„So träumen Kinder“
Animes sind schon lange nicht mehr nur im Science-Fiction oder Fantasy-Genre zu Hause. Das echte Leben erzählt dann manchmal doch die besten Geschichten. Mamoru Hosoda hat immer schon gern beides in seinen Filmen bedient, Realität und Fiktion. Aber eines stand stets im Mittelpunkt der Geschichte: Die Familie. In SUMMER WARS rettet die Großfamilie während einer Feier das Internet. Bei AME & YUKI zieht eine alleinstehende Mutter zwei Wolfskinder auf und in DER JUNGE UND DAS BIEST erzieht ein mürrischer Tier-Kampfmeister einen Menschenjungen. Vor diesem Fokus auf die familiären Themen ließ er ein Mädchen durch die Zeit springen und die Liebe entdecken. Wenn man Hosoda über die Jahre treu ins Kino oder auf dem Fernseher gefolgt ist, möchte man mutmaßen, dass vieles aus seinem eigenen Leben eine animierte Wiedergeburt erfahren hat. In seinem neusten Werk MIRAI ist dieses Gefühl bislang am stärksten. Es ist sogar so intensiv, als ob man durch Hosoda-sans Familienalbum blättern würde. Ach so, von den Zeitreisen eines 5-jährigen Jungen handelt die Geschichte auch noch.
Handlung
Der fünfjährige Kun lebt glücklich mit seinen Eltern und Hund Yukko im Traumhaus des Architektenvaters. Dann steht der Familie Zuwachs ins Haus. Die anfängliche Freude über eine kleine Schwester verfliegt bei Kun, als er erkennen muss, dass er nicht mehr der Mittelpunkt der Familie ist. Aus erster Skepsis wird Zorn auf seine Schwester namens Mirai. Auch beide Eltern haben hart mit der neuen Situation zu kämpfen. Der Vater will mit seiner Selbstständigkeit als Architekt nebenbei beide Kinder betreuen, weil die Mutter zurück in ihren Vollzeit-Beruf möchte. Da geht einiges schief und als Kun vor lauter Zorn in den kleinen Hof des Hauses rennt, betritt er auf einmal eine andere Welt. Hier ist nicht nur der Haushund Yukko ein Mensch, sondern er bekommt auch Besuch von seiner Schwester Mirai im Jugendalter, quasi aus der Zukunft. Solch eine Reise durch die Zeit wird nicht die letzte von Kun sein.
Hui, innen wie außen
Der erste Hingucker ist eindeutig das Haus der Familie als Handlungsmittelpunkt. Der Vater als Architekt ist dem derzeitigen Trend gefolgt und hat dem traditionellen japanischen Baustil in den Vorgarten verlängert. Ein Spielzimmer ganz vorn am Grundstück bildet den Rahmen um einen begrünten Hof mit einem Baum. So wird der Garten zum Teil des Wohnraums. Außerdem staffelt sich das Haus in mehrere Ebenen, welche nach oben immer höher werden. Ganz oben befindet sich der Schlafraum. Begeistert wird man durch die schönen Räume und Einrichtung in den Anime hineingezogen. Die Hausführung zeigt einen belebten, gemütlichen Wohnraum, der nicht angeberisch sein möchte.
Was MIRAI vor allem auszeichnet sind die echten Situationen, die so ein Familienleben ausmachen: Das Zanken, der Kampf mit dem Haushalt oder das Chaos der spielenden Kinder. Die jungen Eltern haben hier keine Bilderbuch-Beziehung. Auch sie müssen mit der ungewohnten Situationen des Familienzuwachses klarkommen, im Guten wie im Schlechten. Dass der Vater mit dem Haushalt, sowie den Kinder allein zurechtkommen und dann noch nebenbei arbeiten will, ist der typische japanische Eifer. Die Mutter geht gefühlt eine Woche nach der Geburt von Mirai wieder auf Arbeit. Das Chaos wird immer mit einem Auge für echte Momente und mit einem Auge für den Humor der Situationen erzählt. Ein Spaß für Eltern wie auch Kinderlose, ohne einen Lebensstil als richtig zu gewichten.
Held der Geschichte ist nicht Mirai, wie der Titel glauben lassen will, sondern der Junge Kun. Mit seinem Dickschädel und dem nervigen Geschrei kratzt er definitiv auch an den Nerven der Zuschauer und nicht nur an denen seiner Eltern. Aber Kun ist ein taffer, cleverer Kerl, der oft so süß von einer Situation in die nächste stolpert, dass man ihn einfach gernhaben muss. Er ist vielleicht etwas sehr reif für sein Alter, aber das macht ihn nur umso interessanter und gar nicht neunmalklug.
Unverkennbar Hosoda
Für seine roten bzw. braunen Outlinings der Zeichnungen ist Mamoru Hosoda unter Anime-Fans bekannt. Hier hat er sich jedoch etwas zurückgehalten. Kun ist definitiv eine neue Figur in seinem Arsenal. Hosoda benutzt gern, wie auch im Studio Ghibli, sich optisch ähnliche Figuren. Kuns Mutter kann ohne weiteres als ältere Version von Natsuki aus SUMMER WARS durchgehen. Hosoda bringt auch in diesen Zeichnungen seinen typischen Stil ein, jedoch erweitert er ihn um eine vielfältige Palette. Mit jeder Reise – es geht nicht nur um die Schwester aus der Zukunft wie der Titel glauben lassen mag – zeigt er einen anderen Animationsstil. Das wird nicht ganz so visuell abgefahren wie zum Beispiel bei er Animeserie SPACE DANDY von Shinichirō Watanabe, aber dennoch für den Zuschauer eine unbekannte stilistische Erfahrung. Bei der ersten Reise hat der Hintergrund noch weiße Segmente, was schön den Beginn unterstreicht. Als Kun in die Vergangenheit reist und es die ganze Zeit regnet, gibt es einen Hintergrund aus Aquarell. Sowohl nostalgische Gemälde werden auftauchen, wie auch 3D-Animation. Es bleibt stets ein großes, künstlerisches Ganzes und weit entfernt von einer episodenartigen Erzählweise.
Warum Hosoda immer wieder seine eigenen Animes ohne starken Einfluss und ohne Gewinnorientierung erzählen kann, liegt an den Bedingungen: Er gründete zusammen mit Yuichiro Saito das Studio Chizu, welches hauptsächlich Hosodas Filme produziert. Hier lebt er in einer Produktions-Blase, welche ihn ungestört arbeiten lässt. Außerdem ist auch bei MIRAI wieder Komponist Masakatsu Takagi für die musikalische Untermalung zuständig. Vor allem das einfache, aber gefühlvolle Thema zum Finale zeigt wieder den Wert eines kreativen Filmkomponisten.
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Fazit
MIRAI ist nicht nur eine Reise in verschiedene Zeiten, sondern auch in unterschiedliche Zeichenstile eines der besten Anime-Regisseure unserer Zeit. Mehr möchte man zum Inhalt gar nicht verraten. Denn diesem animierten Leckerbissen sollte man ohne Erwartungen begegnen. Vielleicht macht man dann ganz unbewusst einen Sprung in die eigene Kindheit oder entdeckt die Welt noch einmal durch Kinderaugen. Nur sie scheinen noch unbegrenzt träumen zu können.
Chefredakteur
Kann bei ZURÜCK IN DIE ZUKUNFT mitsprechen / Liebt das Kino, aber nicht die Gäste / Hat seinen moralischen Kompass von Jean-Luc Picard erhalten / Soundtracks auf Vinyl-Sammler / Stellt sich gern die Regale mit Filmen voll und rahmt nur noch seine Filmposter