„Method Acting“
SERPICO ist seither ein entscheidender Film im Schaffen von Al Pacino. Für ihn persönlich, so betonte es der Mime immerzu, stellt es eine seiner wichtigsten Arbeiten dar – vielleicht die wichtigste überhaupt. 1973, ein Jahr nach dem Übererfolg mit DER PATE (THE GODFATHER, 1972, R: F. F. Coppola) suchte Pacino zusammen mit Regisseur Sidney Lumet nach der perfekten Formel für Kinorealismus. Bestandteil sollte ein von Korruption und Kriminalität geprägtes Lebensumfeld sein, dreckig und düster wie das wahre Großstadtleben selbst und worin der Schauspieler als Method Actor zum Publikum spricht, es direkt adressiert. Fürs Kino erzählte SERPICO die wahre Geschichte des Frank Serpico (Al Pacino) neu, eines New Yorker Polizisten, der relativ schnell zwischen die Fronten von Gut und Böse, von Gesetzeshütung und Machtmissbrauch gerät – in einer Welt, wo die Menschen wohl am dringlichsten zeitnahen Schutz brauchen: im urbanen Moloch voller Verbrechen und Gewalt, auch auf offener Straße. 1973, als der Film erschien, trat der reale Frank Serpico aus dem Polizeidienst aus.
Kurz zur Story: 1959 tritt Francesco Vincent „Frank“ Serpico dem New York City Police Department bei. Der Mann, der schon als kleiner Junge Polizist werden wollte, stellt schnell fest, dass die städtischen Behörden von Korruption durchtränkt sind und Beamte regelmäßig die Verdächtigen misshandeln. Serpico, der sich weigert, Schmiergelder einzustreichen und eine „saubere Tour“ fahren will, wird von seinen Kollegen zunehmend unter Druck gesetzt. Beim Versuch, die Missstände zu melden, muss Serpico mehrfach Versetzungen hinnehmen. Man will ihn aus dem Weg haben. Dennoch wird er von Einigen durch seine gründlichen und beispiellosen Methoden bei der Verbrechensbekämpfung geschätzt. Serpico steht als Vollblut-Polizist immerzu zwischen zwei Fronten: zwischen den Verbrechern auf offener Straße und seinen kriminellen Kollegen, die ihn ans Messer liefern wollen. Sein zunehmend überschäumendes Temperament und seine Verbissenheit, den einzigen – seinen – Weg zu gehen, türmen sich zu einem schier unüberwindbaren Hindernis vor ihm auf. Die Luft wird dünn für Serpico, sein Platz gering, die (Lebens-)Uhr tickt.
Die 1970er waren – ich darf es immer wieder betonen: mein Lieblingsjahrzehnt des Kinos – eine Phase im internationalen Spielfilm, wo besonders mutig und ideenreich konzipiert und inszeniert wurde. Nicht nur im Rahmen des New Hollywood, wie in diesem Fall, wurden die Grenzen des Vorzeigbaren und Darstellbaren neu gesetzt, wurde nach einer neuen Stufe von Intensität gesucht. SERPICO ist hierfür vielleicht nicht das beste Beispiel, da er doch recht zugänglich ist, doch stand auch er voll im Trend eines geradezu unnachgiebigen Realismus im US-Kino. Als fast ausschließlich an Originalschauplätzen gedreht wurde und nichts beschönigt wurde – und die (immer noch) tiefsitzende Angst und Paranoia der US-Gesellschaft aus jeder filmkörnigen Pore des Zelluloid triefte und wie eine klaffende Wunde, immerzu für uns Zuschauer sichtbar, freigelegt wurde. SERPICO ist und war immer auch ein politischer Film [umso trauriger, dass sein Star heute eher mit konservativ-problematischen Aussagen von sich Reden macht, aber das gnädigerweise nur am Rande].
In diesen narrativen wie ästhetischen Realismus fügen sich auch Pacinos andere Darbietungen jener Zeit mit ein, so etwa PANIK IM NEEDLE PARK (THE PANIC IN NEEDLE PARK, 1971, R: Jerry Schatzberg) oder HUNDSTAGE (DOG DAY AFTERNOON, 1975), letzterer von SERPICO-Regisseur Sidney Lumet und ähnlich wie dieser ein großer Erfolg bei Kritik und Publikum. Die allgegenwärtigen Themen um Kriminalität, Gewalt, Sex und Drogen – unter einer ernsthaften Aufarbeitung wohlgemerkt – schienen wie gemacht für das (US-)Kino der 1970er. Der Cop-Thriller erlebte in dieser Dekade genau wie der Gangster-/Mafiafilm seinen vorläufigen Höhepunkt: DIRTY HARRY (1971), FRENCH CONNECTION I + II (1971; 1975), Martin Scorseses HEXENKESSEL (MEAN STREETS, 1973). . . die Liste ließe sich bei hoher Qualität lange fortführen.
