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Nightmare Alley (2021) – Filmkritik

„Der Blick in die dunkle Seele“

Wir lassen uns gern in Erstaunen versetzen. Um dem tristen Alltag zu entfliehen, beobachten wir das Leben fremder Menschen, die schöner, reicher und begabter sind als wir. Es ist die Zeit der Stars, die sich in den letzten Jahren vom Scheinwerferlicht auf Millionen kleine Displays weiterbewegt haben. Ihnen gelingt es ihre Follower mit Empfehlungen, Geschichten und Prahlereien zu leiten, zu formen und zu überzeugen. Es ist wie ein großer, vernetzter Jahrmarkt, der eigentlich nur ein Ziel hat: den Leuten das Geld aus der Tasche zu ziehen. Der in den 1930er Jahren spielende NIGHTMARE ALLEY von Guillermo del Toro ist davon gar nicht weit entfernt. Es ist die Geschichte eines gewieften Hellsehers, der von einer Bande aus Freaks und Schaustellern geformt wird. Die Handlung ist fast schon stoisch langsam erzählt und mit einer mannigfachen Darstellung visueller Reizen überladen. Das macht NIGHTMARE ALLEY vor allem zu einem Film für Cineasten und für jene, die Alpträume zum Frühstück verspeisen.

© Searchlight Pictures / Disney

Handlung

Die Zeit der großen Depression in den USA: Arbeit gibt es kaum und Vagabunden durchqueren das Land mit ein bisschen Hab und Gut auf ihren Schultern und mit dunkler Vergangenheit in ihren Seelen. So auch der wortkarge Stanton Carlisle (Bradley Cooper), der für ein paar Dollar, warme Mahlzeiten und eine Matratze auf dem Jahrmarkt von Clem Hoatley (Willem Dafoe) anheuert. Auf dem Acker mit einem Zelt und ein paar Wagen tummelt sich eine Bande aus Kuriositäten wie der starke Bruno (Ron Perlman), der kleine Major (Mark Povinelli) und die elektrische Molly (Rooney Mara). Stanton gelingt es für Zeena die Seherin (Toni Collette) zu arbeiten, die zusammen mit dem alkoholkranken Pete (David Strathairn) einen Code der Körpersprache entwickelt hat, mit dem sie Zuschauer glauben lässt, sie hätte übersinnliche Fähigkeiten. Stanton sieht darin seinen Ausweg aus der Armut und sein Talent für Lügen wie auch seine schnelle Auffassungsgabe spielen ihm in die Karten. Es wird Zeit, den Rummel hinter sich zu lassen und zu einem Showstar zu werden.

© Searchlight Pictures / Disney

Der Außenseiter

Heute gilt ein Geek als Streber oder Nerd, damals zählte der Begriff noch für jene, die abscheuliche Taten begangen hatten, so auch hier in NIGHTMARE ALLEY. Die Handlung lässt sich grob in drei Komplexe unterteilen: Die Zeit auf dem Jahrmarkt, Die Zeit des Ruhms und Die Zeit des Absturzes. Mit 2,5 Stunden lässt sich die Geschichte Zeit für ihren Hauptcharakter und ihre Nebenfiguren. Bradley Cooper spielt Stanton vom stummen Arbeiter über einen verliebten Träumer zum arroganten Showmaster. Am Ende bleibt ein Wesen, das sich vollkommen verloren hat. Man wird mit dem Protagonisten nie warm. Es fehlt das Vertrauen, denn weder seine Vergangenheit noch seine Zukunft scheint Gutes zu wollen. Noch zu Beginn erklärt Willem Dafoe als Clem, wie er sich mit kalkulierten Kälte einen Geek für die Show (Das Abbeißen der Köpfe von lebenden Hühnern) heranzüchtet. Alkoholkranke macht er mit Opium unterwürfig und versetzt sie in einen Kreislauf der Sucht und des Entzugs. Es ist auch die Zeit der Prohibition, in der harter Alkohol verboten ist, das organisierte Verbrechen jedoch mit dem Schwarzbrennen Millionen einnimmt und sich die Alkoholkranken mit billigem Fusel das Augenlicht oder Schlimmeres wegsaufen. So bekommt der illegale Alkoholhandel seine Metapher in der Geekshow, welche natürlich von den Schaulustigen bezahlt werden muss.

© Searchlight Pictures / Disney

Als Zuschauer hat man das Gefühl, die Geschichte solle doch lieber bei dem Drama des hühnertötenden Geeks in seinem Käfig bleiben, dabei hat sich NIGHTMARE ALLEY bereits sein wahres Opfer ausgesucht, welches es mit Sucht und Verzicht zu unmenschlichen Taten zwingen wird. Stanton Carlisle will den Ruhm und das Geld. Die gibt es jedoch nur bei den Mächtigen und die sind in ihrem Wesen den Freaks vom Jahrmarkt nicht unähnlich. Zudem gelangt er in die Fänge von Dr. Lilith Ritter (Cate Blanchett).

