„Die Astronautin“
Gerade Frauen müssen ihre Träume, Karrieren oder sogar die kleinsten Hobbys oft für das Aufziehen ihrer Kinder opfern. Da die Männer ungerechterweise meist mehr Geld verdienen, wird nicht lange überlegt und die Frau bleibt zu Hause oder geht in Teilzeit und kümmert sich um die Kinder. Was aber, wenn der Lebenstraum so stark ist, dass Karriere und Mutterschaft vereint werden müssen? PROXIMA widmet sich diesem Wunsch ohne dramatischem Für und Wider. Der Weltraumfilm zeigt fast dokumentarisch, wie eine alleinerziehende Mutter sich ihren Wunsch Raumfahrerin zu werden erfüllt und sich mit ihrer Tochter dennoch nicht verwirft. Regisseurin Alice Winocour gelingt in dieser französisch-deutschen Koproduktion ein lebensnahes Abbild des inneren Konflikts Mutter und Astronautin zu sein.
Handlung
Sarah Loreau (Eva Green) ist im internationalen Astronauten-Programm der ESA, der europäischen Weltraumorganisation. Ihre sieben Jahre alte Tochter Stella (Zélie Boulant) lebt bei ihr und nur jedes zweite Wochenende ist sie bei ihrem Vater Thomas (Lars Edinger). Sarah erhält endlich die große Chance: Sie soll an einer einjährigen Mission in der ISS teilnehmen. Die letzte Generalprobe, bevor die Menschheit zum Mars aufbrechen will. Tochter Stella, die sehr an ihrer Mutter hängt, muss nun ein Jahr zu ihrem Vater und Sarah zum harten Vorbereitungstraining nach Kasachstan mit ihren Teamkollegen Mike Shannon (Matt Dillon) und Anton Ocheivsky (Aleksey Fateev). Die mütterliche Trennung wird zur zusätzlichen Belastungsprobe.
Schubladen-Denken ade
Gerade einmal 64 Astronautinnen haben es ins All geschafft, von insgesamt 580 Raumfahrern ein kleiner Anteil (Stand 2020). Man kann mit der Ausrede der körperlichen Voraussetzung beim männlichen Geschlecht argumentieren, aber beim Weltraumspaziergang kommt es nicht nur auf physische Fitness an, sondern auch auf einen klaren Geist, eine effiziente Arbeitsweise und vor allem ein enormes Wissen. Das sind nur Grundvoraussetzungen, um überhaupt für ein solches Programm ausgewählt zu werden. Glück gehört auch dazu, zum richtigen Zeitpunkt für die richtige Mission fit zu sein. Eine Chance, die Sarah hier ergreift und darauf verzichtet ihre Tochter ein Jahr zu sehen.
PROXIMA bebildert die Situation ganz klar und ruhig. Die Mutter-Tochter-Beziehung zwischen den Darstellern Eva Green und Zélie Boulant mag man kaum anzweifeln und auch äußerlich hat das Castingteam ein gutes Händchen bewiesen. Auch wenn Eva Green keine kräftige Statur hat, nimmt man ihr zu jedem Zeitpunkt die körperliche Fitness ab. Dass sie zäh ist und Durchhaltevermögen hat, weiß man nicht nur wegen ihrer vorherigen vielfältigen Rollen, sondern durch ihre ganz bewusste Filmpräsenz. Das kommt ihr in der Männerdomäne der Astronauten zu Gute. Manch ein Drehbuchautor oder Regisseur hätte ihre Figur emotional aufbrausender und streitsüchtiger dargestellt. Raumfahrer haben jedoch einen niedrigen Ruhepuls, sind überlegt, haben eine deeskalierende Persönlichkeit und besonders in Vorbereitung auf eine Mission kann man es sich nicht leisten seine Gefühle offen zu zeigen. Diese Eigenschaften offenbart PROXIMA jedem, der genau hinschaut.
