„Begeisterung“
Als ich vorletztes Jahr an dieser Stelle das Buch „Endstation: Gänsehaut“ vorgestellt habe, war dort bereits im ersten Kapitel ausführlich über den Geisterfilm zu lesen („Die Geister, die ich rief“). Autor Christian Keßler setzt das im Folgenden besprochene Werk, SCHLOSS DES SCHRECKENS (THE INNOCENTS, 1961), als zweiten Titel überhaupt an den Anfang seiner Monographie und bezeichnet ihn gar als seinen „Lieblings-Horrorfilm“. Allgemein nimmt der Geisterfilm mit seinem eher unblutigen Grusel einen besonderen Stellenwert bei ihm ein (das erste Buchkapitel umfasst gleich ein Viertel der Publikation). SCHLOSS DES SCHRECKENS und zuvor noch DER UNHEIMLICHE GAST (THE UNINVITED, 1944), jener von Keßler als Prototyp des Geisterfilms an allererster Stelle genannt, hatte ich beide noch nicht gesehen und mein Interesse war sofort geweckt. Ich konnte eine recht günstige deutsche Blu-ray von SCHLOSS DES SCHRECKENS ausmachen, doch aus mir schleierhaften Gründen fand diese nicht sogleich den Weg in den Warenkorb bzw. meine Sammlung. Umso erfreuter war ich, als vor einigen Wochen eine neue, vielversprechende Heimkino-Edition durch das Label capelight pictures angekündigt wurde. Die Recherche ergab, dass capelight hierzulande auch die vorherigen Editionen verantwortete, die allesamt mit restauriertem Bild und Bonusmaterial gesegnet waren. Nun also die Rolls-Royce-Variante im schicken Mediabook. Sie wird diesem großartigen Film nur gerecht.
Grusel-Juwel
Jack Claytons Filmadaption des 1950 erschienenen Bühnenstücks – das wiederum auf der Romanvorlage „The Turn of the Screw“ (1898) basiert – ist ein wunderbar schauriger und stimmungsvoller Film. Unter den drei Drehbuchautoren befand sich kein Geringerer als Truman Capote, der mit seinen Kollegen den Stoff leinwandtauglich machte. Abseits vom garstigen Horror, der ein Jahrzehnt später sein Publikum finden sollte, spürt dieser komplett in Schwarzweiß gedrehte Haunted-House-Grusler noch auf subtile Weise den Schattenzonen menschlicher Seelen nach.
Miss Giddens (Deborah Kerr) wird als neue Gouvernante in einem ansehnlichen Anwesen für die oberste Verantwortung zweier Kinder eingestellt. Flora (Pamela Franklin) und Miles (Martin Stephens) erscheinen bereits zu Beginn als Hinterbliebene, als Opfer adoleszenter Autorität, wenn etwa ihr gesetzlicher Vormund keinerlei Zeit mit ihnen „verschwendet“, wie der Junge selbst an späterer Stelle herzerweichend formuliert. Die wohlwollende und doch resolute Miss Giddens scheint perfekt für ihre neue Aufgabe, findet sich aber wenig später in einer eigentümlichen, isolierten Welt voller Fragen und Geheimnisse wieder. Des Nachts hört sie Stimmen, die durchs Haus wandern und Phantome begegnen ihr vereinzelt gar zu Tage. Im weiteren Verlauf der Handlung spürt sie den Hintergründen um ihren Dienst als Gouvernante sowie der persönlichen Geschichte von Miles und Flora nach. Es wird sie – und uns – erschrecken, was im Glanz des fahlen Lichts zum Vorschein kommt.
Ästhetische Entfaltung
Zusammen mit seinem Bildgestalter Frederick William „Freddie“ Francis konzipierte Regisseur Jack Clayton (DER WEG NACH OBEN / ROOM AT THE TOP, 1959; DER GROSSE GATSBY / THE GREAT GATSBY, 1974) eine malerische Schauermär in epischem Breitbild. Gedreht in Cinemascope, stellt dieses Format ein eher untypisches Merkmal damaliger Horrorfilme dar, die ihre beklemmende Klaustrophobie vorwiegend aus Vollbild füllenden Nahaufnahmen und dem unsichtbaren Bildraum jenseits der Kadrage bezogen, in dem das Unbekannte zu warten schien. Clayton und Francis arbeiten bei SCHLOSS DES SCHRECKENS noch ebenso mit dem Konzept des Unscheinbaren bzw. Unterbewussten, wenn sich in den gezeigten Bildern das Grauen kaum grafisch manifestiert und die Angst vielmehr in nebulösen, nicht eindeutig greifbaren Szenen unterschwellig erwächst. Entlang von Kerrs Protagonistin ist es die persönliche Vorstellung des Zuschauers, in der das Schaudern herangezüchtet wird.
Mit den Details einer Handvoll pointierter Dialoge und dem intensiven mimischen Spiel der Akteure verbinden sich kleine Bausteine des Horrors zum einem großen unheilvollen Ganzen. Das hervorragende Kostüm- und Set-Design sowie die Bildgestaltung (Einstellungsgrößen, Kamerabewegung und Schnitt) transportieren die düster-elegische Stimmung des Films perfekt. Dabei wird das Breitbildformat gewinnbringend ausgenutzt, nichts wirkt nebensächlich, alles hat seinen Zweck. Zahlreiche Halbtotalen reflektieren die beachtliche Dimension des verwunschenen Hauses und lassen uns als Zuschauer darin verlieren. Doch am wirkungsvollsten erscheinen die seitlichen Bildinhalte um die Charaktere herum, ob nun bei Nahaufnahmen oder in weiterer Entfernung; diese Dunkelbereiche – oder im wahrsten Wortsinne: Grauzonen – sind essenzielle Bestandteile des filmsprachlichen Narrativs. Wenn etwa in einer ominösen Erscheinung Miss Giddens’ die bildfüllende Ansicht eines Seeufers geisterhaft stillsteht (ein, zwei montierte Standbilder im Hintergrund), blicken wir mit ihr, umrandet von trockenem Schilf und „totem“ Wasser, in die Inkarnation der puren Glücklosigkeit. Wir dürfen zweimal hinsehen, sodass wir es inmitten der gezielt eingerahmten Umgebung wiederholt erkennen – eine inszenatorische Aufarbeitung des Begriffs „Trugbild“ –, doch mit der schlussendlichen Erkenntnis, die umso stärker wirkt, brennt sich der Schrecken tief in unser Bewusstsein ein.
Verlorene Seelen
Alle Charaktere – Miss Giddens, Flora, Miles, die Haushälterin sowie Nebenfiguren – erscheinen zunehmend als verlorene Seelen inmitten dieses Geisterkabinetts. Während auf die Kinder eine kaum zu entschlüsselnde Geschichte aus jüngerer Vergangenheit projiziert wird, kann die Protagonistin, und wir mit ihr, bald nicht mehr glauben, was real und was Einbildung ist. Dies war auch ein entscheidender Kniff im finalen Drehbuch durch Capote, der Miss Giddens’ Einschätzungen als zunehmend ambivalent zeichnete. Der Film spielt durchweg mit Erwartungen und bindet dabei auf subtile Weise beängstigende Optionen der Wirklichkeit mit ein. Sind Miles und Flora Opfer von Kindesmissbrauch? Sind Miss Giddens’ Eingebungen bloße Wahnvorstellungen, teils Ausdruck eigener sexueller Repression? Auf solch anspruchsvolle und schwierige Fragen gibt der Film keine eindeutigen Antworten – aber er wirft sie immer wieder auf und beschäftigt uns Zuschauer auf höchst kunstfertige Weise damit. Reflexionen, gespiegelte Bilder, sind der visuelle Schlüssel des Films, einerseits innerhalb der Einstellungen und zuletzt in Rückbezügen als Entsprechungen zuvor gezeigter Motive. Anfang, Finale und die dezisiven Momente dazwischen. . . SCHLOSS DES SCHRECKENS ist ein perfekt durchkomponierter Horrorfilm mit zahlreichen psychologischen Komponenten. Von der renommierten britischen Tageszeitung The Guardian wurde das Werk im Jahr 2010 auf Platz 11 der „25 besten Horrorfilme aller Zeiten“ gewählt.
