Zum Inhalt springen

Men (2022) – Filmkritik

„Was dich sucht, wird dich finden“

MEN ist kein Horrorfilm im konventionellen Sinn, es ist eher eine Studie in Psychologie mit gruseligen Momenten sowie einer Ansammlung religiöser Symbole und Sagen. Es ist der Versuch, Funktionen unseres Unterbewusstseins in Bilder, Zeichen, Farben, Gefühle und Worte auszudrücken. Daraus entstand ein fantastischer Alptraum in irrealen, zum Teil wahnwitzigen, wie wunderschönen Aufnahmen. Es vergeht keine Minute, in der wir nicht mindestens ein wichtiges Symbol oder eine Metapher entdecken, die uns essenzielle Hinweise und Erklärungen anbieten. Nicht vom Inhalt, aber vom Symbolgehalt der Aufnahmen lässt sich MEN wohl am ehesten mit Stanley Kubricks SHINING (THE SHINING, 1980) oder dem kontroversen MOTHER! (2017) von Darren Aronofsky vergleichen. Zudem fällt es schwer, Alex Garlands (EX MACHINA, 2014) neustes Werk eines der bekannten Etiketten aufzudrücken und ihn in eine Genre-Schublade zu packen. Letztendlich ist die korrekte Kategorisierung aber zweitrangig, wichtig ist der Film an sich und der, ist weit mehr als nur fantastisch.

© PLAION Pictures

Handlung

Nach dem tragischen Erlebnis des Selbstmordes ihres Mannes James (Paapa Essiedu) fährt Harper (Jessie Buckley) allein in eine idyllische englische Landschaft, abseits von jeder Großstadt, um dort Ruhe und Frieden zu finden. In der dörflichen Abgeschiedenheit trifft sie auf einige merkwürdige Gestalten, die sie zwar gastfreundlich, aber mit schrägen Untertönen aufnehmen. Plötzlich taucht ein nackter Mann (Rory Kinnear) aus den umliegenden Wäldern auf, der Harper fortan verfolgt. Schnell wird aus einem surrealen Unbehagen ein grimmiger, aggressiver Albtraum.

Achtung – Spoiler

Um einige zentrale Punkte aus der vielschichtigen Handlung von MEN genauer aufzugreifen und zu analysieren, bleibt es nicht aus, an dem ein oder anderen Abschnitt ein klein wenig zu spoilern. Ich möchte hierbei betonen, dass der Text meine ganz private Sicht der Dinge wieder gibt und keinen Anspruch auf die absolute Wahrheit darstellt. Wer unbefangen und ohne jegliche Vorkenntnisse an Garlands neustem Meisterwerk herangehen möchte, sollte erst wieder ab dem Kapitel „Der Künstler“ einsteigen.

© PLAION Pictures

Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS)

Um nichts anderes geht es in MEN. Unsere Protagonistin Harper kämpft darum, die traumatischen Begebenheiten der Auseinandersetzung mit James, die Handgreiflichkeiten, die Trennung, sowie den tragischen Tod rational zu verarbeiten. Im Zuge dieser Verarbeitung entwickeln sich bei ihr psychische wie seelische Störungen[2], die eine extreme Veränderung des Erlebens und Verhaltens ihrer gesamten Umwelt hervorbringen. Es entstehen Abweichungen im Denken und Fühlen bis hin zu einer dissonanten Selbstwahrnehmung.

© PLAION Pictures

 

