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Red Rocket (2021) – Filmkritik

„(Don’t) Wanna be a Fool for You“

Der Porno gehört immer noch zum gesellschaftlich geächteten Medium. Obwohl sicher überpräsent in den Inkognito-Tabs der Browser unseres Vertrauens und zumindest teilweise mit herausragenden filmischen Depiktionen geadelt (BOOGIE NIGHTS, THE DEUCE, PLEASURE) ist ein Leben abseits des Geschäfts für die Darsteller:innen mit lebenslanger Ächtung und Problemen verbunden (es sei hier auf die Dokureihe AFTER PORN ENDS verwiesen).

Sean Baker, Sundance Liebling und Pionier der „Shot on an iPhone“ Generation hat es sich in seinem filmischen Oeuvre zur Aufgabe gemacht, Vorurteile gegenüber Sexworker:innen abzubauen (TANGERINE und FLORIDA PROJECT) und siedelt seine Filme häufig in stark ästhetisierten und leicht märchenhaften Zwischenweltversionen von Los Angeles oder Orlando an. Die bunt-poppige Oberfläche steht dabei natürlich im extremsten Kontrast zum tristen und häufig tragischen Alltag.

Red Rocket (2021)
Photo: Drew Daniels © Universal Pictures International

RED ROCKET, Bakers dritter Langfilm, reiht sich da exzellent ein. Mickey (Simon Rex) verließ vor 17 Jahren große Töne spuckend seine Heimatstadt Texas City. Berühmt wollte er werden und nie mehr zurückblicken. Als Pornodarsteller hat er es dann auch tatsächlich zu einigem Ruhm gebracht, aber jetzt ist die Karriere am Ende. Zusammengeschlagen und mit abgewetzter Kleidung ist Mickey nun genau wieder da, wo er immer weg und nie wieder hinwollte: In Texas City. Widerwillig lässt in seine Exfrau Lexi (Bree Elrod) auf der Couch „crashen“. Mickey will sein Leben wieder auf die Reihe kriegen und sieht in der siebzehnjährigen Raylee, genannt „Strawberry“ (Suzanna Son) sein zweites Ticket raus aus dem tiefsten Republikaner-Süden.

Photo: Drew Daniels © Universal Pictures International

Mickey gehört zu den faszinierenden Figuren des Kinojahres 2022. Er ist der geborene und wahrhafte Hustler, der mit jedem Wort lügt wie gedruckt. Und das ist alles so einfach zu durchschauen, weil es so lächerlich, wie hier Form und Inhalt nicht zusammenpassen. Da erzählt der abgewrackte Mickey von „Businessinvestitionen“, die nicht geklappt haben und sowieso waren immer die Anderen schuld. Und irgendwie schließt man diesen Nichtsnutz ins Herz. Vielleicht, weil die Welt um ihn herum so feindselig ist, trotz des auf 16mm-Film traumhaft-schwelgerisch aussehenden Sonnenlichts? Oder vielleicht, weil er sich doch „bessern“ möchte? Schließlich bewahrt durch einen Gelegenheitsjob als Drogendealer Exfrau Lexi vor dem Sexarbeiterin-Dasein auf Craigslist, sorgt für die Miete und für gelegentlichen kleineren Luxus. Und will er nicht auch Strawberry einen Ausweg aus der Dead-End Stadt verschaffen? Ehrlich gesagt nein, denn schlussendlich bleibt Mickey ein ekliger kleiner Manipulator, der immer auf seinen eigenen Vorteil bedacht ist, ohne mit der Wimper zu zucken eine sexuelle Beziehung mit der noch minderjährigen Strawberry eingeht oder seinen einzigen echten Freund Lonnie (Ethan Darbone) über die Klippe springen lässt.

