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Oldboy Filmkritik und Blu-ray (Steelbook, Mediabook und Ultimate Edition)

Oldboy (2003) – Essay

Seit Quentin Tarantinos öffentlicher Begeisterung für Wong Kar Wais CHONG QING SEN LIN (CHUNKING EXPRESS) 1994 hat der asiatische Film in Europa viel Aufmerksamkeit erfahren. Natürlich gab es schon früher Zeiten, in denen insbesondere das japanische Kino Weltruhm besaß. In den letzten Jahren trumpfen insbesondere Filmemacher aus Südkorea auf, der Oscar-Gewinner Bong Joon Ho (PARASITE), der leider vor Kurzem verstorbene Kim Ki-duk (SEOM – DIE INSEL) und Park Chan-Wook, dessen Meisterwerk zweifelsohne OLDBOY ist.

Große Themen des asiatischen Kinos sind Grausamkeit, Schuld und Sühne, wobei der Filmemacher für unsere Verhältnisse meist eine recht strenge Position einnimmt. Gewaltakte (normalerweise sehr profane) waren im Kino überall und zu jeder Zeit verbreitet, doch die betonte Darstellung körperlicher und seelischer Grausamkeit unterscheidet sich davon, was sich in den ungleich heftigeren Reaktionen des Publikums sofort zeigt. Schon fast klassische Beispiele sind SEOM (THE ISLE, 2000) von Kim Ki-Duk sowie ÔDISHON (AUDITION, 1999) und KOROSHIYA 1 (ICHI THE KILLER, 2001) von Miike Takashi, die für reichlich Wirbel gesorgt haben und von einigen Leuten abgelehnt werden, sich jedoch nie in sensationsheischenden Scheußlichkeiten ergehen, sondern in ihrem künstlerischen Entwurf wahrhaft entsetzliche Momente erfordern. Solche finden sich auch in OLDBOY.

Viele asiatische Filmemacher benutzen neuartige Bildsprachen und besitzen ein Gespür dafür, die erweiterten technischen Möglichkeiten und Effekte mit den hergebrachten Kamerabildern zu verbinden. Hier beginnt beispielsweise eine Rückblende auf eine Bahnfahrt nicht mit einem Schnitt, der Zug fährt stattdessen in den Kopf der Erinnernden, bis er das ganze Bild einnimmt. Schon längst machen sich visuelle Einflüsse auf das westliche Kino deutlich bemerkbar. Überhaupt scheint man im fernen Osten mit dem Medium Film viel unbefangener umzugehen, billiger Mainstream und experimentelle Avantgarde treffen sich oft im selben Werk.

Oldboy: Rache und Affekt

Spannungsgeladen setzt der Film ein, mit expressiver Musik und Visualität: Ein wild aussehender Mann mit wirr abstehenden Haaren hat einen verängstigten zweiten Mann an den Rand eines Hochhausdaches gedrängt und verhindert dessen Sturz in den Abgrund nur dadurch, dass er ihn an der Krawatte festhält. Mimik und Gestik der beiden bewirken, dass man sich innerlich bereits auf das Eintreten der drohenden Katastrophe vorbereitet. – Doch plötzlich erfolgt ein Sprung, man sieht den wilden Mann zwar betrunken und derangiert, aber im Outfit eines gewöhnlichen Geschäftsmannes. Man erkennt sofort, dies ist ein Schnitt in die Vergangenheit. Er sitzt auf einer Polizeiwache, weil er „Frauen anderer Männer“ belästigt haben soll, und das ungebändigte Ausleben seiner Gefühlsregungen, sein Schwanken zwischen Zorn und dem Bemühen um maßvolle Zurückhaltung, lassen diesen Vorwurf glaubhaft erscheinen. Er stellt sich vor als Oh Dae-Su, was „sich gut mit den anderen verstehen“ bedeutet, und er hat ein Geburtstagsgeschenk für seine kleine Tochter dabei, ein Paar Engelsflügel. Dae-Su ist der Held der Geschichte, doch er ist ein schlechter Mensch. Wir sehen seine trunkene Zurschaustellung von Aggressivität durchgehend aus der Perspektive des Polizisten hinter dem Tresen, die Handkamera wackelt, wenn sie seinen Bewegungen folgt, Jump Cuts zerreißen das zeitliche Gefüge. Nur diese Szene ist so gefilmt, trotz ihrer unangenehmen Peinlichkeit ist sie der einzige Moment, wo die Welt noch nach gewohnten Maßstäben funktioniert. Die gesamte Tragik der Geschichte, die vielen Wandlungen Dae-Sus sind in diesem Moment bereits alle vorbereitet.

