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Memoiren einer Schnecke (2024) – Filmkritik

„Weiche Schale, weicher Kern“

Wer hätte das gedacht, dass man einen der gefühlvollsten und nachhaltigsten Filme des Kinojahrs genau hier findet: in MEMOIREN EINER SCHNECKE, ein Stop-Motion-Knetfiguren-Film des australischen Regisseurs Adam Elliot. Australiens Filme sind nicht gerade berühmt für liebevolle Geschichten oder Animationsabenteuer. Da ging es in den 1970er bis 1980er Jahren im Sinne der Ozploitation, stellvertretend die MAD-MAX-Filmreihe, eher handfest zur Sache. MEMOIREN EINER SCHNECKE ist jedoch vielseitig, gefühlvoll und universell erlebbar. Das liegt nicht nur an der lebensnahen Geschichte aus Komik, Tragik und Skurrilität, sondern auch an der tollen Inszenierung und den komplexen Charakteren. Aufwand und Feingefühl sind nicht nur im umfangreichen Prozess der Animation zu sehen, sondern auch in der Erzählweise. Ihr merkt schon, die Begeisterung für dieses Filmerlebnis ist hoch, auch wenn einem hin und wieder das Wasser in den Augen steht.

© Capelight Pictures

Handlung

Grace erzählt uns in MEMOIREN EINER SCHNECKE von ihrem Leben mit allen Höhen und vielen Tiefen. Nicht wirklich direkt uns, sondern sie erzählt es ihrer Lieblingsschnecke Sylvia. Grace hat nämlich eine ausgewachsene Leidenschaft für die kleinen Schalenweichtiere.

Grace wuchs zusammen mit ihrem Bruder Gilbert bei ihrem querschnittsgelähmten Vater auf. Die Mutter starb bei der Geburt der Zwillingsgeschwister. Wenige Jahre später stirbt auch der Vater überraschend im Schlaf und die Kinder werden vom Jugendamt an Pflegefamilien vermittelt. Gilbert landet ganz im Westen Australiens bei einer fanatisch religiösen Familie, die eine Apfelplantage betreibt. Grace kommt genau an das andere Ende des Kontinents bei einem kindelosen Paar, das eine Schwäche für Swingerpartys und Selbsthilfebücher hat. Sie wächst als Außenseiterin auf und vermisst ihren Bruder schrecklich. Doch dann tritt die alte Lady Pinky in ihr Leben. Mit exzentrischem Charakter hilft sie Grace nicht nur über ihre Einsamkeit hinweg, sondern auch über so manches Lebenstief.

© Capelight Pictures

Das Horten

Unsere westliche Gesellschaft hat sich extrem auf Konsum fokussiert. Es gibt Tage, da fühlt man sich nicht als ein wichtiger Teil der Gesellschaft, sondern nur wie eine passiv konsumierende Person. Glücksmomente sind ein paar Klicks und eine 24-Stunden-Express-Lieferung entfernt. Da kann man bei depressiver Stimmung und hohem Kreditkartenlimit schnell die Kontrolle verlieren. Die Wohnung ist schnell voll, ohne dass man viel Freude an den Dingen hat, die man bestellt hat. IN MEMOIREN EINER SCHNECKE hat Grace eine Schwäche für Schnecken. Ein paar lebendige Begleiter hat sie. Sie bastelt auch allerhand und kauft so gut wie alles, wo eine Schnecke drauf ist. Als ob das nicht schon reichen würde, sucht sie noch etwas extra Nervenkitzel im Ladendiebstahl ihrer Lieblingsstücke.

© Capelight Pictures

Kleptomanie und Messie-Syndrom sind stellvertretend für Einsamkeit und die traumatische Kindheit ohne Mutter und mit einem alkoholkranken Vater, der pflegebedürftig ist. Die alte Lady Pinky bringt Grace ganz schnell auf andere Ideen. Ob ihre vielen biografischen Geschichten nun wahr sind, ist unwichtig, denn durch sie und ihre Exzentrik kommt wieder Lebensfreude in Graces Leben zurück. Außerdem gibt Pinky durch das Handhalten älterer Leute und ein paar Haschkekse ganz uneigennützig Nächstenliebe weiter – Gemeinschaft geht vor Konsum.