Photo: Drew Daniels © Universal Pictures International

Das diese Konzeption einer zutiefst ekligen Hauptfigur gelingt und wir uns als Zuschauer:innen ihm mit auf den Leim gehen und uns nicht angewidert abwenden, liegt einzig und allein an Hauptdarsteller Simon Rex, bekannt als früherer MTV VJ (und kleineren Ausflügen in die Gayporn-Szene), der hier wahrscheinlich, Achtung Kampfbegriff, die Rolle seines Lebens spielt. Seit Adam Sandler in UNCUT GEMS schmiss sich ein ehemaliger Comedy-Darsteller nicht mehr so sehr mit Haut und Haar in seine Rolle. Rex ist sich nicht zu schade, seinen Mickey-Figur regelmäßig ihrer ganzen Lächerlichkeit preiszugeben und mit Genuss noch die schlimmsten neoliberalen „Komm und meine WhatsApp-Gruppe“ Plattitüden rauszuhauen. Regisseur Sean Baker kontextualisiert Rexs Performance durch die Ansiedelung seiner Diegese im Wahljahr Trumps. Das wirkt hier und da ein wenig sehr „on the nose“, zeigt die filmische Welt aber als idealen Nährboden für die populistischen Versprechen des ehemaligen Pornodarstellers.

Red Rocket (2021)
Photo: Drew Daniels © Universal Pictures International

Die zweite große Erscheinung in RED ROCKET ist Influencerin Suzanna Son als Strawberry. Unter all den vom Leben und harter körperlicher Arbeit gezeichneten Laiendarsteller:innen wirkt sie wie eine Engelserscheinung und bringt ein Leinwandcharisma mit, von dem andere Darsteller:innen nur träumen können. Mit Leichtigkeit spielt sie das irgendwo naive Mädchen, dass sich auf der einen Seite gerne von Mickey um den Finger wickeln lässt und ob des beruflich aussichtslosen Umfelds nur zu gern seine Lügen von einem besseren Leben glauben möchte, andererseits ihre körperlichen Reize aber auch sehr genau einzusetzen weiß und Mickey gedanklich auch irgendwo immer zwei Schritte voraus ist.

Photo: Drew Daniels © Universal Pictures International

Wenn Sean Baker erzählt, RED ROCKET sei inspiriert von 70er-Italo-Erotikschinken wie der Emmanuelle-Reihe, dann haben wir hier eine spannende Perspektivverschiebung. Hätten wir es hier mit solch einem Film zu tun, dann wäre Strawberry die Hauptfigur, die im exotischen Setting ihre Sexualität entdeckt und vielleicht irgendwann an die zwielichtige Mickey-Figur geraten würde. Dass Baker hier den „Täter“ oder „Bösewicht“ zur Hauptfigur macht, fordert unausweichlich zur Genredebatte auf. Ästhetisch hält sich Baker an seine sleazig-sinnlichen Vorbilder: Knallige Farben und arbiträre Reißschwenks zögen von dem hohen inszenatorischen Können des Independent-Regisseurs. Als finales Schmankerl fungiert der überlebensgroße NSYNC-Song BYE BYE BYE, der als Leitmotiv durch den Film führt und neben seiner Originalversion in einer getragenen Balladenversion und einer entrückt-verzerrten Albtraumversion präsentiert wird.

Red Rocket (2021)
Photo: Drew Daniels © Universal Pictures International

LA LA LAND sang ein Loblied auf „the fools who dream“, präsentierte sich aber final doch als reaktionäres Blut- und Eisen-Kino. Baker sagt: Diese „fools“ haben gar keine andere Perspektive als zu träumen. Es ist das, was sie am Laufen hält, was in einer zunehmend komplizierter – und populistischer werdenden Welt die einzig verlässliche Perspektive ist. Und deshalb ist die finale Entscheidung von RED ROCKET, die Fantasie über die Realität siegen zu lassen, auch nur in erster Linie ein Sieg. Denn unter den sonnendurchfluteten Eiscreme-Bildern lauert die Depression und die Gewissheit, dass es immer so weiter gehen wird. Denn Figuren wie Mickey wird es immer geben und immer wieder werden sie die Strawberrys dieser Welt mit sich herunterreißen. Quintessenzielles amerikanisches Indiekino und Sean Bakers Reifeprüfung von einem spannenden Künstler zum begnadeten Ästheten.

© Fynn

Titel, Cast und CrewRed Rocket (2021)
Poster
RegieSean Baker
ReleaseKinostart: 14.04.2022
Trailer
BesetzungSimon Rex (Mikey)
Bree Elrod (Lexi)
Suzanna Son (Strawberry)
Tsou Shih-Ching (Ms. Phan)
Brittney Rodriguez (June)
DrehbuchSean Baker
Chris Bergoch
KameraDrew Daniels
SchnittSean Baker
Filmlänge130 Minuten
FSKAb 16 Jahren

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