Prolog
„Der härteste Film, der jemals von einer Frau gedreht wurde“.
Diese reißerische Ankündigung durch den deutschen Verleih provozierte einen damals 15-jährigen dazu, sich selbstbewusst in seinen ersten Film ab 18 zu mogeln. In fiebriger Erwartung nun ein nicht auszuhaltendes Splatterspektakel präsentiert zu bekommen, zog ihn der folgende Film aber dann auf ganz andere Weise in seinen Bann. Ja, er war blutig, brutal, direkt und schwarzhumorig grausam. Aber das alles waren eher kontrapunktische Noten in einer visuell faszinierenden und porentief sinnlich interpretierten Sinfonie des Grauens. Ein Grauen der Befreiung, schmerzhaft und zugleich wegweisend. Ein filmischer Wegweiser zwischen unschuldiger Jugend und wahrhaftigem Erwachsenwerden.
Zu seiner Zeit visionär und auch heute noch, trotz 80er-Jahre-Manierismen, immer noch hochmodern. Ein Film wie die Wesen die er besingt. Ein Vampir auf Zelluloid, unsterblich und ewig jung.
Das mutig eroberte Kino des damals 15-Jährigen existiert nicht mehr. Der Film ist immer noch zeitlos schön: NEAR DARK – DIE NACHT HAT IHREN PREIS von Kathryn Bigelow.
Die Handlung
Irgendwo in der Einöde des mittleren Westens der USA.
In einer leinwandfüllenden Makroaufnahme saugt eine Mücke an einem menschlichen Finger. Das Blut fließt durch einen transparenten Kanal in ihren filigran dürstenden Körper. Dieses von vielen verhasste Wesen muss trinken, um zu überleben. In einem Pferdestall betrachtet Cowboy Caleb (Adrian Pasdar, HEROES) spielerisch fasziniert den Raub seines Lebenssaftes bevor er den Räuber mit einem schnellen Schlag auf seiner Hand zerquetscht. Dieser Wimpernschlag einer Szene beinhaltet bereits die Essenz des kompletten Films der folgen wird. Mit einer neugierigen Mischung aus jugendlicher Faszination für das „Böse“, einer fast schon masochistischen Leidensfähigkeit, sowie einer rücksichtlosen Entschlossenheit zeigt Hauptfigur Caleb hier bereits seinen kompletten Charakter.
Sehr klug wird ein Moskito anstelle der sonst so gern zitierten Fledermaus zum Synonym für das Mysterium Vampir erwählt. Als Überträger tödlicher Krankheiten und seiner totalen Abhängigkeit vom Blut anderer Lebewesen, ist dieses Insekt zu gleichen Teilen Todbringer, wie auch leiblich gewordene Verletzlichkeit. Caleb wird diese Aspekte noch intensiver kennenlernen. Hier zeigt sich das Grundmuster von NEAR DARK, welches im Folgenden immer weiter variiert, um am Ende an gleicher Stelle zu einem konsequenten Ende zu gelangen. Nach seiner Reise an den Rand der Menschlichkeit wird in diesem Stall erneut Calebs Blut fließen und Leben spenden. Doch diesmal aus den richtigen Gründen. Am Ende ist er erwachsen geworden.
Verlorene Streiflichter in mondloser Nacht
Am Anfang zieht es Caleb mit seinem Pick-Up auf eine Spritzfahrt in die Nacht. Dort begegnet er der geheimnisvollen Mae (Jenny Wright, ST. ELMOS FIRE). Ihre blassweiße Haut scheint fast zu leuchten. Oder ist es ihre sinnliche Natur, welche die sonst so finstere Nacht erstrahlen lässt? Ihr verletzliches und zugleich freigeistiges Wesen faszinieren Caleb. Auch Mae sieht mehr in ihm, als einen halbstarken Draufgänger. Ihre Begegnung hat etwas Magisches. Doch Mae scheint nicht ganz von dieser Welt zu sein. Eine Begegnung mit Calebs Lieblingspferd verstört nicht nur sie, sondern auch das Tier.
Als Caleb sie spielerisch mit seinem Lasso einfängt, beweist sie wie selbstverständlich ihre immense körperliche Kraft. Auch auf einen leidenschaftlichen Kuss will sie sich nicht wirklich einlassen. Irgendwie scheint sie der heranziehende Morgen nervös zu machen. Sie bittet Caleb ihn nach Hause zu fahren. Aber der will seinen Kuss, den er dann auch erhält. Die Leidenschaft der beiden brennt sich fast durch die Leinwand. Doch statt mit einer schnellen Nummer hinter dem Lenkrad endet ihre Liebelei mit einem blutigen Biss in Calebs Hals. Während er sich noch das Blut vom Hals wischt, flieht Mae zu Fuß durch die morgendlich erwachende Wüste.