© Searchlight Pictures / Disney

Trickbetrüger, Wahrsager, Psychiater und die Wirren des Krieges

Die eigentliche Stärke von NIGHTMARE ALLEY entwickelt sich erst im Nachhinein. Es sind die unterschiedlichsten Themen, die sich zu einem gut gewobenen Netz in der Handlung wiederfinden. Von den Anfängen als Jahrmarktattraktion geht es auf die große Bühne. Übermenschliche Kräfte werden durch die Codierung von Körpersprache zwischen Stanton und seiner Assistentin Molly inszeniert. Aber Stanton hat noch eine zweite Fähigkeit in dem Lesen von menschlichen Eigenschaften und Geschichten. Jeder hat Probleme mit dem Vater oder der Mutter, ein fehlender Ehering deutet auf Einsamkeit hin und eine Waffe in der Tasche ist der Wunsch nach Macht. Diese deduktiven Fähigkeiten, die sich manch guter Detektiv zu Nutze macht, finden in der Psychotherapie, speziell der Psychoanalyse eine weitere Ebene.

© Searchlight Pictures / Disney

Es beginnt ein Kräftemessen zwischen Stanton und Dr. Lilith, wer die Vergangenheit des anderen besser erkennen kann. Wem es gelingt, das eigene Geheimnis am längsten zu bewahren, erhält die Macht über den anderen. Eine weitere Art der Unterdrückung bzw. dem Gefügigmachen, die es in dieser Geschichte in unzähligen Varianten gibt. Es gibt eine sehr schön inszenierte Szene in der Lilith es gelingt, Stanton endgültig zu unterwerfen: Mit dem Hauch von Liebe steht sie ganz dich vor ihm, nimmt einen Schluck Rum aus einem schweren Kristallglas und küsst darauf Stanton. Sie stellt das Glas, welches wie eine Stimmgabel zu hören ist, auf den Tisch. Das Klingen lässt nach und als Stanton das Glas aufnimmt, um selbst daraus zu trinken, beginnt das Glas wieder akustisch zu vibrieren. Stanton trinkt seinen ersten Schluck Alkohol, was er nie wollte und was ihn ins Verderben führen wird.

© Searchlight Pictures / Disney

Zudem gibt es die Zeit des Zweiten Weltkriegs in der Handlung von NIGHTMARE ALLEY. Ende der 1930er ist die USA noch in einer Phase des Abwartens, aber über die Jahre hinweg ist der Krieg unausweichlich. Es lassen sich ein paar Bezüge zum Nationalsozialismus herstellen, der ebenfalls mit Gedankenmanipulation und falschen Aussagen gegenüber der Bevölkerung seine Macht gewann. In den Namen der Rollen sind deutsche oder hebräische zu finden. Dieser zeitgeschichtliche Bezug ist aber nur als Grundrauschen zu vernehmen und wird uns Zuschauerinnen und Zuschauern nie offensichtlich vor Augen geführt. NIGHTMARE ALLEY bleibt, abgesehen von ein paar Nachrichten im Radio und in der Zeitung, recht zeitlos und vor allem geografisch ungebunden, was der Geschichte eine noch viel universellere Tragkraft verleiht.

© Searchlight Pictures / Disney

Filmreferenzen und Guillermo del Toro

Es handelt sich hierbei um ein Remake von Edmund Gouldings DER SCHARLATAN (NIGHTMARE ALLEY, 1947), der auf dem gleichnamigen Roman von William Lindsay Gresham basiert. Es ist recht ungewöhnlich, dass sich Guillermo del Toro so stark an einer Vorlage orientiert. Wenn man mal von der Comicverfilmung HELLBOY absieht, schreibt er stets seine Geschichten selbst. In Bezug auf Filmgeschichte, Horror, H.P. Lovecraft und jegliche Art von obskuren Kulturen und Geschichten ist del Tor ein vollkommener Nerd. Der Mexikaner hat zudem eine beträchtliche Sammlung aus Büchern, Skulpturen und Bildern von Monstern, Fantasiewesen und allerlei dunkler Gestalten, welche sogar eine Ausstellung mit dem Titel „At Home with Monsters“ 2018 zugänglich gemacht wurde. NIGHTMARE ALLEY ist jedoch sein realistischster Film, der ohne jede Art von Geistern (CRIMSON PEAK, 2015), Riesenrobotern (PACIFIC RIM, 2013) oder Fabelwesen (THE SHAPE OF WATER, 2017) auskommt. Der Film verrät ohne Umschweife die Tricks seiner Illusionisten und dringt dabei tief in die Seele seiner Figuren ein. Das ist ein bisschen ungewöhnlich, da man bei ihm stets visuelle Geschichten erwartet und nicht wie hier eine, die hauptsächlich auf Dialogen basiert. Dennoch gibt es auch in NIGHTMARE ALLEY die üblichen und einprägsamen Gewaltspitzen.

