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Narrow Margin (1990) – Filmkritik & Review zum Mediabook

Bewegungskino

Zu Peter Hyams’ NARROW MARGIN (1990), der im Deutschen den Zusatztitel 12 STUNDEN ANGST trägt, habe ich wohl eine der persönlichsten Hintergrundgeschichten. Zum einen schätze ich Hyams’ handwerkliches Kino sehr, da es den Titel „Handwerk“ ganz hoch hält und als Qualitätsmerkmal erstrahlen lässt. Seine Bilder sind perfekt komponiert, die Action handgemacht, dynamisch und packend – und er lässt den Schauspielern Platz, sich zu entfalten.

Peter Hyams // ©1990 Carolco Pictures

Zudem kommt hier Gene Hackman zum Einsatz, den ich besonders gern sehe. Peter Hyams ist als Regisseur und Kameramann ein Veteran, man kann das nicht anders sagen, leider wird seine Expertise und seine beeindruckende Art, mit bewegten Bildern zu erzählen, heute kaum noch beachtet. Das aktuelle Mediabook von Koch Films schafft dem etwas Abhilfe und füllt endlich eine Lücke in meiner Sammlung. Denn – das ist jetzt das Persönliche: ich sah den Film zuvor bereits zweimal, im Jugendalter nahm ich ihn aus dem öffentlich-rechtlichen Programm irgendwann nachts um 1:45 Uhr auf VHS auf und zuletzt sah ich ihn innerhalb der letzten 12 Stunden vor der Geburt meines zweiten Sohnes. Meine Frau schaute auch noch mit, ihr gefiel der Film sehr, was mich besonders freute. Kurz vor dem Finale des Films gab es konkrete Anzeichen der bald bevorstehenden Geburt und es ging kurz darauf ins Krankenhaus. „12 Stunden Angst“ wäre jetzt zu plakativ, aber jedem der schon einmal Mutter oder Vater geworden ist, dürfte diese unvergleichliche existenzielle Aufregung hoffentlich noch bekannt sein. Und irgendwie verknüpfe ich das seither mit der existenziellen Aufregung, die die Figuren im Film durchmachen. Dass Anne Archer in ihrer Rolle spontan in erfinderischer Not von baldigen Wehen spricht – und das unbezahlbare Gesicht Hackmans hierzu – setzt dem Ganzen noch die Krone auf.

Narrow Margin (1990)
© Koch Films

Perfekte Spannung

Als ich den Film erstmals sah, fiel mir dessen stilsichere Atmosphäre auf. Wie gesagt, ich war im Teenager-Alter, vielleicht 15 Jahre. Da hatten bereits Filme wie STIRB LANGSAM, TITANIC oder die ALIEN-Saga mein noch jüngeres cinephiles Leben geprägt. Ich begann erst leicht später, die Genialität von einigen Hitchcock-Filmen oder etwa David Finchers unterschätztem THE GAME (1997) zu erfassen. Mit letzterem teilt NARROW MARGIN Einiges an stilvoller Atmosphäre, auch wenn die Filme jeweils anders funktionieren, aber es geht schon in diese Richtung: Hyams’ reifer, in der Persönlichkeit seiner Figuren aufgeladener, dabei im Narrativ jedoch angenehm geradliniger Film machte gehörig Eindruck auf mich. Er vermittelte mir als jungem Zuschauer eine zuvor verpasste Lektion ins Sachen Funktionalität und Cine-Kinetik, wie ich nennen möchte. Ein exzellenter Bewegungsfilm – der in den wohl platzierten ruhigen Momenten bemerkenswert ungezwungen und elegant an der Spannungsschraube dreht, dass man sein eigenes Herz pochen hört. Später gibt es noch eine kurze Szenenanalyse meiner Lieblingsstelle, die ich mir auch fürs Booklet dieser Edition gewünscht hätte. Aber da will ich nicht jammern, das Mediabook ist fein geworden und ich darf erneut Glücksgefühle mit NARROW MARGIN verbinden.

