„Von Schuld und Zerfall“
Tim Hunter
Der Name des Regisseurs Tim Hunter schwirrte bei mir im Laufe der letzten Jahre mehrfach über den Bildschirm. Doch waren es dabei die wenigen guten TV-Serien wie MAD MEN (2007-2015) oder HANNIBAL (2013-15), die ich durchweg schaute, in denen Hunter innerhalb der ersten Episoden mehrfach als Macher genannt ist. Das wiederum lässt darauf schließen, dass Hunter gerne zu Beginn eines groß angelegten, seriellen Erzählens in den Prozess eingebunden wird, wenn er mit seiner Arbeit folglich den Ton vorgibt und die Richtung weist. Tatsächlich ging Hunter nach nur vier Spielfilmen mit Ende der Achtzigerjahre vollständig zum Fernsehen und führte bei über 70 Titeln/Episoden Regie. Beinahe hätte er noch vor Irvin Kershner ROBOCOP 2 gemacht, doch es reichte letztlich ebenso nur für eine Handvoll Spielfilmen in den folgenden 25 Jahren.
Sein Debüt TEX (1982) bleibt neben RIVER’S EDGE (1986) sein wohl bestes Werk. Matt Dillon spielt einen von zwei Brüdern, die sich nach dem Tod ihrer Mutter und dem Weggang des Vaters alleine durchs Leben schlagen müssen. Diese Sozialdrama-Komponenten, die ungeschönten Seiten des Lebens als Basis für ein packendes Skript – Hunter schrieb zuvor das Drehbuch zu Jonathan Kaplans WUT IM BAUCH (1979), ebenfalls mit Dillon – prägten das frühe Schaffen des Filmemachers. Als solches wird er kaum gesehen, dafür waren wohl seine Flops (PAINT IT BLACK – IM DUNKELN DER NACHT, 1989) und der zuvor genannte Weggang zum Fernsehen verantwortlich. Doch in Hunter steckt ein Macher, ein Künstler – dessen Signatur wird leider zu oft verkannt. DER MACHER (THE MAKER, 1997) und THE FAILURES (2003) sind übrigens durchaus gelungene Werke, nur spricht oder schreibt heute kaum jemand über sie.
Grausame Gleichgültigkeit
RIVER’S EDGE brilliert durch seine besondere Atmosphäre – eine Stimmung von schmerzlicher Desorientierung und Kälte. Er erzählt die Geschichte einer Gruppe Jugendlicher in einer trostlosen Kleinstadt in Oregon, u.a. gespielt von Crispin Glover, Keanu Reeves und Daniel Roebuck. Letzterer gibt eine besonders eindrückliche Performance der grausamen Gleichgültigkeit, indem seine Figur im Film den Freunden berichtet, er habe soeben seine Freundin umgebracht, sie läge tot im Gebüsch. Sie hätte einfach nicht aufgehört, zu reden und ihn zu langweilen, da konnte er nicht anders. Die anfängliche Ungläubigkeit seiner Kameraden erfüllt das verlorene Herz von Samson, so Roebucks Figur, noch mehr mit Wut und Trauer, die Aufmerksamkeit bleibt aus. Zweifellos geht es in diesem Werk auch genau darum: um die reine Abbildung – nicht etwa aufarbeitende Auseinandersetzung – der psychologisch-emotionalen Defizite der noch jungen Charaktere, deren brüchige Gruppendynamik, Außenseitertum. Als der kollektive Schock und die furchtsame Abkehr vom Freund (dessen Tat) einsetzt, entwickelt sich das jugendliche Sozialdrama mutig weiter, lässt aber bewusst viele Fragen offen und wirkt deshalb so unmittelbar. Die wichtige und faszinierende Rolle Dennis Hoppers, der obskure Einzelgänger Feck, der gleichermaßen als Vorbild und abschreckendes Beispiel für einige Jungs in Erscheinung tritt, tut das Ihrige, um ein kollektives Dilemma spüren zu lassen – die Schuld einer ganzen Gemeinde, aus der kein Entrinnen möglich scheint.
Der metallisch-harte Soundtrack (u.a. Slayer) und die deprimierend-kühlen Bilder vereinigen sich zu einem faszinierenden filmischen Gemälde, das den Frust und die Desorientierung einer ganzen Generation abbildet. Durch die besondere ästhetische Sprache, die Hunter hier anwendet, verliert man sich als Zuschauer nachhaltig in (s)einer ganz eigenen bildlichen Geschichte. RIVER’S EDGE ist alles andere als ein Feelgood-Movie, dafür gibt es einfach zu viel Misere, unterkühlte Bilder, Aggression und Gleichgültigkeit… auch innerhalb einer Familie, die in einer räumlich-bildlichen Sequenz so geordnet ist, dass die verschiedenen Mitglieder derart unvereinbar nebeneinander im Eigenheim vor sich hin leben, man den Stiefvater etwa beinahe schon karikaturhaft gar nicht zu sehen bekommt, sondern nur sein nach Ruhe geiferndes Geschwätz entlang des Flurs vernimmt, die Kinder unterschiedlichen Alters und Geschlechts sich gegenseitig fertig machen und die Mutter wie eine beschädigte Rettungsboje inmitten des emotionalen Sturms unterzugehen droht.
