„Komfortzone“
Wenn die Welt scheinbar düsterer wird und man mit der tagesaktuellen Entwicklung nicht mehr mithalten will, gibt es nichts Schöneres als sich in sein vertrautes Zuhause zurückzuziehen. Im Schutz eines warmen, trockenen und sicheren Ortes kann man sich seinen Schätzen und Hobbys widmen und sich daran erfreuen. Das können die Porzellan-Katzenfiguren, antiken Kochbücher, Baseballkarten oder die eigene Filmsammlung sein. Manchmal kommt man sich schon etwas schräg vor, wenn man den sozialen Konventionen trotzt und nicht am Samstagabend etwas mit Freunden unternimmt, sondern lieber im sicheren wohligen Daheim bleibt. Solche Gedanken habe ich immer zu Beginn von Barry Levinsons RAIN MAN, wenn Raymond von seinem Bruder aus seiner vertrauten Welt mit gewissenhaftem Zeitplan, Büchern und Baseballkartensammlung herausgerissen wird.

Der Film zeigte wohl zum ersten Mal hollywoodwirksam Autismus auf der großen Leinwand und ein Millionenpublikum lernte diese Neurodivergenz (so ist der derzeitige Wortlaut, ohne Menschen damit zu verurteilen) kennen. Im Prinzip verließ das damalige Publikum mit der Meinung das Kino, dass eine Autismus-Spektrum-Störung Fluch und Segen zugleich sein kann. Raymond verfügt hier über ein eidetisches Gedächtnis und kann sogar in Las Vegas Karten zählen und dadurch Wahrscheinlichkeiten berechnen und große Gewinne machen, aber an einer Fußgängerampel ist er aufgeschmissen, wenn sie plötzlich auf Rot schaltet. Die Wahrheit ist sicherlich viel komplexer. RAIN MAN ist durch die Figur des Raymond für mich zu einem symbolischen Kampf mit der eigenen Komfortzone geworden. Gebe ich den eigenen Zwängen nach Sicherheit und Routine nach oder sollte ich lieber einmal hinausgehen, denn sonst bleibt der eigene Blickwinkel klein und egoistisch. Zusätzlich ist RAIN MAN ein wundervolles Roadmovie mit aufkommender geschwisterlicher Liebe in einem Amerika, das es so nicht mehr gibt. In manchen Bereichen nicht gut gealtert (Frauenrollen), aber in vielen Momenten mit intensiven, zwischenmenschlichen Szenen versehen, die bei heutigen Postproduktionen schon lange im digitalen Papierkorb gelandet wären. Und das ist vor allem den beiden Hauptdarstellern zu verdanken.

Handlung
Der Luxuskapitalismus nimmt Ende der 1980er-Jahre in den USA so richtig Fahrt auf und Charlie Babbitt (Tom Cruise) will davon ein großes Stück abhaben. Er importiert edle Luxuswagen und streitet sich mit den Behörden über deren Zulassungen und Genehmigungen. Charlie tritt bei den Verkäufen schon gern auf das Gaspedal und nimmt Vorauszahlungen entgegen, ohne sicher zu wissen, ob er überhaupt liefern kann. Das bringt ihn unweigerlich in Zahlungsverzug. Um seinen Kreditrahmen zu erweitern, fährt er mit seiner Freundin Susanna (Valeria Golino) nach Los Angeles. Auf dem Weg erfährt er, dass sein Vater gestorben ist. Die Beerdigung findet einige Tage später statt. Nach der Beisetzung wird ihm sein Erbe verlesen: der Oldtimer, ein 1949er Buick Roadmaster und die preisgekrönten Rosen seines Vaters. Die Mutter hat die Babbitt-Männer früh verlassen. Das Gesamtvermögen geht jedoch an einen Treuhandfond. Charlie fühlt sich um sein Erbe betrogen und stellt Nachforschungen an. Das Ergebnis ist eine angesehene psychiatrische Klinik und ein älterer Bruder, den er nie kennengelernt hat: Raymond (Dustin Hoffman) leidet unter Autismus, geprägt von zahlreichen Zwängen, die ihn nur in einer routinierten Umgebung beruhigen können. Das ist Charlie egal und er nimmt Raymond kurzerhand im Auto mit, um die Hälfte des Erbes zu erpressen. Auf der Flucht geraten der egoistische Charlie und sein autistischer Bruder unweigerlich aneinander.

