Beim Thema Animationsfilm denkt man geografisch meist in eine bestimmte Richtung: in die USA zu Disney. Manch einer denkt vielleicht noch an den Anime in Japan. Aber wenn man vom europäischen Animationsfilm spricht, fallen schwer ein paar Beispiele ein. Vielleicht noch die französische Produktion DER WILDE PLANET (LA PLANÈTE SAUVAGE, 1973) oder die traurige Anti-Atomwaffen-Geschichte im britischen WENN DER WIND WEHT (WHEN THE WIND BLOWS, 1986). Wir wollen jedoch einen Blick nach Ungarn werfen, genauer gesagt in das Jahr 1981 zu SOHN DER WEISSEN STUTE (FEHÉRLÓFIA) von Marcell Jankovics. Wie auch bei seinen europäischen Kollegen verhält sich der Langfilm nicht nach der Systematik eines Märchens oder will vollumfänglich für Familienunterhaltung sorgen. SOHN DER WEISSEN STUTE ist ein farbbrillantes Mythologie-Spektakel, das viele Kunstformen in sich vereint und zudem auch noch eine universelle, schöpferische Legende zu erzählen weiß.
Handlung
Eine trächtige weiße Stute bricht durch die dunklen Ketten aus Dornen und entkommt. Im Schutze eines Baums bringt sie einen Menschenjungen zur Welt. Er will der stärkste Mann der Welt werden und nach dem Hinweis eines großväterlichen Geistes, dass ihn seine Mutter 14 Jahre lang weiter stillen soll, wird er es. Doch die jahrelange Anstrengung der Stute haben ihr sämtliche Lebensenergie genommen und sie stirbt. Jetzt als junger Mann, gibt es keinen Baum auf der Welt mehr, der vor ihm sicher ist und so bekommt er seinen Namen: Baumausreißer. Er begibt sich auf die Reise, um seine zwei Brüder zu finden: Steinzerbrösler und Eisenkneter. Beide ebenfalls mit enormen Kräften ausgestattet, können jedoch nicht ihrem jungen Bruder das Wasser reichen. Gemeinsam machen sie sich auf die Suche nach einem Zugang zur Unterwelt. Denn dort leben drei Prinzessinnen in Gefangenschaft von mehrköpfigen Drachen und jede hat ein kleines Königreich zu bieten.
Eine Sage und kein Märchen
Geister, Prinzessinnen, Drachen, Schlösser und Superkräfte hören sich nach einem Märchen an. SOHN DER WEISSEN STUTE ist es aber auf keinen Fall. Die Geschichte ist eher eine abwechslungsreiche Aneinanderreihung von Sagen. Wie zu Filmbeginn zu lesen ist, ist der Animationsfilm den alten Nomadenvölkern wie den Skythen, Hunnen und Awaren gewidmet. Es kommt einer langen Geschichte gleich, die jeden Abend in anderen Variationen am Lagerfeuer erzählt wird. Die Handlung ist aber nicht das Überwältigende an diesem Filmklassiker, sondern die visuelle Kunst. Auch die hebt sich von bekannten Stilen aus Märchen und Kindertrickfilmen ab. Überwiegend zweidimensional gezeichnet sind Kunstformen wie der Jugendstil, Art déco, Pop Art oder Malerei der osteuropäischen Propagandaplakate zu erkennen.
Es lässt sich jedoch nie eine konkrete Stilrichtung ausmachen. Der filmhistorische Einfluss auf Marcell Jankovics` Arbeit ist somit nie gekünstelt, eine eigene Handschrift ist klar zu sehen. Das besondere Highlight sind die Farben und fließenden Übergänge zwischen den Motiven, die dem Ganzen eine schöpferische Ebene verleihen, ohne religiös belehrend zu wirken. Wer jetzt an 80er-Jahre und Sowjetunion mit tristen Farben in Braun und Grau denkt, irrt sich. SOHN DER WEISSEN STUTE ist eine unerschöpfliche Symbiose aus vielerlei Couleur: Leuchtendes Sonnengelb trifft auf atlantisches Blau, leidenschaftliches Weinrot auf dunkles Schwarz oder leuchtendes Himmelblau auf erdiges Braun. Eine wahrliche Farbenpracht, die nichts von ihrer Kraft über all die Jahre verloren hat und immer noch dazu einlädt sich von ihr entführen zu lassen.
Wahrhaftig, nicht psychedelisch
Wenn die ersten Formen sich immer wieder in etwas Neues verwandeln und Geometrien neue Muster erschaffen, ist man an psychedelisch Visuelles aus den 1960er und 1970er erinnert. Doch in SOHN DER WEISSEN STUTE ist dies nur ein Bruchteil, denn nichts wirkt hier bewusstseinserweiternd, sondern rein bildlich erzählerisch. Es ist eine Freude Eisenkneter beim Formen von Werkzeugen zuzusehen oder wie Steinbrösler mit einem Wisch seines Unterarms eine glatte Steintafel erzeugt, zum Beispiel in der Szene, wenn ein Schwert geschmiedet werden soll. Erst nachdem alle drei Brüder ihre Talente richtig einsetzen, wird ein Schwert entstehen, das nahezu unzerbrechlich ist. Die Männer haben auch eine unverkennbare Beziehung zum Handwerk, eines Tischlers, Schmieds und Steinmetzes.
