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Memoria (2021) – Kurzkritik

Eine Frau hört immer wieder einen seltsamen Ton, einen Knall, der aus dem Nichts zu kommen scheint. Ihre Suche nach dem Ursprung des mysteriösen Geräuschs führt sie vom Tonstudio durch den Urwald zu einem Mann, der sich an alles erinnert, auch an Ereignisse kurz vor seiner Geburt.

Willkommen in der Welt von Apichatpong Weerasethakul, der sich von Leuten, die mit seinem thailändischen Namen Schwierigkeiten haben, einfach Joe nennen lässt. Er gehört zu den Regisseuren, die wie David Lynch oder Woody Allen ein privates Genre begründet haben, in dem Fall den Apichatpong-Weerasethakul-Film. Dieser besitzt eine meditative, fast schon somnambule Atmosphäre, in der die Menschen die plötzliche Erscheinung von Geistern zwar nicht verstehen, aber gelassen hinnehmen.

In UNCLE BOONMEE ERINNERT SICH AN SEINE FRÜHEREN LEBEN (2010) tritt eines Abends der verschollene Sohn aus dem Dschungel zur Familie an den Esstisch; daraus macht niemand eine große Szene. Er hat nun die Gestalt eines dunklen Affendämons mit rotglühenden Augen, und seine Mutter stellt ihm die nur im ersten Moment naiv wirkende Frage: „Warum hast du so viele Haare?“ In CEMETERY OF SPLENDOR (2015) kommt in einem Lokal eine etwas Ältere mit zwei jungen Frauen ins Gespräch, die gerade von einer Shopping-Tour zurückkehren und mit lauter Einkaufstaschen behängt sind. Es stellt sich heraus, dass es die beiden Statuen von Göttinnen sind, zu denen sie kurz zuvor im Tempel gebetet hat.

Man sollte also auch Joes Sinn für Humor nicht unterschätzen. Anders als bisher spielt MEMORIA nicht in seiner Heimat, sondern in Südamerika, und die Hauptfigur ist aus Europa, ein interkontinentales Projekt sozusagen. Tilda Swinton ist Jessica, die Frau mit dem Geräusch-Problem, und natürlich eine hervorragende Wahl bei einer so obskuren Handlung – ein wenig erwartet man, dass gleich auch noch Udo Kier um die Ecke biegt.

Freilich sind Weerasethakuls Filme außerordentlich langsam und ruhig, so dass man sich anfangs nach ein paar Minuten unwillkürlich fragt: „Warum tue ich mir das an?“ Aber dieser Eindruck verfliegt rasch wieder, und man ist von Neuem gefangen. Sehr schön ist die Szene, in der Jessica im Tonstudio versucht, den Ton am Computer nachbauen zu lassen. Generell sollte man nicht unterschätzen, wie stark dieses dumpfe Geräusch auf den Zuschauer wirkt, mal auf lange Zeit verschwunden, mal unerbittlich pochend.

Auch die Orte sind sehr einprägsam. Die Architektur der Universität, an der der erste Teil spielt, wird im Großen wie im Kleinen untersucht, später geht es in die Kanalisation und schließlich in den Urwald, der auch am anderen Ende der Welt dem heimischen thailändischen Dschungel sehr ähnelt.

Überhaupt funktioniert der Abstecher in die Ferne erstaunlich problemlos, dies ist eben nun ein Apichatpong-Weerasethakul-Film mit Engländern (sorry, Schotten) in Kolumbien, und es ist fast schon schade, dass gegen Ende eine Art Erklärung für die wundersamen Geschehnisse angeboten wird. Joes Filme sind nicht einfach ein exotischer Spleen für westliche Arthouse-Besucher, sondern sein Blick darauf, wie Menschen überall auf der Welt diese wahrnehmen und erleben.

© Franz Indra

Titel, Cast und CrewMemoria (2021)
Poster
RegieApichatpong Weerasethakul
ReleaseKinostart: 05.08.2022
Trailer
BesetzungTilda Swinton (Jessica Holland)
Agnes Brekke (Karen Holland)
Daniel Giménez Cacho (Juan Ospina)
Jerónimo Barón (Mateo Ospina)
Juan Pablo Urrego (Young Hernán Bedoya)
Jeanne Balibar (Agnes Cerkinsky)
DrehbuchApichatpong Weerasethakul
KameraSayombhu Mukdeeprom
FilmmusikCésar López
SchnittLee Chatametikool
Filmlänge136 Minuten
FSKAb 12 Jahren

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