Sein Bruder holt ihn schließlich ab, nur um ihn wenige Minuten danach während eines Telefonats auf der Straße wieder aus den Augen zu verlieren. Der Vorspann beginnt auf Englisch und Koreanisch über das Bild zu ziehen, doch etwas scheint mit den Zeichen nicht zu stimmen: Fortlaufende Zahlen drängen sich in den Vordergrund, die Buchstaben drehen sich wie die Zeiger einer Uhr, man hat Mühe, den Sinn der Wörter zu entziffern. Schließlich sieht man nur noch Uhren, und die Musik ist nun eine völlig andere: erhabene Streicher, die im Zuseher ein Gefühl der Größe und die Assoziation mit schicksalshaften Abläufen auslösen.

Vorsicht: Der folgende Text beschreibt die Filmhandlung und spoilert alles!

Im nächsten Bild besitzt Dae-Su bereits das verwilderte Aussehen vom Anfang; seit Monaten ist er eingekerkert und weiß nicht, von wem und warum. Innerlich hat er sich aber noch nicht geändert, seine flehentlichen Bitten an den Wächter schlagen jederzeit um, in ungezügeltes Fluchen und sinnlose Gewalt: Er schlägt auf den Boden und wirft sein eigenes Essen gegen die Wand. Nun erst sehen wir, dass sein Gefängnis kein düsteres Verlies, sondern eine ganz normale Wohnung ist, ein einfaches Hotelzimmer vielleicht. Aus dem Off erzählt uns Dae-Su, dass er 15 Jahre hier eingesperrt war. Seine Stimme ist dabei eine völlig andere, ruhig und still.

Die folgende Darstellung des langen Zeitraumes lässt keinen Zweifel daran, dass diese Art von Gefangenschaft zu Wahnsinn führen muss. Dae-Su würgt das immer gleiche Essen in sich hinein, der Fernseher ist sein einziges Fenster nach draußen, wird zur Projektionsfläche seiner Fantasien, Ideen und Sehnsüchte nicht nur im übertragenen, sondern ganz direkten Sinn. Zum Dank teilen die Nachrichten Dae-Su mit, dass seine Frau brutal ermordet wurde und er der Verdächtige ist (der Diebstahl des Fotoalbums erklärt sich erst sehr viel später). Selbst wenn ihm die Flucht gelänge, der Weg zurück in die Gesellschaft ist versperrt. Surreale Halluzinationen und mehrere Selbstmordversuche sind die Folge. Wenn Dae-Su mit Gas betäubt wird, damit seine Wächter gefahrlos die Wohnung betreten können, ertönt eine dazu gehörige Melodie, ein weiterer Einsatz von Musik, als sollte er wie Pavlovs Hund trainiert werden: Dae-Su wird manipuliert, doch er versteht es noch nicht.

© Capelight Pictures

Stattdessen glaubt er, gegenhalten zu können. Dae-Su schreibt seine Lebensgeschichte auf, es fallen ihm viele schlimme Dinge ein. Er beginnt ein hartes Kampftraining und zeichnet in Ermangelung eines realen Gegners zunächst seinen eigenen Körper mit Tätowierungen der verlorenen Zeit. Seine expliziten Rachefantasien und die Grimassen, die verzweifelt Freude nachbilden sollen, lassen uns die Entwicklung zu einem Psychopathen befürchten. Man ahnt nun, wer der andere Mann in der ersten Szene ist. Dae-Su macht jedenfalls seine erste Wandlung durch, keine ungestümen Gefühlsausbrüche mehr, er wird kontrollierter, seine Aggressionen zielgerichteter, und die Freude stirbt. Ein kleiner Fehler seiner Bewacher erlaubt ihm, mit einem überzähligen Essstäbchen im Laufe der Jahre ein Loch in die Wand zu kratzen, und das erste, was er wieder an äußeren Eindrücken erlebt, ist Regen. Zwei vernachlässigte Sinne werden angesprochen: Fühlen und Schmecken.