Mediabook (UHD+BD) bei Amazon bestellen >>>

Harpers Unterbewusstsein ist bestrebt, mit ihrem bewussten „Ich“ in Kontakt zu treten. Es entwickelt sich ein verzerrtes Weltbild und mündet in einem infernalischen Alptraum, der sie immer wieder mit den zurückliegenden Ereignissen in Form von Flashbacks konfrontiert. Die Wirklichkeit wird zu einem grotesken Theater und vermischt sich mit ihrem Trauma. Harpers Zustand gleicht dabei einem Sturz (Selbstzerstörung) in eine bodenlose Tiefe, jedoch ohne Sicherheitsnetz. Die Kirsche auf der Torte bildet dabei das erdrückende Schuldgefühl, das ihr Mann mit seinem freiwilligen Abtreten bewusst auf sie projizierte. Mindestens ebenso schwer wiegt die vermeintliche Schuld am Scheitern eben jener Beziehung auf Harpers Schultern gleichfalls wie das allumfassende Schuldbewusstsein an allem die Verantwortung zu tragen. Neben starken Symptomen einer PTBS[1] entdecken wir an Harper deutlich schizophrene Tendenzen im Verlauf der Handlung, vor allem, wenn sie der Meinung ist, dass sämtliche männlichen Bewohner des kleinen Dorfes sich gegen sie verschworen haben.

© PLAION Pictures

Ab auf die Couch

Schauen wir uns nun einige Kernpunkte aus MEN an: Zum einen wäre da die gescheiterte Beziehung sowie das tragische Ende. Fast immer finden diese kurzen Momente des Erinnerns in einem weichen, orangenen Licht statt. Dieses hat dabei mehrfache Bedeutungen wie etwa in einer bestimmten Situation für sich selbst einzustehen, seine Position zu verteidigen. Aber auch, dass beide Protagonisten den Partner emotional beeinflussen, also ihre Beziehung noch nicht endgültig abgeschlossen ist. Weiterhin sollten alle Probleme gelöst werden, ehe an ein halbwegs normales Leben zu denken ist und dass die Person sich in der aktuellen Situation lediglich im Kreis dreht. Das ist sozusagen die Ausgangsposition unserer Handlung. Über die präzise Nutzung von Farben vermittelt uns Garland zahlreiche Informationen über Harpers seelischen Zustand in der Vergangenheit wie auch in der Filmgegenwart. Doch das ist nur ein Weg der Informationsübermittlung.

© PLAION Pictures

Einen weiteren Brennpunkt finden wir am stillgelegten Eisenbahntunnel. Dieser vereint gleich mehrere Funktionen: Zum einen vermittelt er Harper wie auch dem Zuschauer, dass sie sich ihren Ängsten stellen muss. Weiterhin ist es ein Sinnbild für das Hinabsteigen in das unergründliche Unterbewusstsein. Dieses Unbewusste konfrontiert Harper dabei mit seinen tief verborgenen Urängsten und Unsicherheiten, eben jenem Trauma. Kein Wunder also, dass genau an diesem Punkt zum ersten Mal der fremde Mann seinen Auftritt hat. Und es gibt noch eine weitere wichtige Funktion für den Tunnel, die hier das letzte Puzzleteil ins Bild induziert: Er ist eine Metapher für den Geburtskanal der Frau. Darum kann nur an diesem Ort der mysteriöse Mann seinen ersten Auftritt haben, geboren aus Harpers finstersten Gefühlen und Ängsten.

© PLAION Pictures

Als letzten Punkt möchte ich mich der vielfältigen Manifestationen Geoffreys in MEN annähern. Sicherlich taucht diese Frage bei vielen Rezipienten auf, warum einige der Männer im Dorf so große Ähnlichkeiten zu eben jenem Geoffrey aufweisen. Harpers Unterbewusstsein leiht sich kurzerhand die skurrile Gestalt als Blaupause für all seine vielfältigen kommenden Manifestationen, denen Harper auf ihrem langen Weg zur Erkenntnis gegenübertritt. Für die Zuschauer ist es der Hinweis, dass diese Momente lediglich in Harpers Kopf existieren. Das Ganze ähnelt einem Menschen, der an einer dissoziativen Identitätsstörung (multiple Persönlichkeitsstörung) leidet, dabei steuern verschiedene Charaktere einen Körper und übernehmen für Gewisse Zeit das Denken und Handeln sowie die Wahrnehmung. Filmische Beispiele wären etwa IDENTITÄT (IDENTITY, 2003) oder SPLIT (2016). In MEN übernimmt das Unterbewusstsein die Kontrolle und konfrontiert Harper immer wieder mit ungelösten Fragen und Situationen aus ihrem Trauma, die sie nicht zur Ruhe kommen lassen. Das Spiel geht so lange, bis am Ende ihr Verstand bereit ist, ein letztes Mal den toten Ehemann neben sich zu akzeptieren. Nun ist Harper in der Lage, für sich persönlich einen endgültigen wie auch versöhnlichen Abschluss zu erreichen.

