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Nosferatu: Phantom der Nacht (1979) – Filmkritik

Das Jahr 1979 stand im Zeichen des Vampirs! In BRENNEN MUSS SALEM (SALEM’S LOT, R: Tobe Hooper) erscheint der deutlich an die Figur Dracula angelehnte Kurt Barlow wie eine Max-Schreck-Kopie und Werner Herzog legte sogar eine neue Interpretation des Murnau-Klassikers vor. Diese ist allerdings weniger als ein Remake, sondern mehr als Hommage an NOSFERATU – EINE SYMPHONIE DES GRAUENS (1922) zu verstehen. Ohne Bram Stoker explizit im Vorspann zu benennen – dies war Murnau aus Urheberrechtsgründen nicht möglich – handelt es sich bei Herzogs NOSFERATU – PHANTOM DER NACHT um eine relativ werkgetreue Adaption des Romans Dracula.

© Arthaus/Studiocanal

Inhalt

Der Vorspann zeigt unheimliche Nahaufnahmen der angstverzerrten Gesichter der ‘Mumien von Guanajuato’. Lucy (Isabelle Adjani) erwacht schreiend aus einem Albtraum, der von einer Fledermaus handelt. Die Geschichte ist angesiedelt während der Biedermeier-Zeit: Jonathan Harker (Bruno Ganz), Lucys Mann, reist im Auftrag des Maklers Renfield (Roland Topor)[1] nach Transsilvanien zu den Grafen Dracula (Klaus Kinski)[2], der in Wismar ein Haus erwerben möchte. Während seiner Reise wird Harker vor dessen Schloss, das angeblich gar nicht existieren würde, gewarnt: „Wer sich ins Reich der Phantome verirrt, geht darin verloren.” Dracula ist ein Jahrhunderte alter Vampir, der mit einer Schiffsladung nach Wismar gebracht wird, in der die Pest ausbricht. Die Stadtverwaltung ist mit den Ereignissen überfordert und bricht völlig zusammen. Lucy, die aus den Tagebuchaufzeichnungen ihres schwer kranken Mannes die Wahrheit kennt, beschließt, da ihr niemand glaubt, den Vampir zu töten.

© Arthaus/Studiocanal

Interpretation

Die Zeit der Handlung ist eine durchwegs rationale, sich als aufgeklärt verstehende: Bürgertum und arbeitsteilige Gesellschaft haben sich durchgesetzt. Van Helsing (Walter Ladengast) glaubt und hier ist er Prof. Ambrosius aus Polanskis TANZ DER VAMPIRE (1967) ähnlich, nur an die Wissenschaft und die ‘Vernunft’ – mit fatalen Folgen. Karl Marx beschreibt auf Vampirmetaphern zurückgreifend Klassenantagonismen: „Das Kapital ist verstorbene Arbeit, die sich nur vampyrmäßig belebt durch Einsaugung lebendiger Arbeit und umso mehr lebt, je mehr sie davon einsaugt. Die Zeit, während deren der Arbeiter arbeitet, ist die Zeit, während deren der Kapitalist die von ihm gekaufte Arbeitskraft konsumiert.“ Die Zeit, in der gearbeitet wird, ist verlorene Lebenszeit: „Aber in seinem maßlos blinden Trieb, seinem Werwolfs-Heißhunger nach Mehrarbeit, überrennt das Kapital nicht nur die moralischen, sondern auch die rein physischen Maximalschranken des Arbeitstags.“ Lucy beklagt sich über die Hast, mit der Harker sein Frühstück verschlingt, er „lebt“, um zu arbeiten: „Die Verlängerung des Arbeitstags über die Grenzen des natürlichen Tags in die Nacht hinein wirkt nur als Palliativ, stillt nur annähernd den Vampyrdurst nach lebendigem Arbeitsblut. Arbeit während aller 24 Stunden des Tags anzueignen, ist daher der immanente Trieb der kapitalistischen Produktion.“

© Arthaus/Studiocanal

Industrialisierung und die bis spät nachts erleuchteten Fabriken machen die Nacht zum Tag. Der müßige Aristokrat Dracula, ein Wesen der Dunkelheit, erscheint dem Bürger diametral gegenübergestellt: sein Auftreten wirkt auch wie Protest gegen Erwerbsarbeit. Zugleich ist er ein einsames und trauriges Wesen: Er erlebt täglich die „gleichen Nichtigkeiten“, für ihn ist die „Zeit ein Abgrund, viele tausend Nächte tief“. Herzog nimmt auch Bezug auf Dracula-Interpretationen wie JONATHAN (1970, R: Hans W. Geißendörfer), indem die Herrschaft der Vampire mit einer modernen Diktatur gleichgesetzt wird oder ANDY WARHOL’S DRACULA (1974, R: Paul Morrissey), worin der Vampir unmittelbar nach der Oktoberrevolution als Relikt einer historisch überholten Klasse erscheint, dessen Hauptgegner ein kommunistischer Gärtner ist. Auch in der frühen Sowjetunion wurden tatsächliche oder vermeintliche Gegner des Regimes als „Blutsauger“ und „Parasiten“ diffamiert. Eine aktuelle Variante dieser Thematik ist die Vampir-Komödie BLUTSAUGER (2022, R: Julian Radlmaier).