Dae-Sus Mühen und Streben sind umsonst, und zwar auf überraschende Art und Weise – er wird freigelassen. Unter Betäubung und Hypnose wird ihm eine grüne Wiese suggeriert, und auf dieser erwacht er. Sie entpuppt sich jedoch als bloße Begrünung auf einem Hochhausdach. Und wieder haben wir uns getäuscht: Der andere Mann vom Anfang ist ein Selbstmörder, und Dae-Su hält ihn auf; ein deutlicher Hinweis, dass wir uns gemeinsam mit der Hauptfigur noch oft irren werden. Dae-Su kehrt zurück in die Welt, erst äußerlich, wenn er die Sonne sieht, den anderen Mann berührt und auch dessen Hand zu seinem Gesicht führt, dann innerlich, wenn er ihm seine Geschichte erzählt. Er ist nun ein anderer Mensch als zuvor, geläutert und nicht mehr so impulsiv, als habe ein unsichtbarer Richter ihn bessern wollen. Doch noch immer ist er schrecklich egoistisch und ohne Empathie. Nachdem seine eigenen Bedürfnisse gestillt sind und der andere ihm nun von seinen Problemen berichten möchte, geht er einfach und lässt den Selbstmörder doch noch vom Dach springen.

Seinen Mangel an moralischem Empfinden rechtfertigt Dae-Su auch noch mit einem Spruch, den er in seinem Gefängnis gelernt hat:

„Lache, und die ganze Welt lacht mit dir; weine, und du weinst allein.“

Er gerät mit einer Jugendbande aneinander, doch die Provokation geht von ihm aus. Er schlägt sie alle zusammen, denn er ist nun gefährlich. Das Gesicht eine Maske, die Augen hinter einer Sonnenbrille verborgen, bündelt sich seine gesamte Energie auf ein Ziel: seinen Peiniger finden und töten.

 

 

Der Auftraggeber im Hintergrund übernimmt dabei immer deutlicher die Rolle des Mentors. Er lässt Dae-Su Geld und ein Mobiltelefon zukommen, dessen Klingelton derselbe wie beim einströmenden Gas im Gefängnis ist. Dae-Su reagiert mit Stress und Panik auf die Melodie, und die Szene ist wieder unterlegt mit der schicksalshaft klingenden Musik. Dae-Su versucht, seine Identität zu erraten, und die lange Liste an persönlichen Feinden, die ihm einfällt, zeigt erneut, dass in Wirklichkeit Dae-Su der schlechte Mensch ist. Sein körperloses Gegenüber bezeichnet sich stattdessen als Student, der Oh Dae-Su studiert. Er möchte ihn so vollständig verstehen, dass er ihn dorthin führen kann, wo er ihn haben will. So bringt er ihn auf die Frage „warum“ anstelle von „wer“. Auch hier läuft Dae-Su zunächst in die Irre, denn er fasst dies als Frage auf: „Warum wurde ich eingesperrt?“ Wie er erst später erkennt, lautet die richtige Frage: „Warum wurde ich freigelassen?“

Sein erster Weg führt ihn ins Lokal der Fernsehköchin Mi-Do. Beide glauben, sich schon einmal gesehen zu haben, erkennen sich aber nicht. Dae-Su verlangt etwas Lebendiges und schlingt den Tintenfisch, den Mi-Do ihm serviert, tatsächlich hinunter. Er möchte den Tod bringen und gleichzeitig selbst wieder ins Leben zurückkehren. Wenn sich die Tentakel über sein Gesicht winden und er in Ohnmacht fällt, erkennt man gleichzeitig, wie weit er sich inzwischen von der menschlichen Zivilisation entfernt hat. Wie selbstverständlich nimmt ihn Mi-Do mit zu sich nach Hause, und nach einem kurzen dilettantischen Vergewaltigungsversuch bilden sie schon bald eine verschworene Gemeinschaft, in der Mi-Dos Anhänglichkeit verwunderlich erscheint.

