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Mars Express (2023) – Filmkritik

„Spektral-Science-Fiction“

Auf einen neuen, kreativen und zukunftsweisenden Science-Fiction-Film mit origineller Geschichte mussten wir lange warten. Doch das Warten ist vorbei! Gute Zukunftsgeschichten können anscheinend nicht mehr in den großen oder mittleren Filmbudgets zu finden sein. Die Risikobereitschaft der Produzenten ist zu gering, das potenzielle Publikum augenscheinlich zu kinofaul. Deswegen ist es umso schöner, diese farbenprächtige Perle im Animationsbereich zu finden. MARS EXPRESS von Jérémie Périn ist alles, was man sich als Science-Fiction-Fan wünschen kann, außer dass es eben keinerlei Schauspieler gibt. Es ist ein spannender Sci-Fi-Noir voller visionärer Technologien, cooler Charaktere und genau der richtigen Mischung aus Dystopie und Zukunftsweisung. Scheut euch nicht davor, nur weil es sich um Animation handelt. Wegweisende Geschichten wie AKIRA (1988) und GHOST IN THE SHELL (1995) vor 40 Jahren wurden von der Kritik milde belächelt. Sie gehören heute zu den Klassikern des Genres und sind popkulturelles Erbe einer ganzen Generation. Genug der Vorschusslorbeeren, zuerst ein kleiner Vorgeschmack auf die packende Detektivgeschichte in einer möglichen Zukunft.

© Capelight Pictures

Handlung

Die Gesellschaft auf der Erde im Jahr 2200 ist am Siedepunkt. Große Teile der Bevölkerung wollen Androiden und Robotern keinerlei Rechte zugestehen. Jede der künstlichen Intelligenzen hat einen kybernetischen Kodex einprogrammiert bekommen. Dieser verhindert, dass sie Menschen verletzen. Sie sind jedoch dadurch in ihrer Handlung extrem eingeschränkt. Wird dieser Kodex unterbrochen, prasselt die ganze Freiheit, die wir Menschen kennen, auf sie ein. Ihre Produktivität sinkt und der Überlebenswille steigt. Die Sicherheitskräfte jagen solche „defekte“ Roboter, deaktivieren sie und stecken sie in die Recyclingverwertung.

Das Leben auf dem Mars ist ein friedlicheres, eher etwas für die Wohlverdiener. Hier leben und arbeiten die Privatdetektivin Aline Ruby und ihr Partner, der Android Carlos Rivera. Nach der missglückten Festnahme einer Hackerin auf der Erde, sollen sie den Mord an der Studentin in der heimischen Mars-Stadt Noctis untersuchen. Was anfänglich nach zu viel Finanz- und Bildungsdruck auf die Studentin aussieht, entpuppt sich als Spur in die obersten Reihen der wirtschaftlichen Elite des Mars.

© Capelight Pictures

Die nächste Welle

MARS EXPRESS kommt genau zur richtigen Zeit. Wenn OPPENHEIMER (2023) eine Warnung an die kommende KI-Entwicklung ist, ganz nach dem Motto: Geschichte wiederholt sich. Dann ist MARS EXPRESS ein Vorgeschmack auf unser Leben in 200 Jahren. Der Umbruch an technologischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Paradigmen, der uns durch ein exponentielles Wachstum an Rechenleistung bevorsteht, bringt Mustafa Suleyman in seinem sehr lesenswerten Buch „The Coming Wave“ auf den Punkt:

„Noch nie zuvor waren wir Zeuge von Technologien mit einem derartigen Umwälzungspotenzial, die unsere Welt in einer Art umzugestalten versprechen, die sowohl ehrfurchtgebietend als auch beängstigend ist.“