Sofort zeigt der Biss seine Wirkung. Das aufkommende Sonnenlicht scheint seine Haut zu verbrennen. Als sein Auto nicht anspringt, versucht auch er zu Fuß zurück nach Hause zu kommen. Mit qualvollen Schmerzen schafft er es noch ins Blickfeld seines Vaters und seiner kleinen Schwester. Doch bevor er sie, rauchend wie ein Stück Kohle, erreichen kann, wird er von einem schwarzen Wohnwagen gestoppt und vor den Augen seiner Familie entführt. Er ist nun in den Fängen von Maes Ersatzfamilie gelandet. Ab jetzt wird er zum blutdurstigen Mitglied einer mordenden Vampirgang. Um zu überleben und Teil ihrer Gruppe zu bleiben, muss er ab jetzt töten. Doch sein menschliches Wesen verhindert immer wieder einer der ihren zu werden. Nur durch Maes Blutspenden kann er sein langsames Dahinscheiden verhindern. Eine finale Auseinandersetzung mit den anderen Vampiren scheint unumgänglich zu werden. Doch das Schicksal führt ihn geläutert zum Anfang zurück. Das Blut der eigenen Familie ist stärker als das der Straße.
THE WILD „BITING“ BUNCH
Mit ihrem intelligent komponierten Vampir-Trip reitet Regisseurin Kathryn Bigelow (BLUE STEEL, THE HURT LOCKER) auf einem visuell betörenden Neo-Western einem reinigenden Sonnenaufgang entgegen. Am Puls ihrer Zeit erweitert sie zusammen mit Co-Autor Eric Red das Genre um die untoten Beißer allegorisch um sozialpolitisch starke Themen wie Drogenabhängigkeit, HIV-Infektion und eine orientierungslose Jugend. Gleichzeitig durchfließt diese Ode auf die Schatten der Nacht eine sinnliche Liebesgeschichte und die Suche nach einer intakten Familie.
Bigelows Vampire können weder fliegen, sich in andere Wesen verwandeln, noch haben sie die für ihre Gattung sonst so typisch prägnanten Fangzähne. Darüber hinaus fällt im Film kein einziges Mal das Wort „Vampir“. Ihre Helden sind eher eine WILD BUNCH (Sam Peckinpah´s stilisierter Gewaltwestern von 1969), eine Patchworkfamilie des Todes, die rücksichtlos mordend um ihr Überleben kämpft. Sie sind Außenseiter der Gesellschaft, Schatten aus einem mythisch verschollenen Mitternachts-Western. Nur das Blut ihrer Opfer sichert ihr Überleben. Doch ihre Methoden unterscheiden sich eklatant von denen eines verführenden Grafen DRACULA. Um an den Saft des (untoten) Lebens zu gelangen, werden sie zu entfesselten Maniacs, die mit Messern, Stiefelsporen oder der rohen Gewalt ihrer Hände Haut und Knochen durchtrennen.
Verdammtes Blut
Wer ihren Angriff überlebt, muss zu einem der ihren werden. Infiziert von einem namenlosen Virus, erleidet Caleb als verlorener Sohn nun ein qualvolles Hinübergleiten in einen Zustand des Untotseins. Verdammt zu ewiger Nacht, wird er nun ebenfalls zu einem aussätzigen Monster, das selbst den Tod bringen muss, um zu überleben. Wer hier nicht sofort an AIDS denkt, bekommt zumindest eine Ahnung davon, wie sich ein Drogenabhängiger auf der Jagd nach dem nächsten Schuss fühlen muss. In beiden Fällen verlässt ein Mensch die Welt der Sonne und wird zu einem Wesen der Nacht. In ihrem Schutz wird er nun selbst zum todbringen Grauen für die Lebenden. Die Nacht wird zum Sammelbecken für all jene, denen der Tag nichts mehr zu bieten hat. Doch wie der deutsche Zusatztitel verlautbart: DIE NACHT HAT IHREN PREIS.
Die Vampire
Bestehend aus dem charismatischen Anführer Jesse (Lance Henriksen, MILLENIUM), seiner Freundin Diamondback (Jenett Goldstein, ALIENS), dem durchgeknallten Severen (Bill Paxton, APOLLO 13), dem als Kind verwandelten Homer (Joshua John Miller) – einer spannenden Entsprechung der kindlichen Claudia in INTERVIEW WITH A VAMPIRE (im Roman von Anne Rice, sowie im Film von Neil Jordan) – und der betörenden Mae hat sich eine alternative Kommune aus verlorenen Seelen in einem gegen die Sonne gepanzerten Wohnwagen zusammen gefunden. In diesem gelangen sie zu ihren blutigen Raubzügen auf den einsamen Straßen eines vergessenen Amerikas. Während Jesse fast schon desillusioniert sein nahendes Ende vorausahnt, ist Severen das Fleisch gewordene Böse. Befreit von der Grenze eines natürlichen Todes und mit der Kraft eines Superhelden ist die Welt für ihn ein offenstehender Supermarkt, in dem er sich anarchisch bedienen kann.