Die Story ist simpel, der Abriss der Filmhandlung auf kino.de bringt es auf den Punkt:

„Zufällig wird Carol Hunicott [Anne Archer] Zeugin der Ermordung eines Unterweltanwalts. Sie flieht in eine einsame Hütte in den Rocky Mountains. Gerade als Staatsanwalt Caulfield [Gene Hackman] versucht, sie zu einer Aussage vor Gericht zu überreden, taucht ein Killerkommando der Mafia auf. Caulfield und Carol gelingt die Flucht in einem Zug. Ein mörderisches Katz-und-Maus-Spiel beginnt, in dem Killer wie Gejagte einander zu täuschen versuchen. Nach 12 Stunden Fahrt kommt es auf dem Dach des Zugs zur letzten Konfrontation. . .“[i]

Man will jetzt nicht zu viel Raffinesse vorwegnehmen, aber der Film orientiert sich hinsichtlich Storytelling und vor allem Ästhetik gehörig am Genre des Film noir. Hätte ich DER DRITTE MANN (1949) nicht schon recht früh auf DVD gesehen, ich glaube BLADE RUNNER und NARROW MARGIN wären die ersten vom Film noir geprägten Filme (Neo-Noir), die ich bewusst als solches wahrnahm.

© Koch Films

Kinetik und Ästhetik

Zum nicht allzu komplexen, aber letztlich doch clever austarierten Plot dürfen sich zukünftige Zuschauer gerne selbst ihre Meinung bilden. Der Film enttäuscht in keiner Minute. NARROW MARGIN wird zunächst als Actionfilm beschrieben und das ist er auch: Action als per se Bewegung bildet in diesem Werk den roten Faden und bestimmt das Setting – einen Zug – das sich also selbst permanent bewegt, und die Figuren in ihm. Hyams’ Film gelingt das Kunststück ein nicht austauschbarer Zugfilm zu sein, d. h. das permanent movement der filmischen Gestaltung reflektiert die unentwegte Motivation der Protagonisten, zu entkommen. Der Style stellt sich nicht über die Substance, sondern entspricht ihr. Kurz formuliert, denke ich, dies trifft auf nur wenige gelungene Vertreter dieser Gattung zu. Schon länger etwa möchte ich ein Special über gute „Zugfilme“ schreiben – dieser hier und sicher auch Konchalovskys EXPRESS IN DIE HÖLLE (RUNAWAY TRAIN, 1985) wären ganz oben mit dabei.

Narrow Margin (1990)
© Koch Films

Im Zug verdichtet sich die Atmosphäre zu geradezu klaustrophobischer Qualität, die Figuren nutzen das rasante Gefährt einerseits als Fluchtmittel, sind aber gleichzeitig unentwegt in ihm eingepfercht, können höchstens zwischen der einen oder anderen Richtung des Ganges wählen. Die „Zugszene“ in NARROW MARGIN ist keine solche, vielmehr bestimmt das Zug-Setting durchgängig die beiden letzten Drittel; so setzt sich NARROW MARGIN über die meisten Filme mit kürzeren oder längeren Zug-Sequenzen weit hinweg. Hyams betont dies auch im auf der Blu-ray ersichtlichen kurzen Making-of sowie im Audiokommentar: Um die Dramatik und die Spannung einer Unausweichlichkeit bestmöglich zu kreieren, war es essenziell, die Figuren über lange Zeit durch sichtbar unwirtliches Terrain – hier der wilde Norden der USA – fahren zu lassen. Es gibt nur wenige Momente, in denen ein solcher Langstrecken-Nachtexpress doch einmal anhält und an entlegenen Orten kurz pausiert. In solchen „Pausen“ geht das Entkommen der Figuren in Hyams’ Werk aber unentwegt weiter. Das schätze ich an seiner erzählerischen und ästhetischen Dynamik besonders: er nutzt scheinbare „Leerstellen“, um in anderen Bild- und Bewegungsdimensionen konsequent weiter zu erzählen. Ein Beispiel wäre Hackmans Versteckspiel um den stehenden Zug herum, das kurzfristige Ausloten der unmittelbaren Umgebung um die Wagons und das Ausnutzen der nächtlichen Finsternis, um unbemerkt zu bleiben. Ist hier bereits Hyams’ Gespür für Farbräume im Sinne bestimmter Helligkeitsabstufungen bis hin zu Dunkelbereichen zu bestaunen, ist folgende Szene beispielhaft für das Erzählen in NARROW MARGIN und mein persönlicher Favorit.

