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Rom, offene Stadt (1945) – Filmkritik

Sich Roberto Rossellinis viertem Spielfilm der Nachkriegszeit rein filmisch zu nähern ist unmöglich. Sicher gibt es für damalige Verhältnisse viele neue Einstellungen, expressionistische Ausleuchtung und erzählerische Elemente, die auch dem damaligen Film noir zuzuordnen sind. ROM, OFFENE STADT ist aber vor allem Geschichte an sich. Der Film ist direkt nach der Befreiung der Alliierten vom faschistischen Regime im Jahre 1944 in Italien geplant und gedreht worden. Der Hauptstadt Italiens fehlt jede Art der Leidenschaft, für die sie heute bekannt ist, denn das Leid der Bevölkerung hat sie ausgehungert. Der Zweite Weltkrieg verschlang gierig die Leben und Ressourcen der Menschen. Für Rossellini war es an der Zeit, der Welt das Italien zu zeigen, was nicht treu hinter Mussolinis Armee stand, sondern von den Rebellen, den Aufrührern und den Kommunisten zu erzählen, die sich alle mit ihrem Leben verpflichteten den Unterdrückern die Stirn zu bieten. Doch, man ahnt es spätestens in der Filmmitte, die Partisanen werden zu Märtyrern.

Handlung

Das Leben in Rom ist schwer. Die SS kontrolliert jeden und Nahrung ist ein knappes Gut. Sora (Anna Magnani) muss beim Bäcker lange warten, um für ihre Essensmarken ein paar Brote zu bekommen. Sie will wieder heiraten, ein kleiner Lichtblick in dieser Zeit und alle freuen sich vor allem auf das Festmahl. Doch eines Tages taucht Luigi Ferraris (Marcello Pagliero) auf, ein Bekannter ihres Verlobten Francesco (Francesco Grandjaquet). In Wahrheit handelt es sich um den von der Gestapo gesuchten Manfredi, der zusammen mit seiner Gruppe Widerstandskämpfer den Nazis zusetzt. Manfredi braucht neue Papiere und die bekommt man von Pastor Don Pietro Pellegrini (Aldo Fabrizi). Doch die SS, angeführt von Major Bergmann (Harry Feist), ist ihnen bereits auf der Spur, dank eines Spitzels.

Widerstand der Generationen

Der Filmtitel klingt wie ein Versprechen, ein Zustand, den man heute von dem beliebten Touristenmagneten bereits durch Werbung kennengelernt hat. Historisch bezeichnet man jedoch Städte im Kriegsrecht als offene Stadt, sie werden nicht verteidigt oder bombardiert. Wir müssen Rom in diesem fremden Zustand im Jahre 1943 erst kennenlernen. Das Deutsche Reich hat Italien nach seinem Frontenwechsel besetzt. Dennoch ist die kulturelle Art der Italiener allgegenwärtig, der Familienkrach beim Abendessen, die nachbarschaftliche Hilfe, die Lebensfreude beim Essen, auch wenn es nur sehr wenig ist.

Regisseur Roberto Rossellini erzählt in ROM, OFFENE STADT zu Beginn noch verspielt und humorvoll. Der Priester als Passfälscher und lustiger Charakter, der zur Bratpfanne greift und sie einem Alten über den Schädel zieht, weil dieser Angst hat bereits die letzte Ölung zu erhalten. Doch dann kippt der Film mit ein paar Gewehrschüssen wie aus dem Nichts. Die Hoffnung und der Mut werden mit der Verlobten Sora auf offener Straße erschossen. Selbst viele Jahrzehnte später ist dieser Gefühlsbruch enorm stark zu spüren. Der italienische Alltag ist nicht mehr da und selbst der Widerstand gegen die Obrigkeit – durchgeführt von Lausbuben durch Sprengsätze – ist gebrochen. In diesem Kampf kann es keinen Gewinner geben und das gibt dem Film auch heute noch eine Intensität, die gegenwärtige Filme missen lassen.