Bill Paxton zelebriert seine Figur mit einer Mischung aus durchgeknalltem Elvis auf Dope und einem vorweggenommenen, amoklaufenden Heath-Ledger-Joker. Er wird zu Calebs Hauptwidersacher. Mae scheint noch die menschlichste dieser Five from Hell zu sein, da sie Caleb aufrichtig schützen will. Doch auch sie wird auf der Jagd zu einem emotionslosen Killer.
Gewalt und Feuer
In einer der beeindruckendsten Szenen von NEAR DARK zeigt sich die mitleidlose Natur dieser Wesen der Nacht. Eingeleitet von einer atemberaubenden Gegenlichtaufnahme in pechschwarzer Nacht nehmen sie eine schäbige Truckerkneipe in Beschlag. Wie im Netz einer unnachgiebigen Spinne werden die Gäste und das Personal nun zu chancenlosen Opfern eingesponnen. Hier zelebriert Bigelow ein schwer auszuhaltendes Ballett des Todes. Auch wenn Severen dabei seinen großen Auftritt hat, zeigen gerade die eher gemäßigt wirkenden Vampire ihr wahres Gesicht. In Erwartung des sicher geglaubten nächsten Schusses in ihre blutdürstenden Venen, werden sie zu Buchhaltern eines letzten Gerichts. Caleb soll hier endlich einer der ihren werden und seinen ersten Menschen töten. Wie Orcas ihre Jungen zur blutenden Beute, stoßen sie ihn unnachgiebig zu seinem ersten Mord. Dabei zeigt auch die sonst eher zärtlich agierende Mae ihre tödliche Natur.
Gerade hier zeigt Bigelow, dass es ihr in ihrem Film nicht um plumpe Gewaltszenerien geht, sondern um die Abbildung einer ganz realen Terrorszenerie. Fast wirkt es, als sei ihr die darin notwendige Gewalt unangenehm. Sie weidet sich nicht an den durchaus blutig angelegten Tötungsmomenten, sondern zeigt das was nötig ist, um das ganze Ausmaß dieser blutigen Hatz glaubhaft darzustellen. So kommt ein wenig der Eindruck auf, als handele es sich um nachträglich geschnittene Szenen. Tatsächlich ist es ein fast schon pietätsvoller Blick auf das Töten von Menschen.
Ein weiteres inszenatorisches Glanzstück ist die Darstellung, der für die Vampire tödlichen Sonnenstrahlen. Wie in SILVERADO (Lawrence Kasdan, 1985) durchschlagen Gewehrsalven eine Hauswand und ziehen laserartige Gottesfinger ins Innere eines abgedunkelten Raums. Während im 80er-Renaissance-Western mit Scott Glenn und Kevin Costner die Sonnenstrahlen die Gefahr der Kugeln symbolisierten, sind hier die Strahlen selbst die Gefahr. Am Ende sehen wir reale Menschen in eindrucksvollen Flammen aufgehen. Hier brennt man förmlich mit. Kein Vergleich zu heutigen CGI-Imitationen. Nur ganz am Ende muss der Film auf damals schon recht schwache Überblendeffekte zurückgreifen, um einen der Vampire in Großaufnahme auch im Gesicht verbrennen zu sehen. Dies ist sicher dem geringen Budget von fünf Millionen Dollar geschuldet. Sonst ist das Feuer hier so faszinierend plastisch als wäre es ein eigenständiger Darsteller.
Stern in finsterer Nacht
Neben der beeindruckenden Zelluloidoptik von Kameramann Adam Greenberg (TERMINATOR II) ist Jenny Wright als Vampirin Mae das heimliche Highlight des Films. Mit ihrer zerbrechlichen Schönheit und ihrem authentischen Spiel, welches mit jeder kleinsten Regung in ihrem engelsgleichen Gesicht die Leinwand durchdringt, zeigt sie alle Qualitäten eines hoffnungsvollen Hollywoodstars. Leider verhalf ihr diese aus heutiger Sicht ikonenhafte Darstellung zu keiner weiteren Hauptrolle mehr. Es folgten noch einige kleinere Rollen in Filmen wie YOUNG GUNS II (1990) und DER RASENMÄHERMANN (1992). Danach wurde es erschreckend still um sie. Sie verschwand fast komplett von der Bildfläche und wurde zu einer Art Phantom. Sieht man aktuelle Fotos von ihr, kann man fasst zu der Annahme kommen, sie sei, wie ihre Filmfigur Mae, selbst auf abseitige Pfade geraten. Doch anders als ihre gespielte Vampirin konnte sie ihre makellose Schönheit nicht über den Lauf der Zeit hin konservieren. So ist sie in gewisser Weise durch NEAR DARK zu einem unsterblichen Abbild ihrer selbst geworden.
