„Die Lücken der Erinnerung“
Der Urlaub ist für viele die schönste Zeit des Jahres. Für manche geht es sogar in weit entfernte Länder und luxuriöse Hotels. Aber die Erinnerungen verblassen über die Jahre nach dieser Erfahrung und es versteinern nur ein paar bestimmte Momente und Gefühle im Langzeitgedächtnis. Ob die ganzen Erinnerungen dann wirklich so geschehen sind, sei dahingestellt, aber was interessant ist, man beginnt beim Zurückbesinnen nie am Anfang oder am Ende des Urlaubs. Es bleiben nicht chronologische Fragmente in unserem Kopf. Diesen Aspekt nimmt sich der Film LETZES JAHR IN MARIENBAD als gestalterisches Grundmittel zu Hilfe, denn hier gibt es weder viele Ereignisse, welche die Charaktere in Dynamik versetzt, noch einen fulminanten Showdown, in dem alle offenen Fragen geklärt werden. Der Schwarzweiß-Film aus dem Jahr 1961 gehört definitiv zur künstlerisch anspruchsvollen, aber auch sperrigen Sorte der Filmgeschichte.
Inhalt
Der Blick schwebt durch die Gänge eines barocken Luxushotels. Man hört die literarischen Beschreibungen eines Mannes über die Bauweise und wie es sich anfühlt in so einem Hotel zu leben. Seine Gedanken gleiten langsam zu einer Frau hinüber, während die Kamera die leeren Räume verlässt und wir nun die Hotelgäste sehen können, wie sie einer Theateraufführung beiwohnen. Wem die Stimme aus dem Hintergrund gehört, ist immer noch nicht klar.
Die Abend-Aufführung ist vorbei und es werden bestimmte Pärchen im Film eingeführt, in dem sie kurz während ihrer Handlung innehalten. Sind das etwa die Hauptfiguren? Vielleicht geschieht ein Mord und das sind die Verdächtigen? Aber dies sind nicht die einzigen Fragen, die einen während dieses Films beschäftigen. Irgendwann nach einer Vielzahl von Zeitsprüngen und Wiederholungen mit anderen Personen setzt die Erkenntnis bei uns Zuschauer ein, dass sich LETZTES JAHR IN MARIENBAD nicht an die üblichen Film-Konventionen hält.
Mehr Kunstwerk als Unterhaltung
Dieser Avantgardefilm des französischen Regisseurs Alain Resnais ist der Versuch, einen sogenannten Noveau Roman zu verfilmen bzw. dessen Stilmittel. Hier gibt es keine Buchvorlage, sondern das Drehbuch stammt aus der Feder von Alain Robbe-Grillet, der – neben Nathalie Sarraute und Michel Butos – zu den Vertretern dieses Literaturstils gehört. Der, aus dem Französischen übersetzt, „neue Roman“ wollte die üblichen Erzählkonventionen eines Romans weiterführen. Es geht nicht um das Erfinden von Figuren, Welten und Geschichten, sondern man wollte dem Wort Dauer verleihen. Dies klingt jetzt sicher etwas nach verschrobener Literaturgeschichte und philosophischer Fachsimpelei.
Anders gesagt: Stellt euch vor, dieser ganze Prozess, eine fiktive Welt mit all ihren Details und dem Umfeld der Geschichte würden fehlen. Es geht nur um die Worte und deren erzeugte Stimmung.
Man muss sagen, dass es Alain Resnais ausgezeichnet gelungen ist jene Stilrichtung in einen Film zu übernehmen. LETZTES JAHR IN MARIENBAD ist kaum unterhaltend, schafft keinerlei Identifizierung mit den Rollen und erzeugt im Film keine fiktive Welt. Man lauscht den Gedanken der Hauptfigur Mann X (Giogio Albertazzi) und wird von einer Momentaufnahme zur nächsten gereicht. Dies hört sich sicherlich nicht gerade nach Stoff für einen lockeren Filmabend an, es lohnt sich aber dennoch einen Blick zu riskieren. Zum Glück ist auch jeder Kunstinteressierte schon einmal bis zu diesen Zeilen gekommen, denn das ist ein Vorteil der Online-Filmkritik: Es wird nur auf den Beitrag geklickt, wenn bereits Interesse besteht.