Oscar und Publikumshit
Das Drehbuch wie auch die Regie haben einen nicht so leichten Produktionsprozess hinter sich gebracht und auch die Besetzung wurde stetig neu verhandelt. Bill Murray als Raymond Babbitt kann man sich heute kaum vorstellen. Am Ende bleibt ein Dustin Hoffman, der sich bereits in den Filmjahren der 1960er einige Monumente auf Film gebannt hat und Tom Cruise, der nach seinem Kinoerfolg TOP GUN (1986) zum ersten Mal eine große Charakterrolle spielt, ohne sich zu weit von seinem bekannten Besetzungstyp zu entfernen – Sonnenbrille inklusive. Hoffman performt ein ganzes Darsteller-Lehrbuch und entwickelt eine Vielzahl von Tics aus Mimik, Gestik und Wörtern, die sich einprägen wie ein Ohrwurm – „Ich bin ein ausgezeichneter Fahrer.“

Die Rolle des Charlie, gespielt durch Tom Cruise, weist ebenfalls psychologische Auffälligkeiten auf, auch wenn dies zur Zeit des Filmbeginn weniger thematisiert wurde. Von enormer Erfolgssucht durch die mangelnde Anerkennung seines Vaters getrieben, bewegt er sich zu gern hinter den gesetzlichen Richtlinien. Zu Beginn ist er noch ein Prototyp des heutigen US-Alpha-Manns, die vor allem wirtschaftlich und politisch das Zepter schwingen. Telefonieren, anschreien und ausnutzen sind die Zigaretten des Charlie Babbitt. Später entwickelt sich Charlie zu einem sorgenvollen Bruder, der gelernt hat, dass er nicht jeden zu seinem Vorteil in Grund und Boden reden kann. Tom Cruises Figur ist es auch zu verdanken, dass RAIN MAN zum Erfolg wurde, denn mit seinem nicht-gesellschaftsfähigen Bruder Raymond kann sich das Publikum kaum identifizieren. Charlie ist auch die Figur, die sich entwickelt, von einem geldgierigen Händler, der seine Emotionen versteckt, zu einem umsichtigen Bruder, der nicht unbedingt in die Fußstapfen seines Vaters treten will.

Für mich ist immer Raymond die Hauptfigur gewesen und ich kann in seinem Verlangen nach Kontinuität Beruhigendes entdecken. Dem nächsten großen Deal hinterherzujagen, macht auf Dauer niemanden glücklich. Was aber heute Raymond noch etwas mehr zu einem Helden dieses Films macht, ist, dass er ohne sichtbare Furcht sein Umfeld hinter sich lässt. Man sieht ihn zwar immer wieder kämpfen, wenn es zum Beispiel um einen neuen Schlafplatz geht, aber sobald das Bett am Fenster steht und die Stifte und der Fernseher da sind, ist es schon fast wie zu Hause. Mit verhältnismäßig wenig vertrauten Eckpunkten kann „Heimweh“ Raymond nichts anhaben und er wird zum Abenteurer und Entdecker, was besonders durch die Fotos aus seiner Kamera im Abspann betont wird. Formen, Licht und Strukturen sind für ihn interessanter als die Menschen auf seinem Weg.

