gefühl von Zusammenhalt, sondern von Bedrohung. Um seine eigenen Schulden zu zahlen, ist sich Marco schlussendlich auch nicht zu fein, seinen eigenen Bruder abzuziehen. Damit bedient der Film leider allzu häufig ein Klischeebild, als dem cinematographisch auserzählten Straßenfilmgenre neue Facetten abzugewinnen.

© Constantin Film

Sowieso kann man SONNE UND BETON als riesiges Mixtape bekannter Versatzstücke aus anderen Gangsterfilmen begreifen. Ganz viel LA HAINE, ein bisschen GOODFELLAS und CITY OF GODS werden hier und da etwas unsauber ineinander gemixt. Einem anderen Film könnte man das glatt als Ideenlosigkeit vorwerfen, bei SONNE UND BETON liegt aber wahrscheinlich ein anderer Fall vor. Der Film emuliert die Selbstsicht der Charaktere, oder eben das, wie sie sich selbst gerne sehen würden und hey, wer würde nicht lieber Vincent Cassel als ein schüchterner Gesamtschüler sein? Am stärksten ist der Film immer, wenn er nicht posen will, sondern einfach bei seinen vier Hauptfiguren Lukas, Julius, Gino (Rafael Luis Klein-Hessling) und Sanchez (Aaron Maldonado Morales) bleibt und ihnen beim Hängen, Posen und Spinnen zusieht.

© Constantin Film

Man kann SONNE UND BETON also auch das vorwerfen, was man der Hauptfigur Lukas an den Kopf werfen würde: Verstell dich doch nicht ständig und steh zu Dir selbst. Denn in diesen Momenten malt der Film ein wahrlich berührendes Porträt von gesellschaftlichen Randexistenzen, die auf der einen Seite Gefangene eines immer wiederkehrenden Kreislaufes sind, indem jeder irgendwann zuschlägt, auch die Erwachsenen, die es eigentlich besser wissen müssten. Die aber in der Freundschaft zueinander aufblühen und sich nicht kampflos dem System ergeben. Und damit sind wir ja auch schon wieder bei dem anderen Gropiusstadt-Klassiker WIR KINDER VOM BAHNHOF ZOO, indem es schon hieß: We can be heroes, just for one day.

© Fynn

Titel, Cast und CrewSonne und Beton (2023)
Poster
RegieDavid Wnendt
ReleaseKinostart: 02.03.2023
Trailer
BesetzungLevy Rico Arcos (Lukas)
Vincent Wiemer (Julius)
Rafael Luis Klein-Hessling (Gino)
Aaron Maldonado Morales (Sanchez)
Luvre47 (Marco)
Johan Grewal (Djamel)
Lucio101 (Cem)
Jörg Hartmann (Matthias)
Derman Eker (Hamudi)
Leon Ullrich (Herr Sonnabend)
David Scheller (Henry)
Imran Chaaban (Momo)
Joel Kamara (David)
Franziska Wulf (Gaby)
Bernd Grawert (Herr Schiezeth)
Nicole Johannhanwahr (Karin)
Gerdy Zint (Adi)
Felix Lobrecht (Shoot)
B-Tight (Kris)
DrehbuchDavid Wnendt
Felix Lobrecht
VorlageBasiert auf dem gleichnamigen Roman von Felix Lobrecht
KameraJieun Yi
MusikEnis Rotthoff
Konstantin Scherer
SchnittAndreas Wodraschke
Filmlänge119 Minuten
FSKAb 12 Jahren

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