Ein Augenschmaus
Warum soll man sich nun diese wirren 94 Minuten anschauen, die nur einen äußerst dünnen roten Faden in der Handlung aufweisen, welcher stark an die Fantasie des Zuschauers geknüpft ist? Vor allem erst einmal der Bilder des Kameramann Sacha Vierny wegen. Die ruhigen Kamerafahrten neben den seelenlosen Abendbeschäftigungen der Gäste, die kontrastreichen Aufnahmen der opulenten Inneneinrichtung und die Vielzahl von Requisiten sind ein wahren Genuss für die Augen.
Besonders die von Coco Chanel entworfen Kleider der Frauen und unserer weiblichen Hauptrolle A (Delphine Seyrig) zeigen die schönen Seiten dieses Kunstjahrzehnts der 60er-Jahre mit ihren Juwelen und Perlen als funkelndes Extra. Nicht nur das Gebäude ist interessant, sondern auch die Parkanlage in der sich X und A treffen. Es ist ein Park, der jeglichen freien Willen der Natur unterdrückt und der mit seinen geraden Kieswegen und dem akuraten symmetrischen Aufbau in gewisser Weise auch den Filmstil verdeutlicht.
Durch die nicht flüssige Erzählweise wird die Konzentration des Zuschauers stark gefordert. Man versucht Zusammenhänge zu erraten, sich eine Hintergrundgeschichte zu den Figuren zu überlegen oder herauszufinden, ob es doch nur eine Eifersuchtsgeschichte um eine Dreiecks-Beziehung darstellt. Die Filmerfahrung verdeutlicht sich am Besten in dem Spiel, welches auch die Hotelgäste spielen, eine Art des Nim- bzw. Misère-Spiels, welches auch Marienbad genannt wird. Die Regeln werden im Film ziemlich salopp erklärt und man fragt sich, ob es überhaupt ein sinnvolles Spiel ist. Nach einer Recherche auf Wikipedia zeigt sich doch eine recht anspruchsvolle Strategie hinter dem Spiel, bei der auch mathematische Schemata Verwendung finden. LETZTES JAHR IN MARIENBAD ist genauso, man schaut den Film und fragt sich was das Ganze eigentlich soll, aber mit etwas Recherche danach, ergeben bestimmte Aspekte Sinn. Hier hilft aber auch die neu erschienene Special-Edition von ARTHAUS weiter.
Blu-ray und Restauration
Der über 50 Jahre alte LETZTES JAHR IN MARIENBAD wurde aufwändig restauriert. Wer sich ein paar Vergleichsbeispiele anschauen möchte, kann es auf dieser interaktiven Seite tun. Die Blu-ray in der Special-Edition ist umfangreich und hochwertig produziert. Das Bild ist dank der Restauration schön kontrastreich geworden. Der deutsche Ton in Stereo ist in Ordnung, kann aber durch die hohe Dynamik in der Lautstärke manchmal etwas anstrengend sein. Wenn die Orgel von Francis Seyrig immer wieder überraschend lautstark einsetzt, wird es etwas anstrengend. Das Bonusmaterial ist mit fast drei Stunden sehr umfangreich:
- „Der Wanderer der Phantasie“ – Rückblick auf die Arbeiten beim Dreh (29:44 min)
- Kurzfilm DAS LIED VOM STYROL (1958) (13:07 min)
- Kurzfilm ALLES GEDÄCHNIS DER WELT (1956) (21:02 min)
- Eine Einführung der Professorin für Filmgeschichte Ginette Vincendeau (18:38 min)
- „Im Labyrinth von Marienbad“ Berichte zu Filmgestaltung (33:26 min)
- Portrait über Alain Robbe-Grillet (48:31 min)
Die kompletten Extras sind im französischen Original mit deutschen Untertiteln. Die Blu-ray im Schuber verfügt über ein Booklet.
Fazit
LETZES JAHR IN MARIENBAD bleibt ein Film für Filmliebhaber der anspruchsvollen Künste. Aber es geht ja auch nicht jeder Liebhaber für Malerei in eine Mark Rothko-Ausstellung. Die Veröffentlichung von ARTHAUS ist auf jeden Fall perfekt gelungen und lässt durch das umfangreiche Bonusmaterial Interessierte an Nouveau Roman und dessen Filmausprägung nicht im Stich. Diese Aufbereitung wünscht man sich auch bei einer Vielzahl von Werken des Film Noir.
Chefredakteur
Kann bei ZURÜCK IN DIE ZUKUNFT mitsprechen / Liebt das Kino, aber nicht die Gäste / Hat seinen moralischen Kompass von Jean-Luc Picard erhalten / Soundtracks auf Vinyl-Sammler / Stellt sich gern die Regale mit Filmen voll und rahmt nur noch seine Filmposter