© Koch Films

Hell-Dunkel-Malerei

Chiaroscuro (ital. „hell-dunkel“) bezeichnet ein in der Spätrenaissance und im Barock entwickeltes Gestaltungsmittel der Grafik und Malerei, das sich durch starke Hell-Dunkel-Kontraste auszeichnete und sowohl der Steigerung des Räumlichen als auch der des Ausdrucks diente. In der Filmsprache wird Chiaroscuro besonders im Rahmen der Gestaltungsmittel des Film noir angewendet, und hier besonders ab der dritten Phase – genauer 1949-1953 – seit dessen Ursprung in den düsteren Wirren des Zweiten Weltkriegs ab 1941. Der Zweck ist dem aus den Epochen der Malerei ganz ähnlich, auch hier wird eine Verstärkung des Ausdrucks und die Schaffung besonderer Atmosphäre gesucht. Chiaroscuro besteht aus Licht und Schatten, stellt aber mehr als nur ihre bloße Erscheinung dar: eine Tiefenwirkung wird realisiert, ein eigenes künstlerisches Charakteristikum im Filmbild visualisiert:

„[M]it den aggressiven und obsessiven Protagonisten verändert sich schließlich der Stil zu dem extremen Ausdruck dessen, was heute als Film noir bekannt ist: das Schattenspiel des Chiaroscuro dominiert, schafft extreme Kontraste, die Einstellungen sind verkantet oder durch extreme Perspektive verfremdet. . .“[ii]

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© Koch Films

Eine vierminütige, durchgängige Chiaroscuro-Sequenz tritt in NARROW MARGIN von Filmminute 71 bis 75 auf. Hier sehen wir abwechselnd in drei Einstellungen – Halbtotale, american shot, mit den Profilen von Archer und Hackman, die sich in der Zugkabine gegenübersitzen und die Kamera dabei perspektivisch vor ihnen aus dem Fenster blickt, sowie jeweils Nahaufnahme von Archer und Hackman im Dialogwechsel – die beiden Protagonisten im Gespräch. Die Kamera in jeder der drei Einstellungen, begonnen mit der Halbtotalen, ist statisch, die vierminütige Sequenz vermittelt eine eindringliche Ruhe und Konzentration. Die gefährdete Zeugin offenbart ihrem besorgten Beschützer ihre essenziellen Ängste, davor zu sterben, ihren bisher verschwiegenen Sohn, der ebenfalls in Lebensgefahr sei. Die Szene stellt eine verstärkte Fokussierung auf die Motivation vor allem der weiblichen Hauptfigur dar, ihr männlicher Gegenüber wird zum Zuhörer stilisiert, der nur wenig hinzuzufügen vermag. Im Verlauf dieser Unterhaltung schneiden immer wieder gleißende Strahlen elektrisch-kühlen Lichts (durch spärlich verteilte Lampen am Streckenrand) durch das große Fenster in die unbeleuchtete Kabine. Ein ausdrucksstarkes Licht-Schatten-Spiel wird wiederholt auf den Gesichtern der Protagonisten im Wechsel aufgefächert und reduziert. Die Umrisse ihrer Profile nehmen durch das von weitem herannahendes Licht immer wieder Gestalt an, setzen sich in hohem Kontrast vom nachtschwarzen Hintergrund ab und erstrahlen im Höhepunkt der Schattenspiel-Dynamik immer wieder zu scheinbar beweglichen, vom Licht umtänzelten Körpern, bevor sie erneut mit dem Dunkelbereich verschmelzen (bis hin zum völligen Schwarzbild). Diese Szene, entlang ihrer Gefühls- und Spannungssteigerung, vermittelt dank der spezifischen Chiaroscuro-Ästhetik ein atmosphärisch besonderes, auch intimes Gefühl, das uns ganz nah bei den Gedanken und Ängsten der Figuren sein lässt. Die Sequenz saugt den Betrachter förmlich mit in den erzählten filmischen Raum und direkt an die Seite der Figuren, sodass man jedem Wort ihres Gesprächs und jeder einzelnen Betonung durch Mimik unmissverständlich folgen mag.

© Koch Films

Das Mediabook von Koch Films

Cover des Mediabooks

Endlich gibt es den Film hierzulande auf Blu-ray und sogleich in einem sorgfältig aufbereiteten Mediabook mit allerlei Extras. Das Bild erstrahlt dank neuer 4K-Restauration vom Original 35mm-Filmnegativ in verbessertem Detailreichtum, der gerade in den vielen dunklen Szenen gelungen zur Geltung kommt. Die natürliche Filmstruktur blieb bei der Restauration erhalten, ein feines Korn überzieht das ursprünglich fotochemisch entwickelte Bild. Auf auffällige Nachbearbeitung wurde dankenswerter Weise verzichtet, das erklärt auch manch hellen Schleier in größeren Schwarzbereichen, ein übliches Restaurationsartefakt ohne nachträglichen Einsatz digitaler Filter. Der Ton kommt im Original (Englisch) in dynamischem Surround-Sound 5.1 perfekt zur Geltung, die deutsche Synchronisation wurde im 2.0-Stereoton ebenfalls aufgewertet und klingt kraftvoll und sympathisch, wenngleich sie hinter der Originaltonspur etwas zurückbleibt. Untertitel gibt es in Deutsch und Englisch, was die technischen Daten auf der Rückseite des Books unterschlagen, denn hier wird nur Deutsch genannt. Der gelungene Audiokommentar von Peter Hyams ist teils szenenspezifisch sowie insgesamt voller Hintergrundinformationen. Da er auch bei diesem Film selbst die Kamera führte, hat er so einiges Interessantes zur Bildgestaltung zu sagen, was mich persönlich besonders freut.