© Capelight Pictures

Die ganze Geschichte erzählt Grace ehrlich und mit viel Humor. MEMOIREN EINER SCHNECKE ist weniger ein linearer Film, sondern eher eine Collage aus allerlei kurzen Geschichten, Rückblicken und Momenten. Charakterisierung findet ganz im Sinne von DIE FABELHAFTE WELT DER AMÉLIE (2001) statt. Gewohnheiten, Ticks und neurotisches Verhalten definieren die Figuren und bringen sie so dem Publikum näher. Der französische Schauspieler Dominique Pinon aus der DIE FABELHAFTE WELT DER AMÉLIE spricht im Original auch den Vater Percy Pudel.

© Capelight Pictures

Die verlorene Generation

Unterschwellig, und das macht der Film im Nachhinein so langlebig in den eigenen Gedanken, gibt es durchaus gesellschaftliche Probleme, die sich neben den offensichtlichsten auftun. Mobbing, fanatische Religion, Armut, Migration, Homosexualität und gesellschaftlicher Druck werden offen dargestellt und menschlich behandelt. Es gibt aber noch einen interessanten Fakt, der nicht ganz so klar dargestellt wird: Die Generation der Eltern hat kaum Präsenz.

© Capelight Pictures

Die Pflegeeltern sind im Fall von Grace entweder nicht da oder im Fall von Gilbert ausbeuterische Fanatiker. Die leiblichen Eltern sterben früh oder sind so eingeschränkt, dass sich die Kinder eher um die Eltern kümmern müssen als andersherum. Von dieser Generation gibt es kaum Hilfe, sondern nur Verbote, Unterdrückung und wenig Einfühlvermögen. Erst die ältere Generation in Form von Pinky ist wieder für sie da. Das große Konstrukt wirkt somit, auch wenn es hier nicht direkt stattfindet, wie ein Mehrgenerationenhaus, in dem die mittlere Generation kaum vertreten ist, womöglich nur auf Arbeit ist und die Kinder mit den Großeltern zusammenleben. Somit ist MEMOIREN EINER SCHNECKE nicht nur ein Aufruf, den Schicksalsschlägen zu trotzen, sondern auch die älteste Generation nicht unbeachtet zu lassen und ihren sozialen Wert zu zeigen.

© Capelight Pictures

Fazit

Schaltet ab von eurem Leben und lasst euch von Graces ihrem erzählen. Mit viel Witz, Melancholie und Lebensphilosophie erzählt uns MEMOIREN EINER SCHNECKE wie wir unseren Platz finden können oder wo wir suchen müssen. So schön und lebensnah war ein Kinobesuch schon lange nicht mehr. Diese Memoiren werden euch sicherlich noch lange begleiten.

© Christoph Müller

Titel, Cast und CrewMemoiren einer Schnecke (2024)
OT: Memoir of a Snail
Poster
ReleaseKinostart: 24.07.2025

seit dem 02.10.2025 im Mediabook (Ultra HD Blu-ray + Blu-ray) erhältlich.

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RegieAdam Elliot
Trailer
OriginalstimmenSarah Snook (Grace Pudel)
Kodi Smit-McPhee (Gilbert Pudel)
Dominique Pinon (Percy)
Jacki Weaver (Pinky)
Nick Cave (Bill Clarke)
Magda Szubanski (Ruth)
Eric Bana (James The Magistrate)
Adam Elliot (Denise Floyd)
Bernie Clifford (Owen)
DrehbuchAdam Elliot
MusikElena Kats-Chernin
KameraGerald Thompson
SchnittBill Murphy
Filmlänge94 Minuten
FSKab 12 Jahren

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