Der Kampf mit dem natürlichen Wunsch seine Tochter nicht zurückzulassen, bringt PROXIMA leichtfüßig jedem Beobachter näher. Die Pausen, in denen die Kamera nur beobachtet und die maschinellen Prozessen der Vorbereitung in Kasachstan bieten Raum für die Gedanken von uns Zuschauern. Wir haben Zeit uns hineinzufühlen, wenn man etwas unbedingt möchte, aber tausend andere Stimmen einem das Gegenteil erklären. Die klinische, farblose Bilderpalette lässt die Inszenierung noch weiter herunterfahren und es bleibt das Spiel der Darsteller. Es werden nicht nur Vorurteile gegenüber Frauen in dieser Männerdomäne abgebaut, auch die Herren in dieser Geschichte zeigen Vielseitigkeit. Der Ex-Mann wächst in die Rolle des Vaters hinein, der russische Teamkollege beweist sein Gespür als Mediator und für Poesie und auch der Alpha-Amerikaner hat zum Ende durchaus sinnvolle Führungsqualitäten. Matt Dillon lässt seinen grillenden Super-Dad-Cowboy dann doch noch absitzen und glänzt mit einfachen guten Ratschlägen für seine Kameradin.
Die Filmtochter lebt regelrecht die Anpassungsfähigkeit von Kindern – sich zu entwickeln, wenn es nötig ist. Die Parallelen zu ihrer Mutter, die mit acht Jahren beschlossen hat, Kosmonautin zu werden, werden ganz feinfühlig bebildert. Die faire Behandlung der Figuren in diesem Weltraumfilm, der erst kurz vor dem Abspann den Boden verlässt, ist auch die Stärke der wertungsfreien, femininen Regieführung von Alice Winocour (AUGUSTINE, Drehbuch zu MUSTANG). Die Soundkulisse in PROXIMA von Altmeister Ryuichi Sakamoto nimmt sich bei der Filmmusik dezent zurück und ihr gelingt dennoch ein emotionaler Leitfaden durch diese menschliche Heldengeschichte. Ein kristalliner Spacesound, der auch ohne die filmischen Bilder zum träumenden Blick in den Nachthimmel einlädt.
Die schönste Szene ist der offizielle Abschied zwischen Mutter und Tochter. In kargen, juristisch anmutenden Räumen gelingt es beiden ihre gefühlvolle Stärke zu zeigen und selbst in einer Situation, in der kein Körperkontakt möglich ist, dem anderen sein Herz zu schenken. Die Spiegelung der Tochter in der Quarantäne-Sicherheitsscheibe ist wie ein junges Ich der Mutter, was in kurzer Zeit erwachsener geworden ist.
Fazit
Kinder zu haben, heißt nicht seine eigenen Träume aufzugeben. PROXIMA zeigt, welche Stärke in so kleinen Menschen schon vorhanden ist und wie sie zu Kraft für ihre Eltern werden kann. Der Film ist nicht nur ein Motivationskick für die Karrieren aller Mütter, sondern auch ein Energieriegel für jene, die nur noch Hindernisse sehen anstatt Möglichkeiten.
Titel, Cast und Crew | Proxima – Die Astronautin (2019) OT: Proxima |
Poster | |
Regisseur | Alice Winocour |
Release | Kinostart: 24.06.2021 |
Trailer | |
Besetzung | Eva Green (Sarah Loreau) Zélie Boulant (Stella Akerman Loreau) Matt Dillon (Mike Shannon) Aleksey Fateev (Anton Ocheivsky) Lars Eidinger (Thomas Akerman) Sandra Hüller (Wendy Hauer) Trond-Erik Vassal (Jürgen) Nancy Tate (Naomi Shannon) |
Drehbuch | Alice Winocour |
Kamera | Georges Lechaptois |
Filmmusik | Ryuichi Sakamoto |
Schnitt | Michael Bradsell |
Filmlänge | 107 Minuten |
FSK | ab 6 Jahren |
Chefredakteur
Kann bei ZURÜCK IN DIE ZUKUNFT mitsprechen / Liebt das Kino, aber nicht die Gäste / Hat seinen moralischen Kompass von Jean-Luc Picard erhalten / Soundtracks auf Vinyl-Sammler / Stellt sich gern die Regale mit Filmen voll und rahmt nur noch seine Filmposter