Zum Inhalt springen

La Chimera (2023) – Filmkritik

In einer unbestimmten Zeit, der Vergangenheit nicht unähnlich, ist der schroffe englische Grabräuber Arthur (Josh O’Connor) in Norditalien auf der steten Suche nach alten etruskischen Kostbarkeiten. Wie seine einheimischen Kompagnons, die er nicht so recht leiden kann, führt er seine illegalen Geschäfte eher hobbymäßig, um nicht zu sagen dilettantisch. Anders als diese treibt ihn dabei aber nicht das schnelle Geld an, sondern eine Art Besessenheit. Geradezu traumwandlerisch findet er die vergessenen Gräber und Tempel, aber eigentlich sucht er eine Verbindung zu seiner verschollenen Frau.

Alice Rohrwacher schließt mit LA CHIMERA nach LAND DER WUNDER und GLÜCKLICH WIE LAZZARO ihre Trilogie über die Vergangenheit ab. Sie bleibt dabei ihrer Liebe zum sogenannten Magischen Realismus treu, bei dem nicht ganz realistisch gezeichnete Protagonisten in einer nicht ganz realistisch dargestellten, aber heutigen Umgebung mit durchaus realistischen Problemen zu kämpfen haben und diese mit poetischen Mitteln lösen, in bewusster Abkehr von simplem Materialismus und Ursache-Wirkung-Logik. (In gewisser Weise hat Wim Wenders schon solche Filme gedreht, bevor es die Bezeichnung Magischer Realismus überhaupt gab.)

© Piffl Medien

Rohrwacher ist eine Meisterin dieser Gattung und bleibt auch qualitativ auf dem Niveau der beiden vorherigen Filme. Wem diese gefallen haben, kann man LA CHIMERA uneingeschränkt empfehlen. Und wer noch nichts von ihr gesehen hat, dürfte den Gang ins Kino auch nicht bereuen. Es gibt einige sehr gute Szenen, etwa gleich zur Eröffnung: Der geheimnisvolle Fremde wird zunächst im Zug von ein paar jungen Frauen angeflirtet, doch dann kippt plötzlich die Stimmung, er wird gewalttätig, und alle starren ihn an. Ein vorher gemachter Witz, dass er wohl gerade aus dem Gefängnis kommt, erweist sich als wahr. Später spricht jemand kurz direkt in die Kamera zum Zuschauer, aber nur ein einziges Mal.

© Piffl Medien

Der Film ist auch eine Art Liebeserklärung der Regisseurin an ihre toskanische Heimat und ihre Kindheit. Wie sie im Interview sagt: Wenn man nur ein wenig im Boden gräbt, stößt man sofort auf Überbleibsel früherer Zeiten, aber ein Fremder muss den Italienern ihre Geheimnisse zeigen. Unzählige Kulturschätze Italiens sind in den vergangenen Jahrzehnten, Jahrhunderten durch Grabräuberei verloren gegangen. Die Funde werden verstreut und oftmals absichtlich zerstört, um aus den einzelnen Teilen mehr Profit zu schlagen. Wie bei Fellinis ROMA sieht man auch hier die alten Bilder verblassen, sobald frische Luft an sie gelangt, sie werden sozusagen von der Zeit eingeholt. Auch die Gesichter erinnern ein wenig an Fellini. In der Toskana und in Latium, wo der Film größtenteils gedreht wurde, gibt es immer noch Menschen, deren Profil den alten etruskischen Portraits gleicht.

© Piffl Medien

Isabella Rosselini spielt die resolute alte Gesangslehrerin Flora. Sie wohnt in einem aufgegebenen Bahnhofsgebäude, im dem die völlig unbegabte Schülerin heimlich ihre Kinder einquartiert hat. Umgekehrt muss sich Flora der aufdringlichen Schar der eigenen erwachsenen Töchter erwehren. Auch hier finden sich immer wieder schöne Szenen, die ihre Geheimnisse erst nach und nach offenbaren. Eine Tochter ist nicht mehr da, Arthurs Frau. Der verfallende Bahnhof und mehr noch Arthurs Bruchbude wirken selbst wie Relikte aus der Vergangenheit. Immer wieder bricht die brutale Realität durch das Märchenhafte, aber Rohrwacher findet jedes Mal zurück zur Utopie.

Die Regisseurin will das Unsichtbare sichtbar machen, wie sie sagt, aber die Gräber sind nicht für die Augen von Menschen bestimmt. Arthur stellt buchstäblich die Welt auf den Kopf, um sie zu finden. Seine eigene Liebesgeschichte lässt er darüber versanden. Er entzieht sich allen Menschen, auch der neuen Frau, weil er immer noch die Verschwundene liebt. Wie ein Geist bleibt sie präsent. Am Ende finden endlich Vergangenheit und Gegenwart, Traum und Realität zusammen, im Tod.

© Franz Indra

Titel, Cast und CrewLa Chimera (2023)
Poster
ReleaseKinostart: 11.04.2024
RegieAlice Rohrwacher
Trailer
BesetzungJosh O’Connor (Arthur)
Isabella Rossellini (Flora)
Carol Duarte (Italia)
Vincenzo Nemolato (Pirro)
DrehbuchAlice Rohrwacher
Carmela Covino
Marco Pettenello
KameraHélène Louvart
SchnittNelly Quettier
Filmlänge130 Minuten
FSKungeprüft

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert