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Poor Things (2023) – Filmkritik

Mit THE FAVOURITE feierte Regisseur Yorgos Lanthimos so große Erfolge bei Publikum und Kritik (die in zehn Oscarnominierungen und dem Sieg von Olivia Colman in der Kategorie Weibliche Hauptrolle gipfelte), dass er Carte blanche für seinen nächsten Film erhielt. So etwas führt selbst bei den besten Regisseuren meist zu nicht so gelungenen Filmen, weil sie eine Herzensangelegenheit aus dem Teenager-Alter umsetzen (siehe KING KONG, 2005) oder sich zu sehr austoben, da jede regulierende Hand fehlt (siehe BEAU IS AFRAID, wobei beides keine schlechten Filme sind). Hier ging es aber richtig gut.

POOR THINGS nach dem gleichnamigen Roman von Alasdair Gray ist zunächst einmal eine Frankenstein-Variation. Der moderne Prometheus heißt hier Godwin Baxter, Willem Dafoe setzt seine aktuelle Serie an irrwitzigen Rollen in ebensolchen Filmen hiermit fort. Das Monster ist Emma Stone. Und dann wird so ziemlich alles auf den Kopf gestellt, was man an Frankenstein-Klischees kennt.

© Searchlight Pictures

Das fängt schon mit dem guten Verhältnis zwischen Schöpfer und Kreatur an. Der seine Gefühle unterdrückende, verrückte Wissenschaftler ist ein verständnisvoller Vater – besonders in den entscheidenden Momenten -, und seine „Tochter“ nennt ihn einfach abgekürzt „God“. Das Geschöpf ist von bezaubernder Schönheit und hört auf den Namen Bella, stattdessen ist der Doktor das entstellte Opfer grausamer Experimente. Das Monster wird in seine Fußstapfen treten.

Bella ist frei von jeder Moral und völlig naiv. Sie tötet kleine Tiere und experimentiert mit improvisierten Dildos. Ersteres markiert in Filmen normalerweise spätere Serienmörder, und man hat immer wieder die Sorge, dass sie töten wird. In erster Linie ist sie aber ein sexuelles Wesen. Trotz ihres Egoismus ist Verständigung aber möglich, nicht nur mit „God“, auch mit Zynikern und Puffmüttern. Godwins sie liebender Assistent (Ramy Youssef) ist selbstlos bis zur Selbstaufgabe, und sogar einem Frauenhelden (Mark Ruffalo), der auf ein Abenteuer mit ihr aus ist, begegnet sie zumindest eine Zeit lang auf merkwürdige Weise auf Augenhöhe.

© Searchlight Pictures

Es ist recht offensichtlich, was den Regisseur an der Vorlage interessiert hat. Lanthimos hat ein Faible für Absurdität, was er von DOGTOOTH über THE LOBSTER und THE KILLING OF A SACRED DEER ausgiebig bewiesen hat, diese Filme leben teilweise davon. POOR THINGS ist ein besonders farbiger Schwarz/Weiß-Film geworden, oft durch die Froschaugenlinse gefilmt, den er in ein märchenhaftes 19. Jahrhundert, eine Steampunk-Welt, platziert hat. Sein Dr. Frankenstein fährt in einer dampfbetriebenen Kutsche mit Fake-Pferdekopf vorne dran, für einen Moment fällt man als Zuschauer selbst darauf rein. Später reisen wir in ein vollkommen fantastisches Lissabon – generell ist alles außerhalb Godwins Haus fantastisch. Die Liebe zu Details spricht auch aus ganz anderen Momenten, etwa wenn der Wissenschaftler die vielen Rechtschreibfehler im von einem Juristen aufgesetzten Vertrag moniert.

© Searchlight Pictures

POOR THINGS wird feministisch genannt, das wird zurzeit aber über jeden Film mit einer weiblichen Hauptfigur gesagt, ganz egal, wie reaktionär seine Aussage auch sein mag. Hier passt es insofern, als immer wieder mal ein Mann Bella besitzen und einsperren will, was so überhaupt nicht gelingt. Eine solche Deutung ist aber zweischneidig, denn der ganze Film, die ganze Geschichte, ist ohne Moral. Genau diese Ambivalenz ist aber eine große Qualität. Was in DOGTOOTH noch nicht so ganz funktioniert hat, funktioniert hier.

© Searchlight Pictures

Bella wird nie zur Identifikationsfigur, dafür ist sie viel zu un-menschlich. Als Godwin seinem Assistenten ihre Entstehung erklärt, beginnt er mit den Worten „a funny story“, und dann folgt der Horror.

Trotzdem begleiten wir sie auf ihrer Heldenreise mit großer Neugier. Sie ist wie ein Simplizissimus in völliger Selbstreflexion und merkt souverän an: „Actually I’m quiet nervous.“ Ihre Angewohnheit, in elaborierter Sprache ungehörige Dinge zu sagen, wird zwar im Lauf des Films etwas totgeritten, das aber in so guten Formulierungen, dass sie bis zum Schluss unterhält. Zwischendurch hat Hanna Schygulla einen Kurzauftritt und setzt damit ihre Serie der letzten Jahre fort, in bemerkenswerten Filmen plötzlich aufzutauchen.

© Searchlight Pictures

Wir sind alle poor things. Der Film ist eine Farce, mit den Figuren wird grausam gespielt. (Im Vergleich zu sonst, hält sich Lanthimos hier sogar zurück.)

Lanthimos hat Emma Stone bereits in THE FAVOURITE besetzt. Bei POOR THINGS kokettiert er damit, es sei ihr Film. Sie hat sich aber auch wirklich furchtlos in die Rolle gestürzt. Das Versprechen ihrer frühen Filme erfüllt sich hier endlich.

© Franz Indra

Titel, Cast und CrewPoor Things (2023)
Poster
ReleaseKinostart: 18.01.2024
RegieYorgos Lanthimos
Trailer
BesetzungEmma Stone (Bella Baxter)
Mark Ruffalo (Duncan Wedderburn
Willem Dafoe (Dr. Godwin „God“ Baxter)
Ramy Youssef (Max McCandles)
Christopher Abbott (Alfie Blessington)
Suzy Bemba (Toinette)
Jerrod Carmichael (Harry Astley)
Kathryn Hunter (Swiney)
Vicki Pepperdine (Mrs. Prim)
Margaret Qualley (Felicity)
Hanna Schygulla (Martha von Kurtzroc)
Damien Bonnard (Vater)
DrehbuchTony McNamara
Vorlagebasiert auf dem gleichnamigen Roman von Alasdair Gray
KameraRobbie Ryan
MusikJerskin Fendrix
SchnittYorgos Mavropsaridis
Filmlänge141 Minuten
FSKab 16 Jahren

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