Schwachpunkte
Bei allem Lob, muss man auch auf einige Schwächen dieses insgesamt beeindruckenden Films hinweisen. Schwächen aus heutiger Sicht. Denn NEAR DARK ist auch ein Film seiner Zeit. Hauptkritikpunkt ist die sehr hohe Schnittfrequenz, gerade auch bei eher ruhigen und intimen Szenen. Da geht einiges an der sehr sensiblen Schauspielführung wieder verloren. Gerade die erste Begegnung zwischen Caleb und Mae folgt eher einer Videoclipdramaturgie als einem lang atmenden Drama, welches NEAR DARK im Kern eigentlich ist. Dies ist jedoch ein Element welches Kathryn Bigelow bis heute zu ihrem eigenen Stilrepertoire zählt.
Ebenfalls nicht ganz schlüssig ist das eher aktionistische Verhalten der Vampire, wenn es Richtung Finale geht. Da gibt Bigelow spektakulären Bildern ganz klar den Vortritt gegenüber einem logischen Handlungsablauf. Auch die Schlusseinstellung wirkt ein wenig gehetzt, als habe man am Ende keine Zeit mehr. Hier hätte man durch mindestens 2 Minuten mehr Laufzeit der intelligenten Geschichte einen würdevolleren Schluss verleihen können.
Und dennoch hat die Inszenierung insgesamt eine solche Kraft, dass diese sonst so gravierenden Ausrutscher keinen dramatischen Schaden anrichten können.
Fazit
1987 – Zwei rockige Vampirfilme wie zwei ungleiche Geschwister derselben Familie:
In LOST BOYS von Joel Schumacher rockten wir mit einem hippen, großen Bruder auf einem kirmesartigen Glamrock-Konzert. Mit NEAR DARK lernen wir seine schüchtern intellektuelle Schwester auf einem nächtlichen RAVE kennen. Den dazu passenden Klangteppich liefern die deutschen Elektropioniere Tangerine Dream. Ihr pulsierender Sound begleitet uns in eine der dunkelsten Nächte des Kinos. Nach SORCERER (William Friedkin, 1977) und THIEF (Michael Mann, 1979) schaffen sie hier ihren vielleicht vielseitigsten Score auf ihrem langen erfolgreichen Ausflug in die Welt elektronischer Filmmusik in Hollywood.
Wo Schumacher die untoten Außenseiter wie auf einer überlauten Party feiert, leidet Bigelow mit ihren gebrochenen Helden. Das Rennen an der Kinokasse machten am Ende die rockenden LOST BOYS. Doch in der Ruhe liegt die Kraft. In seiner souveränen Vermählung zwischen Western und Vampirfilm zeigt sich Kathryn Bigelows inszenatorisches Talent. Zwar geht ihr am Ende, zugunsten beeindruckender Kernbilder, ein wenig der stimmige Erzählfluss verloren, dennoch ist ihr mit ihrem zweiten Spielfilm ein erfrischend erwachsener Blick auf den Vampirmythos gelungen. Mit ihrem visuell, wie auch tonal meisterhaften Stil und einer der sinnlichsten weiblichen Vampire der Filmgeschichte macht sie NEAR DARK zu einem der besten Horrorfilme seiner Art.
Titel, Cast und Crew | Near Dark (1987) |
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Poster | |
Release | Kinostart: 02.06.1988 (West-Deutschland) |
Regisseur | Kathryn Bigelow |
Trailer | |
Besetzung | Adrian Pasdar (Caleb Colton) Jenny Wright (Mae) Lance Henriksen (Jesse Hooker) Bill Paxton (Severen) Jenette Goldstein (Diamondback) Tim Thomerson (Loy Colton) Joshua John Miller (Homer) |
Drehbuch | Kathryn Bigelow Eric Red |
Kamera | Adam Greenberg |
Musik | Tangerine Dream |
Schnitt | Howard E. Smith |
Filmlänge | 98 Minuten |
FSK | Ab 18 Jahren |
Winnetou, Erol Flynn und Harold Lloyd sind die Helden seiner Kindheit / Weint leidenschaftlich bei E.T. / Will seit er 10 ist, Filmregisseur werden / Liebt komplexe Filmmusik und hält überhaupt nichts von kommerziellen Soundtracks mit Popsongs, die im Film gar nicht vorkommen / Würde gerne mit Agent Cooper im Double R Diner einen Kaffee-Marathon bestreiten / Das beste Auto der Welt: ein DeLoreon natürlich