„Die Erforschung des Unmöglichen“
Wenn man nach vielen Jahren an den Ort seiner Kindheit zurückreist, kommt einem meist alles viel kleiner vor. Das liegt bestimmt an der erhöhten Perspektive, die man jetzt als Erwachsener hat, aber auch an etwas anderem. Als Kind hat man die Augen eines Entdeckers, eines Forschers. Alles ist fremd und neu, will genau betrachtet und erkundet werden. Wenn man als Kind durch ein Maisfeld im Sommer gerannt ist, war es wie ein fremder Wald, wenn man durch die Wälder gezogen ist und auf einmal auf eine Lichtung stand, wie die Entdeckung einer neuen Insel und wenn man auf den höchsten Baum geklettert ist, konnte man unendlich weit sehen. Viele werden diese Erfahrung kennen und wenn man selbst an die Orte seiner Kindheit zurückkehrt, wird trotz klein wirkender Umgebung das junge Herz wieder in der Brust klopfen. Im erwachsenen Alltag ist es eine Herausforderung die Welt wieder mit Kinderaugen zu betrachten, sich einfach mal auf den Boden zu legen und Käfer zu beobachten oder nachts in den Sternenhimmel zu schauen, wenn man gerade den Müll rausbringt. Wer denkt, den Draht zu seinem jungen Ich verloren zu haben, sollte sich schleunigst den Anime PENGUIN HIGHWAY ansehen, denn hier gibt es keine Erwartungen sondern eine Welt des Staunens.
Handlung
Der Sommer steht vor der Tür und der zehnjährige Aoyama ist ein Vollblut-Wissenschaftler. Jedes Projekt wird akribisch in seine Notizbücher mit Grafiken, Zeichnungen und in Details festgehalten. Dazu gehören auch die Gesprächsthemen mit der Zahnarzthelferin Onee-san, für die er ein ganz besonderes Interesse hegt. Er weiß nur noch nicht so genau, welches Interesse es ist. Als er an einem Morgen zur Schule läuft, fällt ihm eine Gruppe von Pinguinen auf, die orientierungslos auf einer Wiese herumsteht. Die Bewohner des Orts sind erstaunt und in japanischer Emsigkeit werden die kleinen Seevögel abtransportiert. Doch ihnen gelingt die Flucht aus dem LKW. Aoyama will herausfinden, wo die Adeliepinguine hin sind. Dafür muss er dem PENGUIN HIGHWAY folgen.
Visuelles Sahnehäubchen
Zuallererst, PENGUIN HIGHWAY sieht verdammt gut aus. Er trifft die perfekte Balance zwischen opulenten Hintergründen und fein abgestimmtem Charakterdesign. Regisseur Hiroyasu Ishida gelingt zusammen mit Studio Colorido Bemerkenswertes. Die Welt, in der sich unsere Hauptfigur Aoyama bewegt, sieht unglaublich perfekt aus. Hinzu kommt das Lieblingsmerkmal im Anime: kaum Menschen oder Umgebungslärm. Die Straßen sind meist leer und wenn man den Zug nimmt, ist man der Einzige im Wagon. Das verleiht den japanischen Animationsfilmen einen Hauch von Melancholie – wie an einem Sonntagabend durch die leeren Einkaufsstraßen zu schlendern. Es wird mit Sicherheit dem Bedürfnis der Japaner geschuldet sein, in einem Land mit hoher Populationsdichte ihre Ruhe in der Außenwelt zu finden. Als Zuschauer weiß man innerlich, dass es so eine Welt nicht geben kann, aber man wünscht es sich von ganzem Herzen. Der Ort in PENGUIN HIGHWAY mit seinen raffinierten Einfamilienhäusern, dem Wald voller Leben, dem gemütlichen Café zum Schachspielen; selbst die Zahnarztpraxis sieht abwechslungsreich, modern, sauber und idyllisch aus.
Das schönste Szenenbild hat jedoch ein Kinderzimmer, auch wenn im Finale die Welt noch Kopf stehen und eine Welle von Geschwindigkeit über den Fernseher flimmern wird. Dieses Zimmer, gefüllt mit Details, einem großen Schreibtisch an dem Aoyama seine Studien analysiert, einem Doppelstockbett für sich allein und Fenster, von denen er den ganzen Ort überblicken kann, lassen den Wunsch aufkommen, dass jedes Kind so ein Reich sein Eigen nennen sollte. Vom Design der süßen Pinguine fangen wie gar nicht erst an. Dutzende stumme Mimen sind bekanntlich nicht erst seit den Minions eine Freude.
Die erste Liebe, die Welt retten oder doch nur Nostalgie?
