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Limbo (2021) – Filmkritik

Über 80 Jahre nach der Einführung des Farbfilms einen Schwarzweißfilm zu drehen, muss einen Grund haben. Meist ist es ein ästhetischer, ein Alleinstellungsmerkmal. Durch die monochrome Optik fällt man garantiert in der bunten Welt der Filme auf. LIMBO ist eine kantonesischer Schwarzweiß-Thriller. In diesem Zuge gleich von einem Film noir (bzw. Neo Film noir) zu sprechen, ist zu oberflächlich gedacht. Film noir kann man als Genre oder Stilrichtung begreifen, sie war aber vor allem eine Bewegung (movement)[1]. LIMBO fehlt als Hard-boilded-Thriller dieser tendenzielle Unterbau, es bleibt eine visuelle Entscheidung. Zu Beginn gehen die pechschwarzen, filigranen Bilder mit enormer Tiefenschärfe noch gut ins Auge. Die Grenzen zum zweidimensionalen Filmcomic SIN CITY werden berührt. Der Handlungsgort, die Gassen voller Müll einer Metropole, werden visuell riechbar. Doch spätestens, wenn man sich optisch eingerenkt hat, sollte die Story Fahrt aufnehmen, doch gerade hier liegen einige Stolpersteine für einen durchweg spannenden Filmabend im Weg.

© Capelight Pictures

Handlung

Ein Serienkiller treibt sein Unwesen in Hongkongs Slumvierteln. Grob abhackte Frauenhände werden gefunden, vom Rest der Opfer fehlt erst einmal jede Spur. Der erfahrene, wortkarge Ermittler Cham Lau (Lam Ka Tung) folgt an den Tatorten seinem Bauchgefühl und seiner Nase. Sein Partner bei diesem Fall ist Will Ren (Mason Lee), dem das grobe Vorgehen seines Kollegen unangenehm ist, aber die eigenen Zahnschmerzen auch noch mächtig nerven. Beide erzwingen sich die Hilfe von der kriminellen Wong To (Liu Cya), die für den Unfall an Chams Familie Wiedergutmachung leisten will. Die Spur führt zu den Armen, Süchtigen und Heimatlosen der Stadt. Sie werden kaum beachtet in ihrem Treiben und bietet die perfekte Tarnung für einen geisteskranken Killer.

© Capelight Pictures

Stil vor Geschichte

LIMBO basiert auf dem Roman „Wisdom Tooth“ von Lei Mi. Regisseur Soi Chaeng erklärte in einem Interview, dass er die Handlung nicht verändert hat, jedoch die Gewichtung verschoben, die eigentliche Hauptfigur ist Will Ren. Im Nachhinein wird das deutlich, da Will mehr oder weniger „mitgeschliffen“ wird. Die Hauptdynamik spielt sich zwischen Cham Lau und Wong To ab. Zu Beginn gibt es den beliebten, aber nicht funktionalen Zeitsprung. Auch hier macht er wenig Sinn, sondern entfernt sogar noch die Spannung im Finale, da man weiß, wer überleben und wer sterben wird. Originell ist vor allem das Setting in den dreckigen Straßen, unter den Bahnbrücken und in den löchrigen Behausungen. Das dortige Leben hat seine eigenen Regeln und der Serienkiller kann darin ungehindert sein Unwesen treiben. Immer wieder gibt es kleine Szenen zu sehen, was den geheimnisvollen Täter antreibt. Etwas zu früh wird die Maskerade fallengelassen und Wong To als Geisel genommen. Eine verlorene Polizeiwaffe – das haben wir in PTU (2003) besser gesehen – lenkt zusätzlich von der Suche nach dem Serienkiller ab. Beim Antagonisten werden zu sehr Klischee genutzt und die Inspiration aus den MANIAC-Filmen ist nicht zu leugnen. Enorme Kräfte kommen bei ihm im finalen Kampf zum Vorschein, was die Distanz zu Obdachlosen noch mehr unterstreicht. Sicher mögen es harte, zähe Überlebenskünstler sein, aber Fitness treiben sie in ihrer Freizeit wahrlich nicht. Der Mutterkomplex wir angedeutet und im Finale bleibt von ihm nur noch ein Monster, was bekämpft werden muss.

© Capelight Pictures
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Das Schwarzweiß ist eine Pracht und macht die Stadt, in der LIMBO spielt, erstaunlich universell. Zukunft oder Vergangenheit? Selbst kulturell ist sie schwer zu definieren. Zudem verschwimmen die Figuren in den Hintergründen. Körper werden zu Müll, Menschen verschmelzen mit den Texturen. Eine giftige Quecksilber-Landschaft offenbart sich. Den Nahaufnahmen und Portraits fehlt aber das Quäntchen Feingefühl für das monochrome Bild. Deswegen überrascht es nicht, wenn der Regisseur im Interview – welches im UHD-Mediabook abgedruckt ist – erklärt, dass die Entscheidung zum Schwarzweißbild erst am Drehende aufkam. LIMBO wurde ursprünglich in Farbe gedreht und nachträglich angepasst. Das entfernt alles umso mehr von der Realität, bringt das Chaos aber näher in den Fokus. Interessant wäre dennoch ein Einblick in die Farbversion.

© Capelight Pictures

Die Gewalt

Gewalt ist in LIMBO das Mittel, um das Publikum an sich zu reißen. Alles läuft nach dem Motto: Der Zweck heiligt die Mittel. Der Täter sucht nach Befriedung seiner Triebe und seinem Kindheitstraumata. Die Polizei nutzt die Gewalt, um möglichst schnell den Killer zu fassen. Polizeiarbeit nach Vorschrift gibt es nicht. Cham Lau wird in seiner harten, gesetzlosen Vorgehensweise kaum aufgehalten, zum Leid der Protagonistin. Stärke ist durchaus bei Wong To zu erkennen, da sie ihr Leben für eine Wiedergutmachung auf Spiel setzt. Jedoch ist die Passivität, die einem als Zuschauerin oder Zuschauer aufgezwungen wird, eine Barriere fürs Mitfühlen, da sie durchweg bedroht, verprügelt, verletzt und vergewaltig wird. Bei zu viel dargestellter Gewalt schottet man sich einfach ab. Am Ende wird man den Gedanken nicht los, in seinen Grundzügen, nur eine standardisierte Handlung eines typischen Ab-18-Horrorfilms gesehen zu haben, in dem die weibliche, halbnackt Hauptfigur bis zum Ende leiden muss, um dann ein paar Messerstiche als Befreiung auszuteilen. Das bringt die Gewalt in LIMBO auf ein hohes Level, jedoch fehlt es ihr an Berechtigung für die Entwicklung der Charaktere.

© Capelight Pictures

Fazit

LIMBO ist gute Genre-Kost, die, dank ihres monochromen Angesichts, frischen Wind in den Output der letzten Jahre bringt. Jedoch fehlt es an spannenden Charakterentwicklungen und einer aktiveren Protagonistin, um am Ende einen lebendigen Film gesehen zu haben bzw. überhaupt sehen zu wollen.

© Christoph Müller

Quellen:

[1] Steinbauer-Grötsch, Barbara; „Die lange Nacht der Schatten – Film noir und Filmexil“, Bretz + Fischer 2005

 

Titel, Cast und CrewLimbo (2021)
OT: Zhì chi
Poster
Releaseseit dem 30.06.2023 im Mediabook (Ultra HD Blu-ray + Blu-ray) erhältlich.

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RegieSoi Cheang
Trailer
BesetzungLam Ka-Tung (Cham Lau)
Liu Cya (Wong To)
Younus Howlader (Zhi Chi)
Mason Lee (Will Ren)
Hiroyuki Ikeuchi (Akira Yamada)
DrehbuchKin-Yee Au
Kwan-Sin Shum
KameraSiu-Keung Cheng
MusikKenji Kawai
SchnittDavid M. Richardson
Filmlänge118 Minuten
FSKab 18 Jahren

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