Narrow Margin (1990)
© Koch Films

Zudem: kurzes Making-of (5 Min.) und „Hinter den Kulissen“ (10 Min.) sowie Interviews mit Cast & Crew (9 Min.). Im 16-seitigen, ausführlichen Booklet von Oliver Nöding erfährt man viel über den filmkulturellen Hintergrund, in den NARROW MARGIN und sein Macher einzuordnen ist. Hyams wird als Handwerker gegenüber den „Auteurs“ der Filmregisseure diskutiert – und Nöding sieht ihn ebenso wie ich eindeutig auf der Seite der Gewinner, jedenfalls was die Qualität seiner Arbeit betrifft, weniger die folgenden ökonomischen Paradigmen, die das Eventkino mit TERMINATOR 2 nur ein Jahr nach NARROW MARGIN endgültig einläutete. „They don’t make ’em like this anymore“ war die ernüchternde Devise, damals das heute kaum noch vorhandene Medium-Budget-Kino systematisch zu marginalisieren und alles immer Größer und Lauter werden zu lassen. Durch zahlreiche seiner bisherigen Texte kann ich bestätigen: Nöding ist ein Kenner, so stellt er hier passend die Begriffe des filmischen „Handwerkers“ bzw. des „Auftragsarbeiters“ dem des „Auteurs“ gegenüber, zudem wird Hyams’ Filmografie im Zusammenhang beleuchtet und auf weitere qualitative Werke hingewiesen. Auch der Bezug zu Richard Fleischer, von dem der Originalfilm stammt, wird hergestellt. Szenenspezifische Beschreibungen fehlen leider, die ja zu diesem eleganten, vom Film noir geprägten Actionfilm besonders gut gepasst hätten, um die atmosphärische Bildsprache, meiner Meinung nach das Herz des Films, mit einfließen zu lassen.

© Koch Films

Fazit

NARROW MARGIN ist ein hervorragender Unterhaltungsfilm. Technisch souverän, stilsicher in Bildgestaltung und Atmosphäre und mit einem grandios spielenden Duo um Anne Archer und Gene Hackman im Gepäck, dürfte der Film für Viele eine Wiederentdeckung oder vielleicht sogar Erstsichtung darstellen. Allzu bekannt war er nie und lief auch im TV zumeist zu unsäglichen Zeiten. Das aktuelle Mediabook präsentiert den Film in restaurierter Bild- und Tonqualität und mit vielseitigem Bonusmaterial auf allen Ebenen: Audiovisuelle Extras, filmbegleitend in Form der Audiokommentar-Tonspur sowie als Text im Booklet. Es ist eine würdige und ansprechende Veröffentlichung eines über die Jahre leider immer seltener beachteten Thrillers, der mittlerweile, wie sein Original, als wichtiger Klassiker gelten darf. Für Zuschauer, die formidables Filmhandwerk schätzen und auf stilvolle Unterhaltung abfahren, ist diese Edition ein sicheres Ticket in der 1. Klasse.

© Stefan Jung

Quellen

[i]     Kino.de [https://www.kino.de/film/narrow-margin-zwoelf-stunden-angst-1990/]

[ii]    Marcus Stiglegger (2007): Film noir. In: Thomas Koebner (Hrsg.) Reclams Sachlexikon des Films, Stuttgart, S. 225.

Titel, Cast und CrewNarrow Margin (1990)
Poster
Releaseseit dem 28.05.2020 im Mediabook (Blu-ray + DVD)

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RegisseurPeter Hyams
Trailer
BesetzungGene Hackman (Robert Caulfield)
Anne Archer (Hunnicut)
James Sikking (Nelson)
J.T. Walsh (Michael Tarlow)
M. Emmet Walsh (Sgt. Dominick Benti)
Susan Hogan (Kathryn Weller)
Nigel Bennett (Jack Wootton)
J.A. Preston (Martin Larner)
DrehbuchPeter Hyams
KameraPeter Hyams
FilmmusikBruce Broughton
SchnittJames Mitchell
Filmlänge96 Minuten
FSKab 16 Jahren

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