Ein „Messer“ gibt es übrigens im ganzen Film nicht – es handelt sich um die sinnfreie Zusatznennung des damaligen deutschen Verleihs, der „edge“ unpassend mit „Schneide“ übersetzte, was dann wiederum mit der „Klinge“ (eines Messers) gleichgesetzt wurde. (Off topic: in diesem Zusammenhang bin ich bis heute enorm froh, dass man BLADE RUNNER nie wirklich zu übersetzen gewagt hatte.)
Der amerikanische Alptraum
In zahlreichen Filmen – gerade zur Entstehungszeit von RIVER’S EDGE – wird das Suburbane, das Kleinstädtische noch als lebendiger Rummelplatz voller Faszination und Abenteuer gezeigt. Seien es Joe Dantes EXPLORERS (1985) und THE ‚BURBS (1989) oder andere Filme der Generation eines Steven Spielberg. Doch es gab auch die Kehrseite, Filme mit bewusster Ambivalenz oder gar schonungsloser Ehrlichkeit. Da wurde nichts beschönigt, nichts verklärt. Situationen wie aus dem echten Leben werden uns in subkulturellen Werken präsentiert, die wichtig für die Filmgeschichte bleiben und nicht vergessen werden sollten: SUBURBIA (1983) von Penelope Spheeris oder MADE IN USA (1987) von Ken Friedman.
Der amerikanische Traum schien hier bereits vollständig ausgeträumt, so schonungslos und konsequent präsentierten uns die Macher ihre mutigen Perspektiven auf das (echte) Leben. Diese Filme handeln zumeist von jungen Leuten: Jugendliche, die von Todessehnsucht gequält bleiben, obwohl das ganze Leben noch vor Ihnen scheint, die Drogen zum Frühstück nehmen und ihren Sex in freier Natur ausleben, aufregend, ungezügelt – einfach anders. Diese Filme erzählten von einer Richtungssuche sowie häufig auch von dem Verlust des eigenen Platzes in dieser Welt. Sie schenkten dem Nordamerikanischen Independent-Kino zusätzliche Bedeutung und ebneten so unter anderem auch den Weg für die Arbeiten von Gus Van Sant und Sean Penn.
Das Mediabook von Camera Obscura
Es ist besonders schön, wenn solch Abseitigem, fast Vergessenem eine wunderschöne Edition wie diese hier spendiert wird. Camera Obscura hat sich als Label einen Namen unter Kennern gemacht. Sie bringen besondere Filme in spezieller Aufmachung. Eigentlich kann man alle Mediabooks des Labels sorgenfrei erwerben und die Sammlung damit aufwerten. RIVER’S EDGE wird auf Blu-ray und DVD präsentiert, als Bonus gibt es einen Audiokommentar von Regisseur Tim Hunter, der höchst informativ auf die (Entstehungs-)Geschichte des Films eingeht. Zudem enthalten: Featurettes mit Darsteller Daniel Roebuch und Kameramann Frederick Elmes. Besonders gelungen ist der persönliche wie reflektierte Booklet-Text von Marcus Stiglegger, der uns bereits so viele schöne Texte geschenkt hat. Er wertet diese ohnehin wichtige Veröffentlichung noch einmal deutlich auf. Eine absolute Empfehlung!
Titel | Das Messer am Ufer (1986) OT: River's Edge |
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Regisseur | Tim Hunter |
Poster | |
Release | ab dem 29.03.19 im Mediabook (1 Blu-ray + 1 DVD) Bei Amazon bestellen: oder Bei ofdb kaufen |
Trailer | |
Besetzung | Crispin Glover (Layne) Keanu Reeves (Matt) Ione Skye (Clarissa) Daniel Roebuck (Samson) Dennis Hopper (Feck) Joshua John Miller (Tim) Roxana Zal (Maggie) Josh Richman (Tony) Phillip Brock (Mike) Tom Bower (Bennett) Constance Forslund (Madeleine) |
Drehbuch | Neal Jimenez |
Musik | Jürgen Knieper |
Kamera | Frederick Elmes |
Schnitt | Howard E. Smith Sonya Sones |
Technische Daten | Blu-ray und DVD Bildformat: 1,85:1 (HD 1080p) Tonformat: Deutsch & Englisch (LPCM 2.0 ) |
Filmlänge | 100 min |
Altersfreigabe | Ab 16 Jahren freigegeben |
Liebt Filme und die Bücher dazu / Liest, erzählt und schreibt gern / Schaltet oft sein Handy aus, nicht nur im Kino / Träumt vom neuen Wohnzimmer / Und davon, mal am Meer zu wohnen