Neorealismus

Das Drama legt die ersten Grundsteine für die cineastische Form des Neorealismus, der vor allem in Italien von 1943 bis 1954 beeindruckende Werke hervorbrachte. Was bedeutet Neorealismus? Die Filmemacher lassen die sicheren Räume der Filmstudios hinter sich und gehen auf die Straße. Sie filmen das echte Leben, echte Menschen und deren Alltag. Für die großen Rollen werden aber weiterhin Schauspieler besetzt. Es gibt eine Einstellung in ROM, OFFENE STADT in der Don Pietro Pellegrini vom jungen Marcello begleitet wird. Die Kamera steht auf dem Bürgersteig gegenüber. Doch dann wackelt auf einmal das Bild, denn der Kameramann muss sich vor der heranrasenden Straßenbahn in Sicherheit bringen. ROM, OFFENE STADT war als Dokumentarfilm geplant und orientierte sich an Einzelschicksalen. Doch Rossellinis Arbeit wurde zu einem Spielfilm, auch dank der Arbeit des jungen Frederico Fellini am Drehbuch. Es entstanden noch zwei weitere Nachkriegsfilme von Rossellini. Alle drei zusammen bezeichnet man als die Neorealistische Trilogie: ROM, OFFENE STADT (1945), PAISÀ (1946) und DEUTSCHLAND IM JAHRE NULL (1948).

Martin Scorsese

ROM, OFFENE STADT habe ich im Zusammenhang mit meiner ScorseseMasterclass (Filme, die Scorsese nachhaltig geprägt haben) gesehen. Rossellinis Film ist unbestreitbar einer der wichtigsten Beiträge der Filmgeschichte, aber warum hat Scorsese ihn auf seine Filmliste gesetzt? Zuallererst findet man die italienische Kultur in ihrem alltäglichen Milieu lebensecht gefilmt. Wenn die Familie hier zu Tisch sitzt, erinnert es an die Italo-Amerikaner in den Scorsese-Filmen, bei denen auch immer wieder ein Streit vom Zaun gebrochen wird. Scorsese wurde katholisch erzogen, entwickelte aber eine gesunde Neugier gegenüber dem Glauben und hinterfragte ihn. Die Figuren in seinen Filmen nutzen nur noch die Symbole und Riten, um ihren eigenen Status zu vergolden. In ROM, OFFENE STADT ist es die Figur von Don Pietro Pellegrini, der in seinem Widerstandskampf gegen die deutschen Besetzer eine Gottesaufgabe sieht. Du sollst nicht betrügen! Was aber wenn es zum Wohle der Gemeinde ist? Gewaltszenen setzen in Filmen von Scorsese unerwartet ein und werden in ihrer grausamen Darstellung nicht entschärft. In ROM, OFFENE STADT fallen unerwartet Schüsse und Rebellen werden zu Tode gefoltert. Der Einfluss von Drogen – hier in der Figur von Marina, die wegen ihrer Sucht zur Verräterin wird – zeigt sich vor allem in den Mafia-Streifen Scorseses. In Rossellinis Nachkriegsdrama ist unweigerlich zu erkennen, was für Scorsese spannende Themen waren, um sie immer wieder neu in seinen Filmen zu verhandeln.

Fazit

ROM, OFFENE STADT ist ein Muss für jeden interessierten Filmfan und selbst nach so langer Zeit immer noch ergreifend und spannend.

© Christoph Müller

Gesehen im Zuge meiner Filmchallenge #FLUXScorseseMasterclass

Titel, Cast und CrewRom, offene Stadt (1945)
OT: Roma città aperta
Poster
ReleaseUK-Import: Erhältlich in der THE WAR TRILOGY von BFI (3x Blu-ray) OmeU

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RegisseurRoberto Rossellini
Trailer
BesetzungAldo Fabrizi (Don Pietro Pellegrini)
Anna Magnani (Pina)
Marcello Pagliero (Giorgio Manfredi / Luigi Ferrari)
Vito Annichiarico (Marcello)
Harry Feist (Major Bergmann)
Giovanna Galletti (Ingrid)
Nando Bruno (Agostino)
Francesco Grandjacquet (Francesco)
DrehbuchAlberto Consiglio
Sergio Amidei
Federico Fellini
KameraUbaldo Arata
MusikRenzo Rossellini
SchnittEraldo Da Roma
Filmlänge100 Minuten
93 Minuten (gekürzte Fassung)
FSKab 12 Jahren

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