Die Übergänge und Verformungen dienen nicht dem visuellen Trip des Zuschauers, sondern erschaffen eine spannende Geschichte, die immer wieder aus neuen Etappen besteht. Schöpfer Marcell Jankovics hat stets in Interviews betont, dass keine Drogen beim Produktionsprozess involviert waren. Es sind viele Monate harter Arbeit, die man in jeder Sekunde dieses Bildrausches sieht. Zudem wird auch visuell immer wieder der Verweis auf Sternenbilder und deren Mythologie angedeutet wie auch der obsessive Einsatz der Zahl Drei.
Alle guten Dinge sind drei.
Wenn einmal die Aufmerksamkeit auf diese Zahl gelenkt ist, entdeckt man sie immer wieder. Drei Brüder, drei Prinzessinnen, drei Mal muss Brei gekocht und ein Seil geknüpft werden, drei Mal geht es mit dem Kessel in die Unterwelt, das Schwert muss drei Mal geschmiedet werden und vieles mehr. Optisch zeigt es sich in der Form eines Dreiecks wieder. Aber auch andere Zahlen tauchen häufiger auf. Die Drachen, welche die Prinzessinnen gefangen halten, haben drei, sieben und zwölf Köpfe. Die Schlösser haben die gleiche Anzahl an Türmen wie die Drachen Köpfe. Die Schurken, welche der Baumausreißer in drei Kämpfen besiegen soll, stehen für Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Der Dreiköpfige ist äußerlich wie ein Steinmonster gestaltet. Der Siebenköpfige stellt mit seiner Rüstung voller Kanonen und Waffen die Zeit des Kalten Krieges, der Aufrüstung und die damalige Gegenwart der 1980er-Jahre dar. Der zwölfköpfige Drache gleicht einer Stadt, aus komplexen Blöcken, vielleicht ein Blick in die digitale Welt der Computer und Urbanisierung. So eine visionäre Weitsicht bereits 1981 einzubauen, zeugt nicht nur von Kreativität, sondern auch gesellschaftlichem Verständnis.
Farbpracht in HD
2019 hat sich das ungarische Filminstitut eine Restaurierung von SOHN DER WEISSEN STUTE verdient gemacht. Das Ergebnis ist fantastisch. Nicht nur die Farben sind strahlender als je zuvor ohne übersättigt zu wirken, sondern auch der Ton ist sauber abgemischt. Die experimentelle Filmmusik von István Vajdas, der sich von Mönchsgesängen in Tibet hat inspirieren lassen, kommt gut zur Geltung wie auch insgesamt das stimmige Sound-Design. Dieses neue Master gibt es nun dank des Filmlabels Bildstörung in einer schönen Special-Edition zu kaufen.
Der Ton liegt im ungarischen Original vor und wurde werkgetreu Deutsch untertitelt. Auch wenn das Bildverhältnis 4:3 ist, gelingt ein problemloses Eintauchen in diese Sagenwelt dank der kristallinen Bilder. Auch ein bisschen Filmkorn wurde als Zeitzeuge erhalten. Die Amaray im Schuber verfügt über eine Bonus-DVD mit zwei Kurzfilmen von Jankovics (SISYPHUS, 1974 und KAMPF, 1977). Zusätzlich gibt es ein 2020er-Interview mit dem Regisseur (30 Min.), PANNONIA ANNO – Eine Dokumentation über das ungarische Filmstudio (2013, 98 Min.) und einen Trailer. Man sollte noch bei der ersten Auflage zugreifen, denn diese enthält ein 20-seitiges Booklet mit einem Text von Filmwissenschafts-Professorin Jennifer Lynde Barker in Deutsch. Eine grandiose Edition von Bildstörung, die keine Wünsche offen lässt, außer noch mehr Filme von Marcell Jankovics aus den Händen des Labels zu wollen.
Fazit
Ein visueller Augenschmaus, der seine Herkunft nicht verheimlicht und vielschichtig interpretierbar ist. Nicht ohne Grund auf vielen Liste der besten Animationsfilme aller Zeiten und für alle Interessierten unbedingt eine oder mehrere Erfahrungen wert.
Titel, Cast und Crew | Sohn der weißen Stute (1981) OT: Fehérlófia |
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Poster | |
Regisseur | Marcell Jankovics |
Release | ab dem 27.11.2020 in einer Special-Edition: Blu-ray oder DVD Am besten direkt beim Label-Shop versandkostenfrei bestellen. Ihr wollt den Film bei Amazon kaufen? Dann geht über unseren Treibstoff-Link: |
Trailer | |
Drehbuch | Marcell Jankovics, László György |
Kamera | Zoltán Bacsó |
Filmmusik | István Vajda |
Schnitt | Magda Hap, Mária Kern, Valéria Pauka, Judit Szarvas |
Filmlänge | 81 Minuten |
FSK | ab 12 Jahren |
Chefredakteur
Kann bei ZURÜCK IN DIE ZUKUNFT mitsprechen / Liebt das Kino, aber nicht die Gäste / Hat seinen moralischen Kompass von Jean-Luc Picard erhalten / Soundtracks auf Vinyl-Sammler / Stellt sich gern die Regale mit Filmen voll und rahmt nur noch seine Filmposter