Sidney Lumet, der sich im Laufe seiner Karriere wiederholt und ergiebig mit dem Spannungsfeld Jurisdiktion/Exekutive auf Spielfilmebene beschäftigte, setzte mit der stilsicheren Inszenierung von SERPICO einen Markstein. Zusammen mit dem Protagonisten werden wir als Zuschauer von einer Location in die nächste „versetzt“, spüren den immerzu authentischen Vibe des elektrisierenden und umtriebigen Kosmos des Big Apple, jedoch abseits von Wahrzeichen und Postkartenbildern, sondern The Real Thing: Seitenstraßen, deren Betreten bereits immense Aufregung verursacht, oder stickige Interieurs und einengende Korridore, in die das Leben nur so hineingepfercht wurde. Zeit und Raum, das lässt uns SERPICO sehr schnell spüren, ist ein Luxusgut und dementsprechend rar. Tempo, Dynamik und sorgfältige Bewegungschoreografien werden in nahezu jeder Sequenz von Lumets Vorzeige-Thriller vermittelt. Und Al Pacino löst sich bewusst von seiner subtilen und unterkühlten Performance des Michael Corleone jeweils ein Jahr vor und nach diesem Film und wirft sich dafür mit aller Kraft in seine Leinwand-Version des berühmten Polizisten. Vom Gangster zum Cop mit allen dazugehörigen Kontrasten: dem glatten Antlitz des baldigen Clan-Oberhaupts der Corleones, das die zunehmende innere Leere und Kälte perfekt nach außen trägt, wird mit Frank Serpico die Vielfältigkeit des Großstadtlebens – samt Kostümen und Frisuren in all ihren Facetten – anhand von einer einzigen Hauptfigur erzählt.
Interessant ist in diesem Zusammenhang noch die doppelte Bedeutung des filmwissenschaftlich etablierten Begriffs Method Acting bei SERPICO. Beschreibt der Terminus konkret das (taffe) Konzept von Schauspieler*innen, wonach monate-, manchmal jahrelang, auf eine bestimmte Rolle hingearbeitet wird und diese samt autobiografischen Details zu größtmöglicher Authentizität und Intensität gebracht wird, spiegelt sich dieser performative Geist auch innerhalb der Rolle des Frank Serpico wider. Denn ähnlich wie Pacino oder Kollege Robert DeNiro als Akteure beim Film, war der wahre Frank Serpico selbst ein Künstler – ein Schauspieler. Dieser (Doppel-)Bezug, also als Person methodisch mit dem betreffenden Umfeld zu verschmelzen und darin als elementarer Teil aufzugehen, wird in der 36. Minute des Films durch die Hauptfigur selbst vermittelt. Auf die Frage, warum er denn als Einziger in Zivil und mit eigenwilliger Kopf- und Gesichtsbehaarung den Dienst antreten wolle, betont er:
„Es ist nicht so sehr eine Frage der Courage, sondern der Motive, Sir. [. . .] Ich denke es ist an der Zeit, dass wir ein bisschen mehr Kontakt zur Straße herstellen. So wie es jetzt aussieht, sind wir völlig isoliert, Sir. Wir bewegen uns abseits dessen, was um uns herum passiert. Sehen Sie, da läuft ein Geheimpolizist verkleidet durch die Straßen, mit schwarzen Schuhen und weißen Socken – sowas tragen nur Polizisten und jeder weiß das.“
In Gegenüberstellung dazu ist die Aussage des realen Frank Serpico zu Beginn der gleichnamigen Doku, die auf der aktuellen HD-Heimkinoveröffentlichung mit enthalten ist, höchst passend und interessant: „Ich musste zur Arbeit. . . ich sagte mir: ‚Frank, heute Nacht trittst du auf die Bühne hinaus. Dein Publikum ist da draußen und du musst es wirklich überzeugen. Du bist ein Schauspieler‘, sagte ich mir. Ich musste meine Rolle einfach gut verkaufen.“
Durch die sorgfältige Inszenierung, den unmittelbaren, unbeschönigten Stil, den Regisseur Sidney Lumet u. a. auch in DER PFANDLEIHER (THE PAWNBROKER, 1964), SEIN LEBEN IN MEINER GEWALT (THE OFFENCE, 1973) und THE VERDICT – DIE WAHRHEIT UND NICHTS ALS DIE WAHRHEIT (THE VERDICT, 1982) zur Vollendung brachte, sowie durch das karriereprägende Method Acting von Al Pacino darf SERPICO völlig zurecht als unsterblicher Klassiker des Polizeifilms gelten. Endlich erscheint der Film auch in einer angemessenen Restaurierung.