© Arthaus/Studiocanal

Deutlich fängt NOSFERATU auch die unterschwellige Erotik aus Stokers Roman ein, die allgemein im Vampirmythos fest verankert ist. Wir denken an Novalis’ Hymnen an die Nacht, wenn Dracula sich zuerst Harker und später Lucy sexuell nähert – und davon spricht, wie neidisch er auf deren Liebe ist: „Hinüber wall ich, / Und jede Pein / Wird einst ein Stachel / Der Wollust sein. (…) Oh! sauge, Geliebter, / Gewaltig mich an, / Dass ich entschlummern / Und lieben kann. / Ich fühle des Todes / Verjüngende Flut, / Zu Balsam und Äther / Verwandelt mein Blut!” Ebenso erinnert Kinskis hypnotische Darstellung an das vampirhafte Wesen, das Guy de Maupassant in seiner meisterhaften, unheimlichen Erzählung Der Horla 1887 eindringlich beschreibt: „Er ist gekommen” – Renfield spricht davon, der ‘Meister’ sei gekommen – „Er, den die zeitweiligen Herren der Welt unter der monströsen oder anmutigen Gestalt von Gnomen, Gespenstern, Geistern, Feen oder Kobolden umgehen sahen. (…) Er ist der Horla (…) der Mensch hat den Löwen getötet mit Pfeil, Schwert und Pulver; aber der Horla wird dem Menschen das antun, was wir dem Pferd oder dem Rind angetan haben: Allein durch die Kraft seines Willens wird er über uns verfügen, zu seinem Sklaven, zu seiner Nahrung machen.”

© Arthaus/Studiocanal

Wie Dracula bringt der Horla Epidemien: „Die Opfer fliehen aus ihren Häusern, verlassen Dörfer und Felder. Sie glauben sich verfolgt, besessen, wie Vieh in Menschengestalt, getrieben von unsichtbaren, doch spürbaren Wesen, einer Art Vampire, die ihnen im Schlaf die Lebenskraft aussaugen.” Die Novelle ist in Form von Tagebucheintragungen geschrieben und Lucy fasst einen ähnlichen Entschluss wie der namenlose Ich-Erzähler. Dracula und der Horla gelangen über ein Schiff zu den Menschen, die sie zerstören werden. Die Faszination, die dieses Motiv bis zur Gegenwart ausübt, findet sich in dem aktuellen Vampir-Film DIE LETZTE FAHRT DER DEMETER (The Last Voyage of the Demeter 2023, R: André Øvredal), der sich lose an einem Kapitel aus Stokers Dracula orientiert.

© Arthaus/Studiocanal

Fazit

NOSFERATU zu sehen mit seinen schönen Landschafts- und Gebirgsaufnahmen ist wie ein Hineintauchen in eine phantastische Tradition, die von der Romantik über Bram Stoker bis zu modernen Vampir-Geschichten reicht – der Film wirkt wie ein zu Bildern gewordenes Stück Literatur! Zugleich werden auch die Schattenseiten der Moderne angeschnitten: Vereinsamung, gesellschaftliche Isolation, Inkompetenz der Behörden und Arbeitsdruck. Letztlich stellt der Film auch die brisante philosophische Frage, ob Unsterblichkeit eine wünschenswerte Vorstellung ist.

© Stefan Preis

Verwendete Literatur:

  • Kurz, Robert et al. (Hrsg.) (1999): Feierabend! Elf Attacken gegen die Arbeit. Hamburg.
  • Marx, Karl (1962): Das Kapital Band I. Kritik der politischen Ökonomie. Berlin.
  • Maupassant, Guy de (1982): Der Horla und andere grausame Geschichten. Bergisch Gladbach.
  • Müller, Jürgen et. al. (Hrsg.) (2022): Phantome der Nacht. 100 Jahre Nosferatu. Berlin.

 

Quellen:

  • [1] Der surrealistische Schriftsteller und Illustrator Topor schrieb auch die Vorlage zu DER MIETER (Le locataire, 1976, R: Roman Polanski), in dem auch Isabelle Adjani in der weiblichen Hauptrolle zu sehen ist. Darüber hinaus gestaltete Topor ein Filmplakat zu NOSFERATU.
  • [2] Kinski und Herzog drehten bereits AGUIRRE – DER ZORN GOTTES (1972) gemeinsam, die Zusammenarbeit wurde später mit WOYZECK (1979), FITZCARRALDO (1982) und COBRA VERDE (1987) fortgesetzt. In Jess Francos NACHTS, WENN DRACULA ERWACHT (1970) verkörperte er den Part des Renfield. Kinski trat in NOSFERATU IN VENEDIG (1988, R: Mario Caiano) nochmals in der Titelrolle auf. Der Name Nosferatu wird darin mit ‘Er, der nicht sterben kann’ gedeutet.

 

Titel, Cast und CrewNosferatu: Phantom der Nacht (1979)
Poster
ReleaseKinostart: 25.02.1979
ab dem 01.09.2022 in der Werner Herzog - 80th Anniversary Edition (Blu-ray oder DVD)
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RegieWerner Herzog
Trailer
BesetzungKlaus Kinski (Graf Dracula)
Isabelle Adjani (Lucy Harker)
Bruno Ganz (Jonathan Harker)
Roland Topor (Renfield)
Walter Ladengast (Dr. van Helsing)
Dan van Husen (Wachmann)
Jan Groth (Hafenmeister)
Carsten Bodinus (Schrader)
Martje Grohmann (Mina)
Rijk de Gooyer (Beamter)
DrehbuchWerner Herzog
KameraJörg Schmidt-Reitwein
MusikPopol Vuh
Florian Fricke
Charles Gounod
Richard Wagner
SchnittBeate Mainka-Jellinghaus
Filmlänge107 Minuten
FSKab 16 Jahren

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