Ein großer Teil der Handlung von NEUN IM FADENKREUZ (Sans mobile apparent, 1971) wird aus der Perspektive des Mörders bzw. durch sein Zielfernrohr gezeigt. Ihn selbst lernt das Publikum erst im letzten Drittel des Films kennen. Philippe Labro, ein Meister des französischen Kriminalfilms – er inszenierte später DER GREIFER (L’alpagueur, 1976) und WESPENNEST (La Crime, 1983), erzählt zu dem leisen, melancholischen Soundtrack von Ennio Morricone im sonnendurchfluteten Nizza die Geschichte eines grausamen Schicksals. Zurück bleiben am Ende zwei Liebende, die die wichtigsten Menschen in ihrem Leben verloren haben.

Handlung
An der Côte d’Azur wird der einflussreiche Geschäftsmann Forest (Michel Bardinet) über weite Distanz mit einem Gewehr getötet – es ist der Auftakt einer Reihe unheimlicher Morde, die die Stadt Nizza erschüttern und umfangreiche Polizeiaktionen nach sich ziehen. Die Getöteten gehören der wohlhabenden Gesellschaftsschicht an – dies erhöht letztlich auch den Druck, einen Täter zu präsentieren. Zunächst werden in der aufgeladenen politischen Debatte Anhänger linker Gruppen verdächtigt. Der mit den Ermittlungen betraute Stephane Carella (Jean-Louis Trintignant) wird schließlich damit konfrontiert, dass seine Geliebte Jocelyne Rocco (Carla Gravina) von einem Dachfenster aus erschossen wird – umgekehrt verletzt Carella den flüchtenden Täter mit einem Streifschuss.

In Forests Tagebuch entdeckt dessen Stieftochter Sandra (Dominique Sanda) Notizen über Affären mit verschiedenen Frauen, darunter auch Jocelyne. Sandra gibt letztlich Carella Hinweise auf das lange in der Vergangenheit liegende Tatmotiv: die betroffenen Personen, die sich weitestgehend schon von der Universität her kannten, nahmen als Laiendarsteller an einer Theateraufführung teil – an einer Frau (Laura Antonelli) wurde vor acht Jahren ein grausames Verbrechen verübt, an dessen Folgen sie bis heute leidet.

Interpretation
Vorlage des Films ist der 1963 erschienene Polizeiroman Ten Plus One von Ed McBain, der etwa zeitgleich das Drehbuch zu Alfred Hitchcocks DIE VÖGEL (The Birds) verfasste. Der Ort der Handlung wurde für NEUN IM FADENKREUZ von New York nach Frankreich verlegt. Bereits 1972 entstand mit AUF LEISEN SOHLEN KOMMT DER TOD (Fuzz, Regie: Richard A. Colla) eine weitere Adaption um das fiktive New Yorker 87. Polizeirevier und 1978 verfilmte wiederum ein französischer Regisseur eine Vorlage von McBain – BLUTSVERWANDTE (Les Liens de sang, Regie: Claude Chabrol). Anders als bei McBain, der das Polizisten-Team in den Vordergrund stellt, ist Carella in NEUN IM FADENKREUZ ein gebrochener Einzelgänger, der, obwohl er ein brillanter Ermittler ist, dem Sumpf aus Gewalt und Korruption mehr oder weniger hilflos gegenübersteht und am Ende den Dienst quittiert.

Einzelne Aspekte der Handlung – sexuelle Ausschweifungen an geheimen Orten, die Schlüsselfigur der Handlung trägt den Namen Juliette – verweisen auf das bis in die Gegenwart kontrovers diskutierte Werk des Marquis de Sade (1740-1814), der in seinen letzten Lebensjahren in der Psychiatrie Charenton-Saint-Maurice auch Theateraufführungen leitete. Sade beschreibt grausame, überwiegend von Angehörigen der oberen Klasse verübte Gewalttaten, die oft nur vor dem Hintergrund geschehen, Macht auszuüben, andere zu quälen und zu demütigen. Die gesellschaftliche Stellung macht die Täter jedoch für die ohnehin korrumpierte Justiz unantastbar.[1] In der als Theaterstück konzipierten Schrift Die Philosophie im Boudoir erklärt eine der Figuren, dass jede Frau „allen Männern“ gehöre, sobald sie in ihnen das „Begehren“ nach Besitz geweckt habe. Es ist aber möglich, Sades Texte als radikale Kritik an Herrschaftsverhältnissen und sexueller Ausbeutung zu lesen[2] – so wie NEUN IM FADENKREUZ eine solche Lesart zulässt.