Neue Restaurierung und Extras
Gescannt und restauriert in 4K vom Original-Filmnegativ bietet die neue (U)HD-Version von SERPICO ein großartiges Bild. Bereits vom Vorspann an und in den ersten fotografischen Bildern ist ersichtlich, dass das Filmisch-Originäre des Werks beibehalten wurde: keine digitale Nachschärfung – etwa bei den Konturen der gleißend weißen Lettern der großen Schriftzüge zu Beginn – oder Manipulation bei Helligkeit und Kontrast ist zu vernehmen. Das Filmbild ist knackig und klar entsprechend der nun super-hochauflösenden Wiedergabe seiner fotografischen Inhalte. Die Farben sind kräftig, aber nicht über den intendierten, größtenteils entsättigten Look hinaus. Details sind vielfältig und ermöglichen eine faszinierende Neubetrachtung des Films für das Heimkino. Auch der Ton wurde restauriert und ist wahlweise in Englisch, Deutsch und Französisch in den Originalformaten (Stereo) anwählbar (Untertitel: Deutsch, Französisch). Hierbei ist noch zu sagen dass es bisher drei (!) verschiedene HD-Master im europäischen Bereich gab: eine alte DVD (2003), eine Neuauflage auf DVD sowie Blu-ray-Premiere (2010) sowie eine restaurierte HD-Präsentation in UK durch Eureka!/Masters of Cinema Series (2014). Doch diese brandneue Restauration, die auf Single-Blu-ray bereits zu günstigen Preisen (unter 10 Euro) angeboten wird, ist das Maß der Dinge. Sie steht stellvertretend für die hervorragende Arbeit von 4K-Restaurationen am Original-Filmmaterial, die Studiocanal bereits seit einiger Zeit leistet: einige wichtige Titel erstrahlten so bereits in völlig neuem Licht und bereiten Sammlern in aller Welt Kopfzerbrechen, welchen man denn nun unbedingt ersetzen sollte. Wie immer gilt auch hier: Es ist Geschmackssache und letztlich entscheidet der Titel selbst bzw. welche Bedeutung er für den Betrachter hat. Empfohlen seien an dieser Stelle z. B. die aktuellen Restaurierungen von DIE DREI TAGE DES CONDOR (1975), FLASH GORDON (1980) oder TOTAL RECALL (1990). Viele weitere Titel (nicht nur im Studiocanal-Katalog) sollen folgen.
Als wahrlich sehenswerte Extras wurden die bekannten jeweils halbstündigen Featurettes „Sidney Lumet über New York. Eine Liebeserklärung“ und „Auf der Suche nach Al Pacino“ beigefügt. In perfekter Ergänzung dazu gesellt sich die noch relativ neue, spielfilmlange Dokumentation „Frank Serpico“ (98 Minuten) von Antonino D’Ambrosio aus dem Jahr 2017: An der Seite des echten Frank Serpico, bei Dreharbeiten bereits 80 Jahre alt, reisen wir zurück an die Originalschauplätze in New York und begegnen verschiedenen Weggefährten aus Serpicos Leben: von ehemaligen Polizeikollegen und Freunden bis hin zu Beteiligten rund um die Publikationen wie Zeitungsberichten, Peter Maas’ berühmtem Roman und zuletzt auch Drehbuch und Film. Die reflektierten Aussagen der zahlreichen Beteiligten zeichnen ein spannendes wie dramatisches Leben nach, das auch außerhalb von Lumets Spielfilm eine relativ breite Öffentlichkeit erreichte – bis es dem echten Serpico zuviel wurde und er 1972 über die Schweiz in die Niederlande auswanderte, bis er 1980 nach dem überraschenden Tod seiner vierten Frau in aller Stille nach New York zurückkehrte, wo er bis heute lebt und unter Depressionen leidet.
Fazit
SERPICO ist einer der besten Polizeifilme, die je gedreht wurden. Al Pacinos darstellerische Leistung ist herausragend, die Inszenierung unter der Regie von Sidney Lumet vorbildlich. Die nüchterne und zugleich spannende Adaption der Geschichte des realen Frank Serpico, der in den 1960er Jahren wiederholt gegen Korruption und Gewalt in den eigenen Reihen kämpfte, macht SERPICO zu einer düster-schimmernden Perle des New Hollywood. Dank spektakulärer 4K-Restaurierung vom Original-Filmmaterial erstrahlt Lumets wegweisender Polizeithriller in neuem Glanz und mit interessanten Extras – Pflichtanschaffung für jede gepflegte Filmsammlung.
Titel, Cast und Crew | Serpico (1973) |
Poster | |
Regisseur | Sidney Lumet |
Release | ab dem 19.11.2020 mit neuer Restaurierung auf UHD, Blu-ray und DVD Ihr wollt den Film bei Amazon kaufen? Dann geht über unseren Treibstoff-Link: Oder direkt im ARTHAUS-Shop bestellen >>> |
Trailer | |
Besetzung | Al Pacino (Officer Frank "Paco" Serpico) John Randolph (Chief Sidney Green) Tony Roberts (Bob Blair) Jack Kehoe(Tom Keough) Biff McGuire (Inspector McClain) Barbara Eda-Young (Laurie) Cornelia Sharpe (Leslie Lane) John Medici (Pasquale) James Tolkin (Lt. Steiger) M. Emmet Walsh (Chief Gallagher) Kenneth McMillan (Charlie) |
Drehbuch | Waldo Salt Norman Wexler |
Kamera | Arthur J. Ornitz |
Filmmusik | Mikis Theodorakis |
Schnitt | Dede Allen Richard Marks |
Filmlänge | 130 Minuten |
FSK | ab 16 Jahren |
Liebt Filme und die Bücher dazu / Liest, erzählt und schreibt gern / Schaltet oft sein Handy aus, nicht nur im Kino / Träumt vom neuen Wohnzimmer / Und davon, mal am Meer zu wohnen