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New York, New York (1977) – Filmkritik

„Gegensätze“

Es ist anders, als man es sich vorgestellt hat. Dieser Satz von Sängerin Francis über das Leben und die Beziehung zu Jimmy im Musikfilm NEW YORK, NEW YORK trifft auch auf die Erwartungen an den Film von Martin Scorsese: Eine musikalische Reise durch die amerikanische Metropole, vielleicht noch eine Romanze, ganz viel Flair der 1950er-Jahre und auf Spurensuche nach dem berühmten Song. Aber weit gefehlt, denn es handelt sich von Beginn an, um eine vergiftete Beziehung eines Machos zu einer gutgläubigen Künstlerin. Die Musik und der Hit sind nur Nebenprodukte. Das wird uns nicht am Filmende in einer dramatischen Erkenntnis bewusst, sondern gleich zu Beginn, wenn Jimmy während der Friedensparty unbedingt eine Frau „flachlegen“ will und sich hartnäckig bei Francis an den Tisch setzt. Heute wäre bereits nach dem wiederholten Nein, schon von Belästigung die Rede, wäre das aber damals schon der Fall? Genau hier macht Scorsese das entscheidende Ausrufezeichen. Selbst vor Jahrzehnten wäre diese Behelligung, die sich über Minuten hinzieht, auch ohne gesetzliche Rückendeckung, falsch. Auf dieses erste „Kennenlernen“ entsteht eine Beziehung, der man nur noch unfassbar beim Scheitern zusehen kann.

© Plaion Pictures

Handlung

Der Zweite Weltkrieg ist vorbei, Partystimmung in New York. Soldaten kehren von der Front zurück, in die Arme ihrer Lieben oder in die von Unbekannten. Jimmy Doyle (Robert De Niro) hat seine Uniform bereits gegen bequeme Kleidung ausgetauscht. Hemmungslos spricht er jede Frau an und benutzt bestimmte Arten von Taktiken für einen One-Night-Stand. Er beißt auf Granit, besonders bei Francine Evans (Liza Minnelli). Aber an ihr, scheint er sich festgebissen zu haben und als ihre Freundin sich mit einem Freund von Jimmy einlässt, kreuzen sich unweigerlich ihrer Wege erneut. Der Musiker Jimmy kann die Hotelrechnung nicht zahlen. Bei einigen Hotels ist er bereits auf der schwarzen Liste, aber ihm gelingt es dennoch Francis zu überreden, ihn zu einem Vorspielen in einem Tanzlokal zu begleiten. Dank ihres spontanen Mitgesangs sind beide engagiert. Eine jahrelange Reise zweier Musiker beginnt, die eine giftige Beziehung verbindet.

© Plaion Pictures

Kunst vs. Beziehung

Die Erwartungen an ein detailreiches Musical, angereichert mit vielen packenden Songs und jeder Menge Gefühl, werden nicht erfüllt. Wir lernen einen Saxophonisten kennen, bei dem von Anfang an klar ist, dass seine eigene Karriere immer Priorität haben wird. Die Sängerin Francis zeigt Widerstand, aber sie lässt sich von Jimmys Talent blenden. Selbst als er sie nachts vor den Friedenrichter schleift, um sie zu heiraten – sie erfährt erst davon, als sie vor der Tür stehen – gibt sie nach Zögern auf. Jimmy droht sogar mit Selbstmord, wenn sie nicht ja sagt. Das mag vielleicht in der Übertreibung witzig erscheinen, aber in der Länge der Diskussionen und dem Feilschen Jimmys, schreit man Francis nur noch zu: Lauf! Aber es ist Mitte des 20. Jahrhunderts, die Rechte von Frauen sind auf ein Minimum begrenzt, Geschäfte wie auch das Showbiz sind in Männerhand.

© Plaion Pictures

Zum Glück gibt es die Musik. Liza Minnelli singt sich von Song zu Song zu neuen Höhen auf, um im finalen „New York, New York“ ihrem umfangreichen Stimmtalent eine Live-Performance zu zeigen, welche Gänsehaut garantiert. Vielleicht beeindruckt, das letzte Stück umso mehr, weil in den vorherigen Auftritten immer ein bisschen der Verdacht des Playback mitschwingt. Aber das Finale ist insgesamt wie eine Wiedergutmachung, für die vorherigen Leiden und das stets unangenehme Gefühl, wenn Robert De Niro keinerlei Sympathie in seine Figur legt. In WHIPLASH (2013) wischt der Musiker die aufkommende Beziehung frühzeitig zur Seite, denn sie kann seinem Ziel, der Beste zu werden, nur im Weg stehen. In NEW YORK, NEW YORK will Jimmy ebenfalls der Beste werden, jedoch braucht er Francine dafür. Spätesten nach der Geburt des Sohnes, trennen sich – zum Glück – ihre Wege.

