„Selbstbestimmung mit allen Mitteln“
Seit geraumer Zeit rücken weibliche Hauptrollen immer mehr in den Vordergrund. Sie zeichnen sich durch ihre Stärke, ihren Willen und auch durch ihren Kampf um Unabhängigkeit aus. STAR WARS: ROGUE ONE (2016) bekommt mit Felicity Jones eine starke Rebellenkämpferin, in GHOSTBUSTERS (2016) gehen Frauen souverän auf Geisterjagd und Gal Gadot zeigt als WONDER WOMAN (2017), dass es durchaus eine emanzipierte Superheldin mit hohem Unterhaltungswert geben kann. Die Filmschaffenden mit anspruchsvolleren Ambitionen setzen sich schon länger mit der „Befreiung“ des schönen Geschlechts auseinander. LADY MACBETH (2016) ist ein kraftvoller Titel, der auf Shakespeares gnadenlose Königin mit Geisteskrankheit hindeutet, aber tatsächlich viel einfacher und zielsicherer auf seine Augenzeugen wirkt und dadurch eindrucksvoller im Gedächtnis verbleibt.
Die Geschichte beruht in groben Zügen auf dem Roman „Lady Macbeth von Mzensk“ von Nokolai Semjonowitsch Leskow, spielt jedoch nicht in Russland, sondern in den kühlen viktorianischen Landschaften Englands im 19. Jahrhundert. Katherine (Florence Pugh) ist als junge Frau mit einem viel älteren Kaufmann verheiratet worden. Auf dem Anwesen langweilt sie sich jedoch schnell und ihr Ehemann hegt kein großes Interesse an der Zeugung einer Nachkommenschaft. Als ihr Mann auf einer seiner langwierigen Geschäftsreisen ist, begegnet sie dem einfachen Stallburschen Sebastian (Cosmo Jarvis). Beide verlieben sich heißblütig ineinander, was nicht unbemerkt bleibt. Für Katherines neue Liebe geht sie jedoch weiter, als es sich für eine Kaufmannsfrau gehört und zerstört jede Art von Hindernissen auf ihrem Weg.
Es kann nicht von einem richtigem Drama gesprochen werden, weil Katherine nur zu Beginn unter ihrem eingesperrten Dasein leidet, sich jedoch für ihre bedingungslose Liebe zu Sebastian schnell und geradlinig jeglicher Hürden entledigt. Es kann eher von einem altenglischen Krimi aus Perspektive der Gesetzesbrecherin die Rede sein. Florence Pugh spielt die Titelrolle bemerkenswert zwischen animalischer Kaltblütigkeit und pubertierender Göre, dennoch mit viel weiblicher Eleganz. Auch dann, wenn sie auf dem Sofa in ihrem Kleid zusammengeschnürt auf die Rückkehr ihres Mannes wartet und immer wieder droht einzuschlafen. Das ist auch der Arbeit des Kameramanns Ari Wegner zu verdanken, der gekonnt die Figuren ins Bild setzt, meist optisch gefangen in ihren Zwängen oder ihrem Status.
Das Anwesen, als Handlungsort, mit seinen knarrenden Dielen, zugigen Räumen, den ständigen Blicken der Angestellten und der kargen Ausstattung lässt auch in uns den klaustrophobischen Wunsch aufkommen, in die schöne, aber raue Natur hinauszuwollen. Eine junge und wilde Frau kann man nicht einsperren, sonst wird sie irgendwann ihre Herren beißen oder Schlimmeres. Die Geschichte entwickelt sich in einem ruhigen, aber effektiven Erzähltempo über viele unerwartete Wendungen zum Totalausfall des Gewissens von Sebastian. Cosmo Jarvis spielt diesen einfachen Arbeiter frech, dumm und in einer in seinen sexuellen Bedürfnissen gefesselten Art, dass man zwischenzeitlich vergisst, dass es nur Schauspiel ist. Ab der Hälfte geht der Film neue Wege gegenüber seiner Romanvorlage, bleibt aber spannend und lässt trotzdem Platz für Interpretationen. Das minimal erzählte Finale von LADY MACBETH kommt überraschend und bleibt durch seine stichhaltige Aussage im Kopf der Zuschauer hängen. Diese Lady Macbeth will sich nicht in den Tod stürzen, sondern alles tun, um zu überleben und niemals ihre Freiheit wieder hergeben zu müssen.
Interessanterweise hat der Film LADY MACBETH ein ähnliches Schicksal wie „Professor Marston und Wonder Woman“ erlitten. Beide Filme sind wegen der „sexuellen Handlungen“, die liebevoll inszeniert sind, in den USA erst ab 17 Jahren freigegeben. Hier in Deutschland sind sie ab 12 Jahren von der FSK genehmigt.
Chefredakteur
Kann bei ZURÜCK IN DIE ZUKUNFT mitsprechen / Liebt das Kino, aber nicht die Gäste / Hat seinen moralischen Kompass von Jean-Luc Picard erhalten / Soundtracks auf Vinyl-Sammler / Stellt sich gern die Regale mit Filmen voll und rahmt nur noch seine Filmposter