Die Suche nach seiner Tochter unterbricht Dae-Su schon bald wieder, und auch das Grab seiner Frau will er erst besuchen, wenn er seinen geplanten Mord ausgeführt hat; das Motiv der Rache wird sich mehrfach als fatal erweisen. Nachdem klar wird, dass sie weiter überwacht werden, trennt sich Dae-Su vorübergehend von Mi-Do. Über eine Geschmackstour findet er das Restaurant, dessen Teigtaschen er so lange essen musste, und rennt dem Boten bis zu seinem geheimen Gefängnis hinterher (erneut körperlich-sinnliche Erfahrungen). Dae-Sus erstes Opfer wird der Zellenwärter, er hat sich einen Hammer als archaische Waffe ausgewählt, passend zu den urtümlichen Motiven, die der Film verhandelt. Die Bewegung gefriert, und ein gezeichneter Pfeil von der Spitze des erhobenen Hammers zur Stirn des sitzenden Wächters vollendet die Tat.

Wenn die Folter des Aufsehers Park Cheol-Woong beginnt, setzt das musikalische Thema wieder ein, man sieht Dae-Sus Narben an den Handgelenken und die eintätowierten Jahresstriche. Dae-Su sieht sich als Werkzeug des Schicksals, doch ist es in Wirklichkeit sein eigenes Schicksal, das er vollendet. Für jedes Jahr zieht er Cheol-Woong mit dem Hammer einen Zahn, aus dem weißen Tuch, das er ihm um den Mund bindet, ist danach buchstäblich ein rotes Tuch geworden. In einer einzigen zweieinhalbminütigen Einstellung kämpft sich Dae-Su dann durch Heerscharen von Schergen wieder seinen Weg nach draußen frei. Am Ende zieht sich Dae-Su ein Messer aus dem Rücken und taumelt blutüberströmt aus dem Untergrund zurück ans Tageslicht. „Ich bin nie gut mit anderen Menschen klargekommen“, spricht es dabei aus ihm, „aber jetzt bin ich zu einem Monster geworden.“

Dies ist ein weiterer Schritt auf seinem Weg, äußerlich, weil er seinen Kerker gefunden hat, innerlich, weil er sich nun für ein Monster hält. Noch hat er aber nicht erkannt, dass er bereits vor seiner strafenden Inhaftierung ein Monster gewesen ist. Tatsächlich begegnet er kurz seinem Widersacher Lee Woo-Jin, jedoch ohne ihn zu erkennen. Woo-Jin bringt ihn zurück zu Mi-Do, wo er ihn haben will; Mi-Do verbindet ihn und schläft mit der Schere in der Hand ein. Als Dae-Su seinen alten Freund No Joo-Hwan wiedertrifft, weint nur der; solche Gefühle sind Dae-Su unbekannt.

Woo-Jin lässt sich leicht finden, doch Dae-Su kann ihn nicht töten, ohne sein Geheimnis zu erfahren, und der Folter entzieht sich Woo-Jin durch eine Fernbedienung, mit der er seinen Herzschrittmacher ausschalten kann. Eine sehr konstruierte Situation, doch alle Handlungen, die Dae-Su ab dem Moment seiner Gefangennahme ausführt, sind letztendlich von Woo-Jin inszeniert. Dieser genießt seine Rache, indem er Dae-Su verschlüsselt bereits alle Hinweise gibt, und setzt dessen Suche nach den Antworten einen engen Zeitrahmen von fünf Tagen. Damit haben wir nach Einheit von Ort (der Film verlässt abgesehen von der alten Schule nie Seoul) und Handlung nun auch die der Zeit. Woo-Jin wirkt dabei noch kontrollierter und verzweifelter als Dae-Su, und auf seinem Schreibtisch liegt eine ungewöhnlich geformte Schere.

Wenn sich nun Cheol-Woong, der Aufseher, seinerseits rächt, Mi-Do gefangennimmt und Dae-Su die Zähne herausreißen möchte, gerät Dae-Su zuerst in Panik und Entsetzen, reagiert also natürlich. Wenn Cheol-Woong ihm dann aber sagt, dass die Fantasie der Grund für die Angst sei, beginnt Dae-Su hysterisch zu lachen und speit ihm ins Gesicht. Als Dae-Su und Mi-Do nach der Rettung durch ihren gemeinsamen bösen Schutzengel Woo-Jin zum ersten Mal miteinander ausgiebig und schmerzhaft schlafen, schleicht sich ein neues Musikstück ein, das den Film begleiten wird, melodisch und friedlich, das das schicksalshafte Thema gleichsam ironisch kontrastiert – Dae-Su erfüllt sein Schicksal gerade dann, wenn er es nicht merkt. Woo-Jin betäubt beide wieder und setzt sich mit Gasmaske zu ihnen auf das Bett; jetzt ist er es, der sich von der menschlichen Gesellschaft entfernt. Er hat ihnen auch ein Hochzeitsgeschenk mitgebracht: die Hand des armen Cheol-Woong, die eigentlich Dae-Su abhacken wollte.