© PLAION Pictures

Frankenstein

Neben den psychologischen Punkten finden wir weitere Themen in MEN wie etwa Leben zu erschaffen, die Unterdrückung der Frau sowie unterschiedliche Glaubenslehren. Vor allem die christliche wie auch die keltische Religion sind hierbei besonders vertreten. Der Apfelbaum im Vorgarten des Landhauses mit der tabuisierten Frucht (Apfel) als mächtiges Symbol für Schuld, Verbote und Unterdrückung. Besonders in der christlichen Religion wie auch der Zivilisation im Allgemeinen hat schon seit Anbeginn der Zeit die Frau den schwarzen Peter im Gepäck. Sie trägt die Schuld an der Vertreibung aus dem Paradies und sie ist die Manifestation des Bösen. Ebenso in Fragen der Sexualität und der Jungfräulichkeit ist immer die Frau das Problem, was sich selbst bis in unsere Zeit trotz aller Gleichberechtigung verstärkt. Noch deutlicher wird diese Minderwertigkeit in den Islamisch-Afrikanischen-Kulturen, aktuelles Beispiel sind der Iran und Afghanistan.

© PLAION Pictures
Steelbook (UHD+BD) bei Amazon bestellen >>>

Daneben steht „der grüne Mann“ der Kelten, der eine Art Naturgeist symbolisiert. Als Robin Hood, als grüner Ritter in der Artussage oder als „Jack the Green“ sowie für den Maienkönig vielfältigen Einzug in die britische Kultur erlangte. Neben der Figur des nackten Mannes mit dem Geweih entdecken wir ihn in MEN als Symbol auf einem Steinaltar in einer christlichen Kirche, kombiniert mit einer nackten Frau, was ein Hinweis auf die Fruchtbarkeit darstellt. Dieser auch als Baummensch bekannte Gott steht unter anderem eben für jene Fruchtbarkeit und immer wiederkehrendes Leben, so wie für die Natur im Allgemeinen, den ewigen Kreislauf des Lebens. Gerade die pagane Religion der Kelten existiert bis heute gleichberechtigt neben der christlichen auf den Britischen Inseln. Dass diese Punkte in Garlands MEN omnipräsent sind, wird in vielen Bildern deutlich zum Ausdruck gebracht. In Dutzenden Szenen finden wir diese und ähnliche Symbolik. Jedoch immer mit dem Hinweis versehen, dass der Mann die letzte Bastion der Frau zu stürmen versucht. Neben der ewigen Unterdrückung seiner „Partnerin“ ist das männliche Geschlecht bestrebt, die Vorherrschaft über Geburt den Frauen zu entreißen, nur um sich endgültig mit Gott auf eine Stufe zu stellen, siehe auch den Frankenstein-Mythos (Mary Shelley, „Frankenstein oder der moderne Prometheus“, 1818). Wer sich die Mühe macht, findet diese ambivalente Symbolik ebenfalls beim „grünen Mann“.

© PLAION Pictures

Schon immer sah sich der Mann als die Krone der Schöpfung an, egal in welcher Kultur, Religion oder Zeitalter. Die Frau war jedes Mal nur minderwertiger Ballast. Jedoch, die Fähigkeit des Gebärens, das Erschaffen von Leben, geht dem Mann weiterhin ab, trotz aller Fortschritte und Erkenntnisse. Und genau dieses Thema beschäftigt Alex Garland extrem, wenn wir über MEN hinausblicken. In EX MACHINA (2014) erschafft er künstliches Leben, in AUSLÖSCHUNG (ANNIHILATION, 2018) entdecken wir an seiner Seite neues außerirdisches Leben, nur um in MEN den Frankenstein-Traum der männlichen Herrscherklasse als Hintergrundrauschen wiederzufinden. Durch die mannigfaltige Kombination und den Einsatz von Symbolen und Metaphern in MEN ist es hier nur möglich, einige kleinere Denkanstöße zu geben. Eine ausführliche Analyse würde den Rahmen deutlich sprengen.