© Capelight Pictures

In MARS EXPRESS ist die Erde ein Ort der Arbeitslosen. Die KI hat den Produktionsprozess gänzlich übernommen, Menschen verlieren ihre Jobs und Lebensgrundlage. In der Serie THE EXPANSE wird die Erde ebenfalls als Ort der Schwäche gezeigt. Die Menschen mit Visionen und die, die für Ressourcen schuften, finden sich im weiteren Sonnensystem. Die Chance auf Unmengen an Rohstoffen und Energiequellen ist auch das finanzielle Versprechen in der derzeitigen Raumfahrt, die fast täglich Raketen in den Orbit schießt. Dem Mond, Asteroiden und dem Mars werden Gesteinsproben nicht nur aus wissenschaftlichem Interesse entnommen, es geht auch um neue Geschäftsmodelle für die exponentiell wachsende Menschheit. MARS EXPRESS hat diese Welt bereits erreicht, in der Unternehmen schon nach der nächsten Technologiewelle suchen. In diesem Fall ist es organische Rechenleistung. Nervenbahnen verfügen über höhere und schnellere Leistungskapazitäten als es Chips jemals können.

© Capelight Pictures

Fokus auf das Wesentliche

Die ganze technische Evolution passiert aber nur am Rande. Was MARS EXPRESS so empathisch macht, ist, dass er nicht zu philosophisch existenziell ist, wie zum Beispiel die MATRIX-Trilogie. Die Geschichte bleibt im Gewand eines Neo-Noirs, eine Detektivgeschichte, jedoch mit ein paar Veränderungen. Hauptfigur ist nicht ein Mann, sondern eine Frau, die jedoch alle bekannten Eigenschaften eines typischen Film-noir-Protagonisten aufweist: Vergangenheit beim Militär oder bei der Polizei, alkoholabhängig, trockener Humor, gutes Informationsnetzwerk und ein Gespür für die richtigen Zusammenhänge. An ihrer Seite ist Carlos, ein Android. Es ist der Körper eines Roboters, in den Carlos‘ Bewusstsein nach dessen Tod im Krieg hochgeladen wurde. Sein Kopf besteht aus einem Hologramm. Durch seine technischen Fähigkeiten gewinnt das Team Zugänge, die als Menschen unerreichbar wären. Carlos ist wie seine Kollegin eine tragische Figur. Er schwebt, dank seines Zustands, zwischen dem Status Mensch und Maschine. Bei interplanetaren Reisen wird er im Frachtraum verstaut. Seine Frau hat ihn wegen häuslicher Gewalt verlassen und die Tochter mitgenommen. Das war bereits vor seinem maschinellen Leben. Jetzt ist es für ihn noch schwerer seine Tochter zu sehen. Aline und Carlos sind Außenseiter dank ihrer Schicksalsschläge und unabhängig durch fehlenden sozialen Kontakt. Für diese Figuren nimmt sich MARS EXPRESS Zeit, ohne zu viel über Dialoge zu erzählen. Ihr Handeln spricht für sich.

© Capelight Pictures

Filmreferenzen

Was aber das Filmherz zusätzlich auf Touren bringt, sind die vielen kleinen Filmreferenzen. Technisch ist vieles im Retrodesign gehalten. Geräte haben Knöpfe und Kabel. Carlos‘ „Hals“ hat ein kleines Rechteck was sich stets bewegt. Optisch sieht es aus wie der Kragen eines Pfarrers, aber es ist wahrscheinlich eine Kamera. Wenn sie sich bewegt, weiß man, etwas Interessantes hat seine Aufmerksamkeit. Das erinnert an Festplatten, die noch mechanisch arbeiten. Die optische Wirkung eines Geistlichen versinnbildlicht sein Verbot Menschen Leid zuzufügen. Doch auch er wird, aus äußeren Gründen, entfesselt werden und wir werden erleben, was er kann. Sein finaler Kampf erinnert an das Finale von GHOST IN THE SHELL (1995) in dem Kusanagi gegen der Spider Tank antritt.

Die Kommilitonin des Opfers verdient ihr Geld in einem Bordell. Sie verkauft aber nicht ihren Körper, sondern ihre synthetische Kopie. Den Sexrobotern wird aber hin und wieder brutal mitgespielt, was an die Serie WESTWORLD erinnert.

© Capelight Pictures

Eine Referenz zu TERMINATOR darf nicht fehlen. Beim Attentat im Sexclub bewegt sich einer der mit Nanorobotern getunten Auftragskiller wie der T-1000 aus TERMINATOR 2: TAG DER ABRECHNUNG (1991).

Interessant ist auch die Art der technischen Kommunikation in dieser Zukunftswelt. Smartphones gibt es nicht mehr, die menschlichen Sinne sind direkt angeschlossen. Daten werden auf die Netzhaut projiziert und Gespräche werden fast telepathisch geführt. Ein Anruf wird mit einer Bewegung des Kopfes entweder angenommen oder abgelehnt. Daten können in Echtzeit ausgetauscht werden. Aber alles passiert in Stille, wenn man keinen Zugang zu dieser Kommunikation hat. Als die Polizisten einen Tatort untersuchen, spricht keiner, ab und zu lachen sie. Dann merkt man, dass man noch nicht in ihrer Untersuchung „eingeladen“ wurde. Erst als Aline einen Zugang bekommt, erhalten auch wir die Informationen. Es gibt eine Szene in der Aline und ihr Partner Carlos miteinander reden, aber auf einem öffentlichen Platz unterwegs sind. Das Ganze wird durch eine Art Fernglas beobachtet. Es erinnert an DER DIALOG (1974). In diesem Thriller mit Gene Hackman ist in der Anfangssequenz wenig optisch zu erkennen, aber die Hauptfigur versucht mit mehreren Mikrofonen einen Zugang zu einer geheimen Unterhaltung zu erhalten.

© Capelight Pictures

Im Finale hat Carlos eine Waffe, die mit ihren Fähigkeiten und Ansicht der verfügbaren Munition sehr stark an die Waffen der Marines aus ALIENS (1986) erinnert.

Die größte filmgeschichtliche Vorlage ist natürlich das Meisterwerk des Science-Fiction-Genres und Wegbereiter des Cyberpunk: BLADE RUNNER (1982). Ein Privatdetektiv bekommt den Auftrag tötende Replikanten zu „deaktivieren“. Dieser, ebenfalls mit Elementen des Film noir angereicherte Krimi, verhandelt die Frage, ab wann Maschinen ein Bewusstsein haben.

© Capelight Pictures

Pflichtkauf fürs Heimkino

Das Mediabook (UHD + BD)

Capelight Pictures veröffentlicht dieses französische Glanzstück der Sci-Fi-Animation für Erwachsenen in Deutschland. Die Synchronisation ist super geworden. Für Filmsammler sei unbedingt das limitierte Mediabook mit Ultra HD Blu-ray und Blu-ray empfohlen. Es hat nicht nur ein stylisches Artwork, sondern auch ein Interview mit dem Regisseur Jérémie Périn. Das Gespräch ist jedoch etwas oberflächlich geworden, wenn man sich vorstellt, über was man hier hätte alles sprechen können. Aber vielleicht wollte sich Périn als Künstler ungern in den kreativen Schaffensprozess hineinschauen lassen. Aus filmhistorischer Sicht als auch aus der Perspektive von zukunftsweisenden Technologien hätte ein weiterer Text diese Edition noch einmal enorm aufgewertet. Aber man darf sich sicher sein, dass MARS EXPRESS seine Fanbase finden wird, die in Videoessays noch einige Interpretationen und Filmreferenzen online stellen werden.

Fazit

Ein ausgezeichnetes Regiedebüt bekommt man hier zu sehen. Die Optik der Animation versteckt nicht ihre europäische Herkunft einer umfangreichen Graphic-Novel-Szene Frankreichs. Zusätzlich gibt es noch jede Menge Filmreferenzen, die Genrefans nostalgisch werden lassen. Das alles ist aber nur der Bonus einer spannenden Krimigeschichte, die in einer gut überlegten Zukunftsvision packend und anspruchsvoll erzählt wird. Man ist jetzt schon ganz ungeduldig auf die nächste Arbeit von Jérémie Périn.

© Christoph Müller

Titel, Cast und CrewMars Express (2023)
Poster
Releaseseit dem 06.06.2024 im Mediabook (UHD + Blu-ray), auf Blu-ray und DVD erhältlich.

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RegieJérémie Périn
Trailer
DrehbuchJérémie Périn
Laurent Sarfati
MusikFred Avril
Philippe Monthaye
SchnittLila Desiles
Lolie Thepenier
Filmlänge89 Minuten
FSKab 16 Jahren

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