Rolls-Royce Phantom – Das Mediabook von capelight pictures
Wie anfangs erwähnt, stammen auch die bisherigen DVD- und Blu-ray-Versionen im deutschen Sprachraum von unserem beliebten Label capelight. Die DVD-Erstauflage (2006) beinhaltete bereits die komplette Hörspielproduktion „Die Unschuldsengel“ nach der Romanvorlage als Extra, für die deutsche Blu-ray (2012) konnten einige Specials der zwei Jahre zuvor erschienenen britischen Scheibe (BFI) lizensiert werden, während eine In-House-Restauration (2K) ein damals neues Bild bot. 2014 allerdings legte das wohl bedeutendste internationale Label überhaupt, The Criterion Collection (USA) mit einer definitiven Restauration nach. Das aktuelle Mediabook (2020) von capelight vereint nun hierzulande die Höhepunkte aller bisherigen Veröffentlichungen in einer formidablen Edition.
Als Erstes fällt die stilvolle Gestaltung dieses doch recht erschwinglichen Mediabooks auf. Capelight lässt sich für seine Veröffentlichungen immer etwas einfallen und hier begeistert bereits die Finalisierung des Coverdesigns: eine hübsch zusammengestellte Variante aus dem Motiv des Original-US-Plakats plus mittels reflektierender Rotfolie hervorstechendem deutschen Verleihtitel. Auch die Rückseite ziert ein farbiges Original-Motiv und die Rotfolie hebt punktuell stets auch den Originaltitel und den Namen den Hauptdarstellerin hervor. Da vergeben wir schon einmal die Topnote in Sachen Design.
Das Bild vom 2014er-Remaster durch Criterion bietet auf Basis eines 4K-Scans vom Original 35mm-Negativ ein optimales Seherlebnis. Dabei unterscheidet sich das Bild signifikant vom dem der britischen BFI-Blu-ray, welches an den Rändern beschnitten ist und zudem digital nachgeschärft wurde und häufig zu dunkel erscheint (hier ein direkter Vergleich). Das neuere capelight/Criterion-Bild ist ein wahrer Augenschmaus und lässt die vielen Grautöne und Schattierungen dieses Schwarzweiß-Klassikers vollumfänglich zur Geltung kommen. Der Ton liegt hier in verlustfreiem Mono/Stereo-Upmix (Englisch Original) sowie in der deutschen Sprachfassung vor; die technische Bezeichnung für das Tonformat lautet LPCM, also „linear pulse code modulation“, was prinzipiell dem der Criterion entspricht, wobei dort ein Kanal (Mono 1.0) und bei der capelight-Fassung nun 2.0 angegeben ist. Im Ergebnis klingt der Ton entsprechend seines Alters makellos, klar und in ausgewählten Szenen auch überraschend räumlich, etwa wenn eine besonders gespenstische Stimmung durch die Gesänge der Kinder heraufbeschworen wird. Bild und Ton erhalten von mir die absolute Referenznote.
Bei den Extras* wurden viele Höhepunkte sorgfältig zusammengetragen, hier der Übersicht halber nun alle Spezifikationen des aktuellen Mediabooks im Überblick:
- Ton: Deutsch, Englisch 2.0
- Untertitel: Deutsch, Englisch
- Einleitung von Kulturhistoriker Sir Christopher Frayling (26:02 Min.)