Schließlich entdecken Dae-Su und Mi-Do die gemeinsame Schulzeit von Dae-Su und Woo-Jin, sie sind beide Oldboys, also Ehemalige, der Evergreen Highschool. Die animierte Homepage geht fließend in ihren Besuch dort über, der alte und der junge Dae-Su laufen zugleich über das Gelände. Als Joo-Hwan Woo-Jins verunglückte Schwester Soo-Ah (man ahnt schon, dass es kein Unfall war) als Flittchen bezeichnet, ist der einzige Moment gekommen, wo Woo-Jin seine bittere Beherrschung verliert und Joo-Hwan im Affekt ersticht, in gerade der Gemütsbewegung, die Dae-Su noch zu Beginn seiner Gefangenschaft beherrschte. Je undurchdringlicher die Fassade ist, desto tiefer gehen die Emotionen dahinter, und ihre Ausbrüche sind fürchterlich.

Der junge Dae-Su hat Woo-Jin und seine Schwester dabei beobachtet, wie sie sich näher kamen, als es Geschwister sollten. Dann wurde er entdeckt, und man weiß nicht, wie weit die beiden wirklich gingen. Dae-Su – aus dem der eigentliche Schürzenjäger geworden ist – erzählte das Gesehene herum und schmückte es wohl noch aus, und die Gerüchte eskalierten. Das bekam Dae-Su damals nicht mehr mit, weil seine Familie nach Seoul zog, doch nun versteht er Woo-Jins Sinnspruch:

„Ob Sandkorn oder Stein, im Wasser gehen beide unter.“

Das bloße Gerücht, sie sei schwanger, reichte schließlich, dass Soo-Ah es selbst glaubte und aus Verzweiflung Selbstmord beging.

Nachdem Dae-Su nun den Grund für seine Gefangenschaft weiß, kann er aber trotzdem nicht einfach mit Mi-Do weggehen, da sein Wunsch nach Rache zu übermächtig ist. Er sperrt Mi-Do zu ihrem Schutz in sein eigenes altes Gefängnis, wird also wie Woo-Jin, und erfüllt unabsichtlich dessen Rache: Bei ihrer Konfrontation gibt ihm dieser sein altes, auf den aktuellen Stand gebrachtes Fotoalbum zurück. Selten gelingt es einem Film, seine Hauptfigur einem Geheimnis bis zum Ende folgen zu lassen und den Zuschauer dabei so zu führen, dass er es tatsächlich in derselben Szene wie der Held erkennt; in diesem Fall beim Blättern durch die Fotos von Dae-Sus langsam erwachsen werdender Tochter. Den Inzest, den Woo-Jin begonnen hat, hat Dae-Su nun vollzogen. Mehr noch: Psychopharmaka und Hypnose waren es, die Dae-Su und Mi-Do, deren Nachname nie genannt wurde, sich gezielt ineinander verlieben ließen. (Also war wie bei den Gerüchten wieder das gesprochene Wort die Ursache.)

Dae-Sus rachsüchtigem Zorn, der ihm wie einem Besessenen geradezu übermenschliche Kräfte verleiht, fallen Woo-Jins Leibwachen zum Opfer, bevor Dae-Su begreift, dass die Strafe noch nicht ganz vollendet ist. Wie er ist auch Mi-Do im Begriff, die Lösung zu erfahren – die Engelsflügel ließ Woo-Jin ihr bereits zukommen -, und das kann er vielleicht noch verhindern. Nun endlich erkennt er seine Schuld an und bereut, und zwar nicht aus selbstsüchtigen Motiven. Ergreifend fleht und bettelt er um Gnade für seine Tochter und schneidet sich schließlich mit der Schere die Zunge ab, denn die war ja für Schwangerschaft verantwortlich. Mit dieser zweiten, eigentlichen Katharsis sind wir nun endgültig in der antiken griechischen Tragödie angelangt, nichts trennt uns mehr von Ödipus, dessen Name in Oh Dae-Su bereits anklingt.