© Searchlight Pictures / Disney

Die Inszenierung ist voll mit unzähligen Filmreferenzen. Es sei vor allem Tod Brownings FREAKS (1932) für das ersten Filmdrittel erwähnt, aber auch Roger Cormans DER MANN MIT DEN RÖNTGENAUGEN (X: THE MAN WITH THE X-RAY EYES, 1963) findet in der Show von Stanton und seiner Augenbinde mit dem Auge darauf, seinen Verweis. Man kann davon ausgehen, dass DER MANN MIT DEN RÖNTGENAUGEN seine Inspiration in DER SCHARLATAN gefunden hatte. Enoch, der zyklopische Embryo im Glas, ist zudem ein Verweis auf Stanton mit seinen Fähigkeiten. Beide Filme, wie auch das Original NIGHTMARE ALLEY (1947), sind jedem Interessierten hiermit ans Herz gelegt.

© Searchlight Pictures / Disney

Das Genre-Grundgerüst ist im Film noir zu finden. Genauer gesagt ist es ein Neo-Noir, da er die Grundelemente des Film noir (1941-1958) nutzt und neue Geschichten erzählt. Der männliche Anti-Held, die Femme fatale und die pessimistische Atmosphäre, alles markante Merkmale des Genres, kennzeichnen auch NIGHTMARE ALLEY.

Es bleibt die Frage, warum Guillermo del Toro so weit von seinem bekannten Terrain abweicht und eine Geschichte ohne übernatürliche Elemente inszeniert und zudem eine Romanverfilmung neu auflegt, obwohl er ein begnadeter Geschichtenerzähler ist. Möglicherweise findet sich die Antwort in der Geschichte selbst, die Guillermo vielleicht persönlich am Herzen liegt. Die Rolle des Sonderlings im Rampenlicht kennt er mit seinem mehrfachen Oscargewinnerfilm THE SHAPE OF WATER sicherlich zu gut. Hinzukommt der Beruf des Regisseurs, der in gewisser Weise auch ein Trickbetrüger ist.

© Searchlight Pictures / Disney

Fazit

Die eingeschworenen Fans von Guillermo del Toro werden etwas verunsichert aus NIGHTMARE ALLEY entlassen. Die erwarteten übernatürlichen Aspekte fehlen voll und ganz und auch die stark visuelle Erzählperspektive, trotz bombastischem Set-Design, scheint del Toro dieses Mal bewusst auszulassen. Dennoch ist dank der intensiven Roman-, wie auch Filmvorlage eine amoralische Erzählung entstanden, die den amerikanischen Traum in sein Gegenstück verkehrt. Ein ungewöhnlicher Film, der zum Psychoanalysieren geradezu geschaffen ist, was auch dem hohen Niveau seiner Darsteller zu verdanken ist. Ein alptraumhafter Jahrmarktbesuch aus dem man zu gern wieder in sein echtes Leben entlassen wird.

© Christoph Müller

Buchtipp aus der Redaktion:

Wer gern mehr über die Hintergründe zur Idee, dem Dreh und zum Making-of erfahren möchte, dem legen wir das Buch „Nightmare Alley – The Rise and Fall of Stanton Carlisle“ ans Herz. Die Texte sind in Englisch, es gibt umfangreiche Fotos vom Dreh und Skizzen zum Produktionsdesign. Außerdem gibt Regisseur Guillermo del Toro einen Einblick wie der Film über die letzten 30 Jahre (!) entstand. Der Preis ist nicht gerade günstig, aber die Aufmachung und der Inhalt ist es allemal wert.

  • in Englisch von Insight Editions
  • 159 S. mit über 200 Fotos und Abbildungen
  • Autor*innen: Gina McIntyre, Guillermo del Toro
  • Gebunden. Format 23,5 x 1,78 x 27,94 cm
  • ISBN: 978-1647225049
  • Preis ca. 45 € Bei Amazon versandkostenfrei  bestellen.
Titel, Cast und CrewNightmare Alley (2021)
Poster
RegieGuillermo del Toro
ReleaseKinostart: 20.01.2022
ab dem 31.03.2022 auf Blu-Ray und DVD

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Trailer
BesetzungBradley Cooper (Stanton Carlisle)
Cate Blanchett (Dr. Lilith Ritter)
Toni Collette (Zeena the Seer)
Willem Dafoe (Clem Hoatley)
Richard Jenkins (Ezra Grindle)
Rooney Mara (Molly Cahill)
Ron Perlman (Bruno)
Mary Steenburgen (Mrs. Kimball)
David Strathairn (Pete)
Mark Povinelli (The Major)
Peter MacNeill (Richter Kimball)
Holt McCallany (Anderson)
Tim Blake Nelson (Carny Boss)
DrehbuchGuillermo del Toro
Kim Morgan
BuchvorlageBasiert auf dem gleichnamigen Roman von William Lindsay Gresham
FilmmusikNathan Johnson
KameraDan Laustsen
SchnittCam McLauchlin
Filmlänge151 Minuten
FSKAb 16 Jahren

Ein Gedanke zu „Nightmare Alley (2021) – Filmkritik“

  1. Furchtbar viele Klischees, Ausstattung wirkt elektronisch-billig, vermutlich hätte man aus der Geschichte was machen können, aber ich fands so sexy wie ein Halloweenkostüm aus Plastik vom Penny.

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