Der Original-Titel verweist auf die Komplexität eines möglicherweise nicht vorhandenen Tatmotivs. Da dieses so lange im Dunkeln liegt, erscheint der Scharfschütze zunächst wie ein Schurke aus dem Sadeschen Kosmos – vergleichbar GRAF ZAROFF – GENIE DES BÖSEN (The Most Dangerous Game, Regie: Ernest B. Schoedsack, 1932), der auf einer einsamen Insel Menschen ‘jagt’. Meistens begleitet die subjektive Kamera den Mörder und lässt dem Publikum dessen Perspektive einnehmen, etwa wenn seine Ausweispapiere kontrolliert werden oder man sieht nur einen Handschuh oder das Verbinden einer Schussverletzung. Eine nahezu quälend lange Sequenz zeigt, wie der Täter einen älteren Arbeiter, der sein Gewehr gefunden hat, durch einen Park verfolgt und schließlich tötet – konsequent blendet die Kamera kurz vor dem Mord ab, von diesen erfährt man erst später durch den Dialog der Polizisten. Das Bekanntwerden von Juliettes Geschichte verändert aber schließlich die Perspektive auf den Mörder: er erscheint als ambivalente und tragische Figur.

Fazit
NEUN IM FADENKREUZ ist ein ebenso spannender wie sozialkritischer Thriller mit Elementen des Melodrams, der vor dem Hintergrund realer Kriminalfälle wie der Epstein-Affäre heute erschreckend aktuell erscheint. Mit den Figuren ist es möglich mitzufühlen, ebenso wie man sie verabscheuen kann.
Verwendete Literatur
- Därmann, Iris (2023): Sadismus mit und ohne Sade. Berlin.
- Marquis de Sade (2006): Gesammelte Werke. Die Philosophie im Boudoir / Die 120 Tage von Sodom / Justine oder Die Leiden der Tugend / Juliette oder Die Wonnen des Lasters. Paderborn.
[1] Etwa in Die 120 Tage von Sodom: „Infolgedessen beging er Diebstähle und Morde aus dem einzigen Prinzip der Ausschweifung und Lüsternheit, so wie ein anderer, um dieselben Leidenschaften zu entflammen, sich begnügt, Mädchen zu besuchen. Mit 23 Jahren unternahm er es, mit dreien der Genossen des Lasters, denen er seine Philosophie eingeprägt hatte, eine Postkarosse auf der Hauptstraße anzuhalten, die Männer und Frauen zu notzüchtigen und nachher zu ermorden, sich des Geldes, dessen sie sicherlich nicht mehr bedurften, zu bemächtigen und mit den dreien in derselben Nacht noch den Opernball zu besuchen, um das Alibi zu beweisen. Dieses Verbrechen gelang nur zu gut, zwei reizende Fräulein wurden geschändet und in den Armen ihrer Mütter hingemordet; dem fügte man noch eine Unmenge anderer Scheußlichkeiten hinzu, und niemand wagte, sie zu verdächtigen.“
[2] Iris Därmann schreibt: „Kaum jemand konnte sich rühmen, die Strafgewalt so unterschiedlicher politischer Regime auf sich gezogen zu haben, wie Sade. Die verantwortlichen Akteure des Ancien Règimes, des Terreur-Regimes unter Robespierre und des Konsulats unter Napoleon hatten vermutlich keine intimen Kenntnisse seiner Werke, doch ihnen allen schienen sie offenbar brandgefährlich “
„Erste Horror-Begegnung mit der Alptraum-Sequenz aus NEVER CRY WOLF (1983), mag Unheimliches von den Gebrüdern Grimm bis Clive Barker, am liebsten auf der Leinwand, würde gerne einmal Nosferatu in Murnau sehen und Suspiria am Königsplatz, dazu Weißwürste mit süßem Senf, Soziologe und Kriminologe, Abschlussarbeit über SHINING und CANDYMAN (als Buch erschienen unter dem Titel „Zeichen der Gewalt“, Berlin 2015), Studienleiter bei der Interfilm-Akademie München (Projekte u. a. Kriminologische Filmreihe in Hamburg)“