Hier gibt es jedoch Vergebung. Woo-Jin erspart Mi-Do die Raserei der Erkenntnis, seine Rache ist vollzogen. Er verzichtet auch darauf, Dae-Su zu töten; dieser versucht es jedoch umgekehrt und tappt damit in Woo-Jins letzte Falle: Die angebliche Fernbedienung des Herzschrittmachers startet das Spionageband mit der Aufnahme seines inzestuösen Geschlechtsverkehrs. Allerdings kehrt, wie von ihm angekündigt, nach Ausführung der Rache auch Woo-Jins Schmerz zurück; von den beiden Oldboys ist er derjenige, der wirklich ein Junge geblieben ist und nicht erwachsen wurde. Die Rache hat sein ganzes Leben eingefärbt, grün waren die Gefängnisgänge, grün ist sein Penthouse erleuchtet, den alten Schulnamen Evergreen hat er auch als Internet-Identität verwendet. Seine eigene Rachsucht ließ seine vornehme Beherrschtheit ebenso wie sein überlegenes Grinsen immer zwanghaft erscheinen, sein Lachen wirkte stets auch wie ein Weinen. Die Erinnerung an den Sprung seiner Schwester, den er nicht verhindern konnte und der sich mit Ablauf der gesetzten Frist heute jährt, kehrt zurück und beraubt sein Leben ohne den Antrieb nach Rache jeglichen Sinns – auch er geht in den Tod.

Damit sind Dae-Su und Mi-Do die eigentlichen Überlebenden, und die Schuld ist gesühnt. Der Satz des Selbstmörders auf dem Hochhausdach kehrt wieder:

„Auch wenn ich schlimmer bin, viel schlimmer als jedes Tier, habe ich nicht wenigstens das Recht zu leben?“

Der gereinigte Dae-Su lässt sich in einer verschneiten Winterlandschaft ein letztes Mal verwandeln, indem die Hypnositeurin sein Wesen spaltet in Dae-Su, der das Geheimnis nicht kennt, und das Monster, das weggeht und stirbt. Mi-Do rettet den unwissenden Dae-Su aus der tödlichen Kälte, um mit ihm in unschuldiger Liebe zu leben, so wie auf den Winter der Frühling folgen wird; und Dae-Su kann wieder lachen.

Die expressiven Gesichter und die archaische Wucht der Geschichte nehmen einen sehr stark in Besitz, die Komplexität der Bildkomposition und die vielen Überraschungen im Handlungsablauf tun ihr Übriges, um keine Distanz zum Betrachteten zu erlauben. In der Antike und im Mittelalter wurden zu den menschlichen Affekten nicht nur die kurzfristigen Gefühlsaufwallungen, sondern auch die langlebigen Leidenschaften und die Vernunft gezählt. Ob diese alle in ein gesundes Maß zu bringen seien, ob die edlen über die schlechten Affekte herrschen sollten, ob die Affekte von Grund auf gut oder böse seien oder den Zugang zur Spiritualität erst ermöglichten, darüber gingen die Meinungen auseinander, in einem waren sich die Philosophen jedoch einig: Ohne die Selbsterkenntnis ist der Mensch ein Sklave seiner Instinkte und birgt die Gefahren schwerer Vergehen in seinem Unbewussten. Von solchen Personen handelt OLDBOY.

© Franz Indra

Dieser Text ist eine gekürzte Fassung des entsprechenden Kapitels aus dem 2020 erschienen Buch „Der Rote Hering: Filmtagebuch eines Kinomachers“ von Franz Indra.

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Titel, Cast und CrewOldboy
OT: Oldeuboi
PosterOlboy Poster Filmkritik
Releaseseit dem 22.11.2019 DVD, Blu-Ray, UHD-Steelbook und im Mediabook

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RegisseurPark Chan-wook
SchauspielerChoi Min-sik (Oh Dae-su)
Yu Ji-tae (Lee Woo-jin)
Kang Hye-jeong (Mi-do)

Seo-hyeong Kim (Chief Kwon)
Trailer
DrehbuchPark Chan-wook
Lim Chun-hyeong
Hwang Jo-yun
KameraChung Chung-hoon
MusikJo Yeong-wook
SchnittKim Sang-boem
Produktions-DesignRyu Seong-hie
Laufzeit120 Minuten
FSKAb 16 Jahren

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