Es geht aber im PENGUIN HIGHWAY nicht um besagte knuffige Fischfresser und den perfekten Ort zum Leben. Es ist die philosophische Reise eines Jungen. Er will jeden Tag noch schlauer werden, was ihm durch genaue Beobachtung und Dokumentation gelingt. Was ist aber, wenn es darum geht etwas zu analysieren, was man nicht in Daten fassen kann, Liebe zum Beispiel oder eine riesige schwebende Kugel aus Wasser oder das Erscheinen von Pinguinen in Japan, obwohl sie in der Antarktis leben? Die Handlung bleibt immer einen Schritt vor der wissenschaftlichen Erkenntnis und der des Zuschauers. Immer wenn man denkt, jetzt kommt die Lösung, taucht etwas neues Unvorhersehbares auf. Das wirkt sich etwas auf die gewohnten Spannungsverläufe westlicher Filmrezeption aus, weil man immer mehr ein Finale herbeisehnt und einem dann wieder die Spannung mit einer ruhigen Szene unter den Füßen weggezogen wird. Das hat aber den Vorteil, dass man nicht im Geringsten weiß, was passieren wird, man folglich noch genauer hinschaut und sich die Forscheraugen eines Kindes wieder aneignet.
Trotz aller Forschung, steht auch die Liebe eines Jungen zu einer jungen Dame im Mittelpunkt, immer noch ein Tabuthema. Der junge Aoyama ist nicht nur von Onee-sans Oberweite fasziniert, sondern in sie verliebt. Er weiß zwar noch nicht, was Liebe bedeutet oder warum er Onee-san immer hinterherläuft, aber er wird von ihr einfach magisch angezogen. Hinzu kommt, dass sie ein Mysterium ist, was es zu lösen gilt, eine unendliche Herausforderung. Auch uns Zuschauern wird es schwer fallen Onee-san nicht zu mögen. Sie ist aufgeschlossen, fordert ihren jungen Fan heraus, wenn nicht mit Wissenschaft, dann mit magischen Fähigkeiten. Die Beziehung zueinander ist so unschuldig und gefühlvoll erzählt, dass man vielleicht selbst an das erste Schwärmen in Kinderjahren für einen Erwachsenen zurückdenkt. Es legt den Grundstein, überhaupt jemand anderen zu lieben.
Wenn wir schon einmal bei elterlichen Erziehungstipps aus PENGUIN HIGHWAY angekommen sind, sollten wir darauf achten, wie viele Freiheiten die Kinder im Film haben ihrer Forschung nachzugehen. Sicher, sie leben in einer gewaltfreien, perfekten Welt ohne Ablenkung durch Internet und Fernsehen, quasi in einer Nostalgieblase. Man wünscht sich für viele Kinder genau das: viel Zeit und Fokus für ein bestimmtes Ziel zu haben. So etwas bekommt man schwer wieder im Leben. Wann seid ihr das letzte Mal einfach über einem Projekt eingeschlafen ohne vorher wieder an Verpflichtungen, Aufgaben oder das Morgen zu denken?
Die Blu-ray
Kazé hat viel Mühe in die deutsche Veröffentlichung von PENGUIN HIGHWAY gesteckt. Die deutsche Synchronisation ist schön lebendig geworden. Filmsammler von Animes legen wir die Special-Edition ans Herz. Ein Digi-Pak mit Schuber umfasst ein 40-seitiges Artbook und ein 16-seitiges Booklet. Das Booklet ist von Regisseur Ishida entworfen, enthält kleine Portraits zu den Künstlern hinter dem Projekt, Interviews und viele Kommentare der Animationscrew. Wenn beide Hefte nicht auf Glanzpapier gedruckt wären, möchte man sie noch viel lieber zur Hand nehmen. Außerdem gibt es als Bonusmaterial noch ein Interview mit Regisseur Hiroyasu Ishida (28 min) und den Kurzfilm PAULETTE’S CHAIR (3 min) auf der Blu-ray. Eine großartige Edition, die diesem tollen Filmerlebnis einen schönen Platz im Regal beschert.
Fazit
Sollten Animes die letzten Filme sein, die eine Reise in die Kindheit ermöglichen, dann ist PENGUIN HIGHWAY ihr Anführer. Auch wenn das Gefühl aufkommt, dass die eigene Welt nie so perfekt und erlebnisreich sein kann wie in diesem Szenario, werden sich dennoch viele wieder daran erinnern, was in der eigenen Kindheit alles möglich war. Es gibt keinen Grund, sich dieses Potential als Erwachsener nicht wieder zurückzuholen. Wer nicht mehr weiß, wie das geht, sollte Aoyama auf dem PENGUIN HIGHWAY folgen.
Titel, Cast und Crew | Penguin Highway (2018) OT: Pengin haiwei |
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Poster | |
Release | Kinostart: 08.11.2018 ab dem 05.03.2020 auf Blu-ray und DVD Ihr wollt den Film bei Amazon kaufen? Dann geht über unseren Treibstoff-Link: |
Regisseur | Hiroyasu Ishida |
Trailer | |
Buchvorlage | basiert auf dem Buch PENGUIN HIGHWAY von Tomihiko Morimi |
Drehbuch | Makoto Ueda |
Art Direction | Takamasa Mashiki Yusuke Takeda |
Filmmusik | Umitarô Abe |
Filmlänge | 119 Minuten |
FSK | ab 6 Jahren |
Chefredakteur
Kann bei ZURÜCK IN DIE ZUKUNFT mitsprechen / Liebt das Kino, aber nicht die Gäste / Hat seinen moralischen Kompass von Jean-Luc Picard erhalten / Soundtracks auf Vinyl-Sammler / Stellt sich gern die Regale mit Filmen voll und rahmt nur noch seine Filmposter