Der Künstler

Mediabook (UHD+BD) direkt beim Label bestellen >>>

Der in London geborene Alex Garland konnte im Jahre 2014 mit seinem Regiedebüt sogleich überzeugen und schuf mit EX MACHINA einen modernen Science-Fiction-Thriller zum komplexen Thema Künstliche Intelligenz. Dort finden wir das Problem des Erschaffens von (künstlichem) Leben, so wie einst bei Viktor Frankenstein, das sich wie ein roter Faden durch seine bisherigen Werke zieht. Vier Jahre später folgte AUSLÖSCHUNG (ANNIHILATION, 2018) der ebenfalls für Begeisterung sorgte, doch ebenso viele Fragezeichen bei den Rezipienten hinterließ. 2020 erschuf Garland seine Mini-Serie DEVS, die überzeugen konnte. Und nun, 2022, folgt sein neuster Spielfilm MEN, der schon jetzt für Kopfschmerzen sorgt. Doch lange vor EX MACHINA erregte Garland bereits Aufsehen mit seinem Drehbuch zu 28 DAYS LATER, dass seinerzeit von Danny Boyle erfolgreich in Szene gesetzt wurde. Ebenfalls ein voller Erfolg waren die Drehbücher zu SUNSHINE (2007) und der Neuverfilmung von DREDD (2012). Einen großen Anteil an Garlands Erfolge hat sein Kameramann Rob Hardy. Dass beide ein eingespieltes Team sind, ist in jeder Einstellung von MEN spürbar. Hardy war bisher an allen Regieprojekten Garlands beteiligt. Die sorgfältige Bildsprache, der präzise Umgang mit Symbolen und Metaphern beider beeindruckt und fasziniert in jedem ihrer Werke.

 

Fazit

Für sein neustes Werk MEN entschied sich der englische Filmemacher Alex Garland für ein komplexes psychologisches Thema, verpackt in nuancierten, sibyllinischen Bildern. Doch Garland wäre nicht Garland, wenn seine Geschichte nicht noch mehr beinhalten würde. Das MEN beileibe keine leichte Kost ist, war von Anfang an abzusehen, denn welcher Film von ihm ist wirklich leicht? Dass der Engländer kein Künstler für die Massen ist, wurde spätestens mit AUSLÖSCHUNG (ANNIHILATION) deutlich. Mit MEN unterstreicht er diese Aussage auf beeindruckende Art und Weise, denn ein Künstler ist er ganz sicher, was besonders in MEN zutage tritt, mit all seinen wunderbaren Kompositionen in Wort, Bild und Ton.

© Stefan F.

[1] Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Posttraumatische_Belastungsst%C3%B6rung#Allgemeine_Symptome

[2] Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Psychische_St%C3%B6rung

 

Titel, Cast und CrewMen (2022)
Poster
Releaseseit dem 27.10.2022 in 2 vers. Mediabook-Varianten (Ultra HD Blu-ray + Blu-ray), im Steelbook (UHD + BD) und auf Blu-ray erhältlich.

Ihr wollt den Film bei Amazon kaufen?
Dann geht über unseren Treibstoff-Link:


Direkt bei PLAION Pictures bestellen >>>
RegisseurAlex Garland
Trailer
BesetzungJessie Buckley (Harper)
Rory Kinnear (Geoffrey)
Paapa Essiedu (James)
Gayle Rankin (Riley)
Zak Rothera-Oxley (Samuel)
DrehbuchAlex Garland
KameraRob Hardy
MusikGeoff Barrow
Ben Sailsbury
SchnittJake Roberts
Filmlänge100 Minuten
FSKab 16 Jahren

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert