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M (1931) – Filmkritik

„Eine Anomalie im System“

Durch die Digitalisierung der Medien sind jede Art von Informationen immer verfügbar. Nachrichten werden im Sekundentakt in die Gesellschaft gesendet und große mediale Ereignisse werden im Liveticker durch die Glasfaserleitungen geschossen. Jeder bekommt Informationen, ob richtig oder falsch, jeder kann auf Dutzende Meinungen zugreifen und sich selbst ein Urteil bilden. Fritz Lang hat Anfang der 1930er-Jahre mit M die Blaupause für den Serienkillerfilm gedreht, aber nicht nur das. Ihm gelang ein zeitloser Blick auf die gesellschaftliche, mediale Aufmerksamkeit und die Frage nach Rechtsprechung wie auch Selbstjustiz. M ist optisch und akustisch etwas angestaubt, aber inhaltlich regt der Film immer noch zum Nachdenken an und er war seiner Zeit weit voraus. Atlas Film hat den Klassiker in der restaurierten und fast ursprünglichen Fassung in einem Mediabook auf Blu-ray und DVD veröffentlicht. Filmgeschichte zum Anfassen, Erleben und immer wieder sehen.

© Deutsche Kinemathek

Handlung

Die ganze Stadt Berlin ist in Aufregung. Ein Kindermörder treibt sein Unwesen. Fahndungsgesuche mit hoher Belohnung kleben an jeder Litfaßsäule. Doch der Mörder (Peter Lorre) schlägt wieder zu und die Bewohner verdächtigen jeden Mann, der mit einem Kind spricht. Die Bevölkerung ist ein Pulverfass. Dem Polizeipräsidium fehlt jedoch jede konkrete Spur und es ordnet immer wieder Razzien in zweifelhaften Bezirken an. Kriminalkommissar Karl Lohmann (Otto Wernicke) buchtet jeden Verdächtigen ein. Das organisierte Verbrechen in Form der verschiedenen Ringvereine trifft sich, um sich die Geschäfte nicht weiter von den strengen Kontrollen der Polizei kaputt machen zu lassen. Sie beschließen, den Kindermörder zu fassen, um endlich wieder Frieden in der Unterwelt zu haben. Das Morddezernat ist auf einer anderen Spur. Hans Beckert, der Mörder mit Persönlichkeitsstörung, hat einen Brief an die Presse geschrieben und hier setzen die Fahnder ihre Indiziensuche an. Die Jagd der Gesetzlosen und der Gesetzeshüter auf einen Serienkiller hat begonnen.

© Deutsche Kinemathek

Erwartungen

Wenn ein Film schon fast 100 Jahre alt ist, schraubt man die eigenen Erwartungen an das Erlebnis, die Spannung oder die Inszenierung nach unten. 1931 mussten die Filmemacher erst noch ihre Stimme im Tonfilm finden. Aber M war seiner Zeit weit voraus. Auch wenn es einige Szenen ganz ohne Ton gibt, wird dies zur Stärke und es entfaltet sich durch die gezeigten Bilder eine ganz eigene beklemmende Stimmung.

Der Beginn ist schon bedrückend wie die grauen, hohen Mauern in der Hauptstadtkulisse. Mutter Beckmann (Ellen Widmann) ist schon mittags von der Schufterei abgekämpft. Dass ihre Tochter gleich zum Mittagstisch kommen wird, heitert sie etwas auf. Aber die kleine Elsie Beckmann wird den Weg von der Schule nach Hause nicht schaffen. Regisseur Fritz Lang zeigt dieses unruhige Warten, indem die Mutter immer wieder vor die Wohnungstür schaut. Die Gewissheit, dass sie verschwunden ist, zeigen dann die leeren Räume, ganz ohne Ton, stumm: ein leerer Dachboden, das leere Treppenhaus und ein menschenleerer Hof. So eine meditative Ruhe in einer Schnittfolge von Gegenständen und Räumen ohne Menschen gibt es heute nur noch selten zu sehen, wenn, dann im japanischen Animationsfilm, dem Anime.