„Führ mich zum Schotter“
Mit diesem Zitat aus JERRY MAGUIRE (1996), ebenfalls von Tom Cruise, lässt sich ein zeitgenössischer und vor allem finanzieller Blick auf RAIN MAN werfen Charlie hat hier offensichtlich finanzielle Probleme. Der Superdeal ist in Schwierigkeiten und finanzielle Verpflichtungen müssen erfüllt werden. Das Geschäftsmodell von Luxuswagen wirkt nicht gerade nach dem schnellen Geld, aber es hat eine Verbindung zu seinem Vater und den „Diebstahl“ des Buicks. Die Entführung seines Bruders ist ausschließlich dadurch motiviert, 1,5 Millionen Dollar Erbschaft abzugreifen – man muss Charlie zugute halten, dass er „nur“ die Hälfte haben will und nicht alles. Der angespannte Charlie wird auf der Fahrt nach Los Angeles erst umgänglicher, als die Babbitt-Brüder in Las Vegas, dank Raymonds Fähigkeiten über 80.000 Dollar erspielen und die finanziellen Sorgen von Charlie eliminieren. Erst jetzt scheint er sich auch darauf zu konzentrieren, was mit seinem Bruder werden soll. Der Wunsch, ihn bei sich wohnen zu lassen, scheitert bereits an einem Feuermelder und einer verschlossenen Tür. So kommt das „Nicht-Happy-End“ ohne Familienzusammenführung ein bisschen unerwartet, aber in gewisser Weise auch als erwachsene Entscheidung daher. Das Geld ist ab diesem Zeitpunkt kein Problem mehr. Jetzt kann man natürlich sagen, erst als Charlies Geldsorgen „gelöst“ sind, erkennt er seine brüderliche Liebe. Ganz schön egoistisch! Aber hier steckt eben auch eine Wahrheit in der aktuellen Gesellschaft inne, die immer wieder politische Diskussionen ad absurdum führt, wenn es um arme Menschen geht. Erst wenn man eine Zahlungsnot hinter sich gelassen hat, ist auch Raum für soziale Verbindungen und eine Entwicklung.
Fazit
Wenn es regnet, bleibt man besser drinnen. Mit solch einfachen Regeln erzählt RAIN MAN ein familiäres Roadmovie, was stets die eigenen Sorgen und Ängste hinterfragt. Klar kann es schön sein, bei Regen lieber vor dem Fernseher zu sitzen, aber manchmal lohnt es sich doch rauszugehen und die eigene Komfortzone zu verlassen. RAIN MAN erzählt von diesem inneren Konflikt in Oscar-prämierter Weise.

Tipp für Filmsammler: RAIN MAN gibt es in einer tollen Mediabook-Edition mit Ultra HD Blu-ray und Blu-ray. Enthalten sind ein umfangreiches Booklet von Victoria Lang, die Autismus im Film näher beleuchtet und jeder Menge Bonusmaterial. Wer den Film liebt, kommt hieran nicht vorbei.
Titel, Cast und Crew | Rain Man (1988) |
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Poster | ![]() |
Release | seit dem 27.03.2025 im Mediabook (Ultra HD Blu-ray+ Blu-ray) erhältlich. Direkt beim Label bestellen. |
Regie | Barry Levinson |
Trailer | |
Besetzung | Dustin Hoffman (Raymond Babbitt) Tom Cruise (Charlie Babbitt) Valeria Golino (Susanna) Gerald R. Molen (Dr. Bruner) Ralph Seymour (Lenny) Jack Murdock (Testamentsverwalter) Bonnie Hunt (Kellnerin Sally Dibbs) Michael D. Roberts (Pfleger Vern) Beth Grant (Mutter im Farmer-Haus) Lucinda Jenney (Iris) Barry Levinson (Dr. Marston) |
Drehbuch | Barry Morrow Ronald Bass |
Kamera | John Seale |
Musik | Hans Zimmer |
Schnitt | Stu Linder |
Filmlänge | 133 Minuten |
FSK | ab 12 Jahren |
Chefredakteur
Kann bei ZURÜCK IN DIE ZUKUNFT mitsprechen / Liebt das Kino, aber nicht die Gäste / Hat seinen moralischen Kompass von Jean-Luc Picard erhalten / Soundtracks auf Vinyl-Sammler / Stellt sich gern die Regale mit Filmen voll und rahmt nur noch seine Filmposter