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„[…] die großen Musicals in knalligem Technicolor und mit künstlichen Dekorationen. […] Vielleicht war ich so in diesen Filmen verwurzelt, dass ich zurückgehen und diese Welt wiedererschaffen musste, die halb Schwindel und halb Wirklichkeit.“ – Martin Scorsese [1]

Die Produktion

Den Schwindel erkennt man in den oben beschriebenen Erwartungen sehr schnell. Die Wirklichkeit ist hier in der Weise zu erkennen, dass Beziehung nicht ewig und harmonisch andauern. NEW YORK, NEW YORK ist komplett in einer Kulissenwelt gedreht und scheut sich nicht diese zu verbergen. Theater- und Musicalbühnen werden genutzt, aber auch große Konzerthallen für die Auftritte. Die visuelle Stimmung bedient sich langer Kamerafahrten, die damals in diesem Genre schwebend über den Musikern, Tanzenden und Singenden hinwegfloss. Scorsese bricht immer wieder mit diesen Einstellungen, er ist eben auch ein Regisseur des New Hollywood, das die alten großen Produktionen in die Realität überführt und die Kamera (László Kovács) wieder auf Augenhöhe runterholt.

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An der Seite von Regisseur Martin Scorsese sind zwei Schauspieler, die nicht unterschiedlicher sein könnten. In fast ausschließlich improvisierten Szenen treffen beide aufeinander. Robert De Niro, der nie lockerlässt und seine Augen sind die eines Raubtier auf Beutezug. Seine Stimmung kann innerhalb von Sekunden umschlagen, zum Beispiel in die eines trotzigen Jungen, der nicht bekommt, was er will. De Niro hat wochenlang das Saxophonspielen bei Georgie Auld gelernt, der auch einen kleinen Auftritt als Frankie Harte im Film hat. Aulds Musiksolos sind es auch, die wir hören, wenn De Niro die richtigen Bewegungen am Tenorsaxophon zeigt. Ihm gegenüber agiert Liza Minnelli, die im wahren Leben Sängerin und nicht Schauspielerin ist. NEW YORK, NEW YORK war ihr dritter Versuch, nach zwei Flops, es in Hollywood zu schaffen, doch den Film wollten, trotz guter Kritiken, in den Lichtspielhäusern kaum einer sehen. Minnelli konzentrierte sich nach NEW YORK, NEW YORK ganz auf ihre Musikerinnenkarriere. Was übrigens auch etwas Analogie zum Film aufweist, sie wendet sich von Jimmy (De Niro der Hollywood-Star) ab, um ein Star der Musikszene zu werden. Minnelli agiert in den dominierenden Szenen von De Niro eher verhalten, weiß sich aber mit kurzen Sätzen zu verteidigen. Die Laufzeit lässt sich gut in drei Parts unterteilen, Teil eins gehört De Niro, Teil zwei Minnelli und der dritte Teil (das Musical) keinem von beiden. Im musikalischen Finale trägt Minnelli sogar die Garderobe ihrer Mutter, Judy Garland – ein Verweis darauf, wie tief der Film in der Musikszene verwurzelt ist, auch wenn er dieser Kunstform auch sehr kritisch gegenübersteht.

© Plaion Pictures

Die Männlichkeit

In den Filmen von Martin Scorsese werden neben wiederholenden Themen wie Glaube, Popkultur und Erlösung stets Männerrollen portraitiert und zerlegt. Selten als positive, meist als scheiternde Figur, die sich an Grenzen abarbeitet und ihren eigenen Ansprüchen nicht gerecht wird. Sei es der Mafiosi in GODFELLAS, der Glücksspiel-Manager in CASINO, der Boxer in WIE EIN WILDER STIER oder der Wall-Street-Kapitalist in THE WOLF OF WALL STREET, alle wissen, was sie werden wollen. Sie orientieren sich an konkreten Arten der männlichen Dominanz, die sie um jeden Preis sein wollen. Jimmy gehört ebenfalls dazu. Er hat sogar ein Lebensmotto dafür, was er Francine in ihrer ersten Taxifahrt erklärt – übrigens finden im Film mehrere Fahrten statt, es gibt aber immer denselben Fahrer. Der Traum ist der DUR-Akkord (im Original: major chord) mit drei Tönen: Karriere, Kunst und Frau. Die Reihenfolge lässt sich beliebig verändern, da – seiner Meinung nach – die Ziele sich gegenseitig beeinflussen.

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Jimmy ist ein begnadetes Talent am Saxophon, will bereits den Bebop, den freien Jazz spielen und sich nicht mehr in einer Swingband unterordnen. Die Karriere gelingt noch nicht sofort, er geht mit Francine (Frau) auf Tour und ihre Stimme ist es auch, die Erfolg (Karriere) verspricht. Nachdem sie eine Schwangerschaftspause einlegt, die Band schwachen Ersatz finden muss, bleibt das Publikum fern. Jimmy braucht eine neue Bühne und findet sie im Harlem Club, wo er eher seine Musik (Kunst) spielen kann. In diesem Tanzlokal tauscht er auch die Kleidung, die bunten Hemden noch zu Filmbeginn sind nun die Tapete und die überbreiten Sakos sollen Jimmy noch imposanter machen.

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Happy End?

Zum Ende wird noch einmal alles aufgefahren, was zu einem Musical gehört – vor allem in der Langversion, die ganze 30 Minuten umfangreicher ist. Eingeleitet mit Jimmy, der sich nach vielen Jahren der Trennung ein Stück namens „Happy Endings“ mit der nun sehr erfolgreichen Francine in der Hauptrolle anschaut. Darin träumt die Darstellerin vom großen Durchbruch, der ihr vom Weg einer Kinoplatzanweiserin zum Superstar bevorsteht. Jede Menge Statisten, rollende Hochglanzkulissen und packende Songs werden aufgeboten. Danach treffen Jimmy und Francine wieder aufeinander, im selben Saal, in dem sich Jimmy zu Beginn so hartnäckig zeigte. Jetzt singt Francine sein Stück („New York, New York“) und verarbeitet darin, die ganze Achterbahn der Gefühle, die ihre Beziehung miterlebte. Im Backstage reden sie miteinander, die sechs Jahre der Trennung hat beide reifer werden lassen. Jimmy will sie zum Essen ausführen. Francine sagt erst zu, lässt ihn aber dann doch am Nebeneingang warten. Das Happy End ist, dass beiden nicht zusammenfinden, im Wohle beider Leben wie auch ihrer Karrieren.

© Plaion Pictures

Fürs Filmarchiv

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2022 veröffentlichte Plaion Pictures NEW YORK, NEW YORK zum ersten Mal auf Blu-ray in einer Special-Edition. Besonderheit dieser Edition ist die Langfassung (163 Min.), welche komplett synchronisiert (jedoch mit einer anderen Synchronstimme für De Niro) in HD geboten wird. Die Kinofassung (137 Min.) ist ebenfalls dabei. Bild- und Ton-Restauration sind sehr gut gelungen. Das Filmpaket kommt zusammen mit einem 24-seitigem Heftchen, was eine Kurzbiografie von Scorsese enthält und in einem anderen Text auf den Song eingeht, den viele fälschlicherweise Frank Sinatra zugutekommen lassen. Der Druck der Edition ist sehr schön geworden und der Titelschriftzug erscheint in goldenen Lettern. Das Bonusmaterial ist sehr umfangreich ausgefallen und sehenswert, und wenn es nur die Einführung des Maestros zu seinem eigenen Film ist. Empfehlung!

© Plaion Pictures

Fazit

Das Melodram gehört wohl zu den unangenehmsten Filmen von Martin Scorsese. Er verarbeitet die Lügen der Hochglanzzeit des Musicals in einem zerstörerischen Beziehungsdrama. Trotz hervorragender Inszenierung und anhaltender, packender Musik hinterlässt NEW YORK, NEW YORK einen faden Beigeschmack. Der Film spielte damals geradeso seine Kosten wieder ein und verpasste Scorsese eine drogengeschwängerte Sinnkrise. Zum Glück findet er mit WIE EIN WILDER STIER ein paar Jahre später wieder den Boden unter seinen Füßen.

© Christoph Müller

Quelle: 

[1] Seeßlen, Georg; „Martin Scorsese“; Bertz Verlag Berlin“ 2006

 

Titel, Cast und CrewNew York, New York (1977)
Poster
Releaseseit dem 24.02.2022 in der Special Edition (Blu-ray + Bonus-Blu-ray + DVD) erhältlich.

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RegieMartin Scorsese
Trailer

Englisch
BesetzungLiza Minnelli (Francine Evans)
Robert De Niro (Jimmy Doyle)
Lionel Stander (Tony Harwell)
Barry Primus (Paul Wilson)
Mary Kay Place (Bernice Bennett)
Georgie Auld (Frankie Harte)
George Memmoli (Nicky)
Clarence Clemons (Cecil Powell)
Kathi McGinnis (Ellen Flannery)
Dimitri Logothetis (Rezeptionist)
Jack Haley (Zeremonienmeister)
DrehbuchHarold Ramis
Douglas Kenney
Christofer Miller
KameraLászló Kovács
MusikJohn Kander
Fred Ebb
SchnittBert Lovitt
David Ramirez
Tom Rolf
FilmlängeKinofassung: 137 Minuten
Langfassung: 163 Minuten
FSKab 6 Jahren

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