- Audiokommentar von Sir Christopher Frayling in Spielfilmlänge
- Featurette „Hinter den Kulissen“ (25:01 Min.)
- Featurette „Das Haus“ (6:56 Min.)
- Featurette „Die Unschuld des Henry James“ (7:59 Min.)
- Das Kostümdesign von Motley (14:25 Min.)
- Original Kinotrailer (2:54 Min.)
- Hörspiel „Die Unschuldsengel“ (73:02 Min.)
- Kurzfilm „Ultima Thule“ (19:03 Min.)
* bei sämtlichen Extras sind optional deutsche Untertitel anwählbar!
Zudem liegt dem Mediabook, wie der Name impliziert, ein Booklet bei, das sauber verarbeitet in der Mitte zwischen den beiden Trays (Blu-ray und DVD inhaltsgleich) fixiert wurde. Es enthält einen ausführlichen Text von Daniel Wagner, seines Zeichens studierter Journalist und Filmwissenschaftler und aktuell Redakteur bei ZDFneo. Wagner steuerte bereits zu einigen der letzten capelight-Titel Texte bei und passt sehr gut ins Format: verständlich und informativ geschrieben, erfahren wir hier u.a. Hintergründe zur Romanvorlage, der Gothic Fiction „The Turn of the Screw“ (1898), sowie der Theater-Adaption anno 1950. Regisseur Clayton und Hauptdarstellerin Kerr werden in Unterkapiteln porträtiert und zuletzt wird thematisch auf die besondere Atmosphäre des Films verwiesen. Zusammenfassend bietet dieser Text einen guten Wissensausbau zum Film, die wichtigsten Personen vor und hinter der Kamera finden Erwähnung und ein kurzes Resümee zur Rezeption des Klassikers beschließt die Zeilen. Eine spezifische, bildliche Analyse zu ein oder zwei Szenen dieses stimmungsvollen Films hätte ich noch sehr schön gefunden.
Fazit
Capelight legt mit der in allen Bereichen noch einmal optimierten Mediabook-Edition von SCHLOSS DES SCHRECKENS eine der Top-Veröffentlichungen des Jahres vor. Der Film selbst ist überaus sehenswert und über die Jahrzehnte zum unsterblichen Klassiker avanciert. Die besondere Sorgfalt und Liebe, die dem Werk innewohnt, spiegelt sich in sämtlichen Spezifikationen dieser Heimkino-Fassung, die nun als die definitive Version für zu Hause gelten darf.
SCHLOSS DES SCHRECKENS ist auf Platz 4 unserer Liste, der besten Horrorfilme der 1960er-Jahre gelandet.
Titel, Cast und Crew | Schloss des Schreckens (1961) OT: The Innocents |
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Poster | |
Release | seit dem 09.04.2020 auf Blu-ray und im Mediabook Ihr wollt den Film bei Amazon kaufen? Dann geht über unseren Treibstoff-Link: Oder direkt bei Capelight bestellen. |
Regisseur | Jack Clayton |
Trailer | |
Besetzung | Deborah Kerr (Miss Giddens) Peter Wyngarde (Peter Quint) Megs Jenkins (Mrs. Grose) Michael Redgrave (The Uncle) Martin Stephens (Miles) Pamela Franklin (Flora) Clytie Jessop (Miss Jessel) Isla Cameron (Anna) |
Buchvorlage | basiert auf dem Roman THE TURN OF THE SCREW von Henry James |
Drehbuch | William Archibald Truman Capote |
Kamera | Freddie Francis |
Filmmusik | Georges Auric |
Schnitt | Jim Clark |
Filmlänge | 100 Minuten |
FSK | ab 16 Jahren |
Liebt Filme und die Bücher dazu / Liest, erzählt und schreibt gern / Schaltet oft sein Handy aus, nicht nur im Kino / Träumt vom neuen Wohnzimmer / Und davon, mal am Meer zu wohnen