© Deutsche Kinemathek

Diese Bildersequenz wird kurz vor Ende noch einmal angewandt, wenn die Verbrecher die Sparkasse verlassen haben und ihre Zerstörung dokumentiert wird. Hier gibt es aber eine kleine Pointe, wenn die Kamera im Fußbodenloch den Tresorknacker Franz (Friedrich Gnaß) entdeckt, der schlichtweg von seinen Kollegen vergessen wurde. Solch geschicktes Erzählen, meist mit Bildern, statt langen Dialogen, ist es, was die eigenen Erwartungen an solch einen Klassiker übertreffen und man mühelos in die Geschichte hineingezogen wird.

Seiner Zeit voraus

Fritz Lang war ein herausragender Künstler (METROPOLIS, HEISSES EISEN), der im Medium Film, was noch in den Kinderschuhen steckte, bereits enorme Möglichkeiten zum Erzählen sah. Ein Beispiel hierfür in M: Das organisierte Verbrechen trifft sich und berät, wie man mit der aktuellen Situation umzugehen hat. Nach einer Weile schneidet der Film zur Besprechung ins Rathaus, wo die wichtigsten Vertreter der Stadt beratschlagen, wie man den Mörder fasst und mit der medialen Aufmerksamkeit umgehen will. Die Köpfe rauchen auf beiden Seiten, natürlich auch die Zigarren und Zigaretten. Beide beschließen unterschiedliche Wege zu gehen und beide sind auf ihre Art und Weise erfolgreich. Die Schnittmontage dieser Konferenzen, die sogar thematische Brücken zwischen beiden Seiten des Gesetzes schlägt, verbindet die Akteure. Ein erster Hinweis darauf, dass der Zuschauer zum Ende keine feste Meinung mit auf den Weg bekommt. M stellt nur Argumente und Informationen bereit.

© Deutsche Kinemathek

Die Guten und die Bösen

Was bei genauer Betrachtung auf M sichtbar wird, ist dass die Verbrecher ein bisschen besser als die Gesetzeshüter wegkommen. Kriminalkommissar Lohmann, der zwei Jahre später in DAS TESTAMENT DES DR. MABUSE (1933) seine Arbeit wieder aufnehmen wird, ist in M behäbig, träge und ein bisschen hinterher. Wohingegen die Verbrecherbande mit ihrem charismatischen Anführer Schränker (Gustaf Gründgens) menschlicher erscheinen. Lohmann ist verschwitzt, übergewichtig und arrogant, der langsame Arm des Gesetzes. Es gibt zum Beispiel eine Einstellung in der Lohmann auf seinem Schreibtischstuhl von unten gefilmt wird. Dieser Körper würde es wohl keine 100 Meter weit schaffen einem Verbrecher hinterherzulaufen. Nicht nur die Anführer des Verbrecherrings sind sympathisch, sondern auch deren Helfer. Wenn sie alle Obdachlosen von Berlin aktivieren, um an jeder Ecke Schmiere zu stehen und Verdächtige zu melden, merkt man, dass JOHN WICK (2014) nicht der erste mit dieser Idee war. Auch die Profieinbrecher in der Sparkasse werden mit einer gewissen Profession und Achtung dargestellt: schnell, effektiv und gut organisiert. Selbst das neuste Alarmsystem kennen sie. So schnappen tatsächlich am Ende die Gesetzlosen den Kindermörder, um endlich wieder ihre Ruhe zu haben.

© Deutsche Kinemathek

Die Verbrecher machen Beckert sogar den Prozess und Fritz Lang stellt die Frage, wer darf Recht sprechen und wer nicht. Auch wenn die Gerichtsverhandlung, mit einem Blinden als Kronzeuge, für heutige Sehgewohnheiten etwas theatralisch und langatmig wirkt, steckt viel Gesellschaftspolitisches drin. Darf ein geistig kranker Mensch für seine Taten vollumfänglich schuldig gesprochen werden? Hat auch er das Recht auf einen Verteidiger? Das Ganze wird erzählt ohne Partei für eine Seite zu ergreifen und jede erhält genug Raum sich zu erklären. Es ist nicht leicht über diese Anomalie der Gesellschaft zu richten. Sicherlich ist der geisteskranke Hans Beckert am Ende dem Mob unterlegen, aber die Polizei „rettet“ ihn. 1931 gab es in Deutschland noch die Todesstrafe auf Mord, Spionage und Landesverrat. Ob Hans Beckert sich auf seine Geisteskrankheit berufen konnte, das erzählt uns M nicht mehr und jeder kann es für sich selbst entscheiden. Das offene Ende ist vielmehr eine Art Erlösung gerade kein Urteil sprechen zu müssen, es denjenigen zu überlassen, die dazu befugt sind.

© Deutsche Kinemathek

Mediabook

Das Mediabook Cover

Atlas Film hat in Zusammenarbeit mit der Deutschen Kinemathek schon einige Schwergewichte der deutschen Filmgeschichte für Zuhause aufbereitet (DIE BÜCHSE DER PANDORA, MENSCHEN AM SONNTAG). In der auf 2.000 Stück limitierten Mediabook-Edition ist es gelungen, die längste Version der Fassung (112 min), die bei der Premiere im Ufa-Palast am Zoo gezeigt wurde, aufzubereiten. Näheres hierzu findet man im umfangreichen Booklet, neben Produktionsfotos und mehreren Filmkritiken zu M von 1931. Besonders die Zeitungsartikel zeigen, dass der Film nicht so euphorisch aufgenommen wurde, wie man denkt. Bild und Ton sind sehr sorgfältig restauriert worden und die Übergänge bei unterschiedlichen Ursprungsmaterialien sind kaum zu erkennen. Der Film liegt auf Blu-ray und DVD vor und bei den Extras gibt es nur einen Menüpunkt, der sich jedoch lohnt. In sieben Minuten gibt es einen Streifzug durch Fotografien zur Produktion von M wie Regieanweisungen, Studioaufbauten und Requisiten. Eine würdige Aufmachung dieses Meisterwerks.

Fazit

Jeder, der sich als ernsthafter Cineast bezeichnen möchte, kommt an M nicht vorbei. Neben der zeitlosen Inszenierung von Fritz Lang hebt sich vor allem das effiziente und spannende Drehbuch von Thea von Harbou hervor. M machte den Umbruch vom Stumm- zum Tonfilm zu seiner Tugend und erzählt mit Bildern anstatt Worten. Der Film ist mit einem Alter von über 90 Jahren immer noch ein Kunstwerk, das nicht langweilig wird.

© Christoph Müller

Titel, Cast und CrewM (1931)
Poster
RegisseurFritz Lang
Releaseab dem 30.10.2020 Mediabook (Blu-ray + DVD)

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Trailer
BesetzungPeter Lorre (Hans Beckert)
Inge Landgut: Elsie Beckmann (Opfer)
Ellen Widmann (Mutter Beckmann)
Gustaf Gründgens (Schränker)
Friedrich Gnaß (Franz, der Einbrecher)
Fritz Odemar (Falschspieler)
Paul Kemp (Taschendieb)
Theo Lingen (Bauernfänger)
Otto Wernicke (Kriminalkommissar Karl Lohmann)
Theodor Loos (Kriminalkommissar Groeber)
Ernst Stahl-Nachbaur (Polizeipräsident)
Franz Stein (Minister)
DrehbuchThea von Harbou
Fritz Lang
FilmmusikSteven Price
KameraFritz Arno Wagner
SchnittPaul Falkenberg
Filmlänge112 Minuten
FSKab 12 Jahren

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